Russland verfolgt mit seinen nuklearen Drohgebärden im Krieg gegen die Ukraine eine dreigleisige Strategie. Erstens versucht es eine westliche Intervention abzuschrecken, zweitens Unterstützung für die Ukraine zu verhindern und drittens schrittweise Kyjiw zu erpressen, worauf der Westen bislang mit eigenen Abschreckungssignalen reagiert hat. Moskaus scheinbar vorsichtiges Vorgehen legt nahe, dass ein Kernwaffeneinsatz aufgrund von Kosten-Nutzen-Kalkülen unwahrscheinlich bleibt. Dennoch lässt sich ein solches Szenario nicht ausschließen, insbesondere dann nicht, wenn sich aus dem Krieg eine ernsthafte Bedrohung für Putins Regime ergeben sollte.
Sieben Monate nach Beginn der großangelegten russischen Invasion der Ukraine hat es für viele den Anschein, als drohe der Kreml sehr häufig und rücksichtslos mit dem Einsatz von Atomwaffen. Angesichts Moskaus rabiater Kriegführung und diffuser nuklearer Signale ist diese Wahrnehmung verständlich – und dennoch falsch. Eine eingehende SWP-Analyse der Chronologie nuklearbezogener Interaktionen im Verlauf des Krieges lässt darauf schließen, dass Russlands Drohungen mit Blick auf drei Ziele fein austariert sind: eine ausländische Militärintervention abzuschrecken, internationale Unterstützung für die Ukraine zu unterbinden und Kyjiw zu erpressen.
Russlands Abschreckungserfolg
Seit Februar hat der Kreml wiederholt erklärt, dass ein Zusammenstoß zwischen Nato- und russischen Streitkräften in einen Atomkrieg münden könne. Tatsächlich zielte Russlands Nuklearrhetorik vor allem darauf ab, westliche demokratische Regierungen und deren Wählerschaft davon abzuhalten, einen direkten militärischen Eingriff in der Ukraine in Erwägung zu ziehen. Nukleare Drohungen sollten folglich eine rote Linie markieren, die der Westen dann auch weder überschritt noch in Frage stellte. Am Tag der Invasion, dem 24. Februar, legte Präsident Wladimir Putin den Grundstein für diese Strategie: Wer sich von außen einmische, müsse mit »nie dagewesenen Konsequenzen« rechnen. In den folgenden Monaten wurde diese Position von russischen Vertretern wiederholt bekräftigt, darunter jeweils zweimal von Putin und von Außenminister Sergej Lawrow.
Dieses begrenzte Ziel hat Russland augenscheinlich erreicht. Die Eliten im Westen lehnten mehrheitlich ein direktes militärisches Eingreifen in der Ukraine ab, wenn auch nicht abschließend feststellbar ist, ob dies aufgrund von Moskaus nuklearer Rhetorik oder seinem Atomarsenal geschah oder unabhängig davon. Westliche Politikerinnen und Politiker schlossen im Sinne von Russlands roter Linie eine direkte militärische Konfrontation kategorisch aus. Wenige Stunden nach Putins Drohung erklärte US-Präsident Joe Biden, US-Streitkräfte würden »nicht in den Konflikt mit Russland in der Ukraine eingreifen«; und im ersten Monat des Krieges bestätigten westliche Repräsentanten diese Position beinahe jeden zweiten Tag. Wie Moskau begründete der Westen seine Haltung wiederholt mit den Eskalationsrisiken einer direkten Konfrontation. Die zugrundeliegende Risikobewertung könnte sich laut westlichen Beamten nur infolge eines russischen Nukleareinsatzes ändern: Erst in einem Szenario, in dem Moskau seine Abschreckungsdrohung wahrgemacht hätte, wäre eine westliche Intervention möglich. Nicht einmal ein russischer Chemiewaffeneinsatz würde einen direkten Eingriff auslösen, so US-Vertreter.
Ungeachtet dessen wiederholte Russland seine Warnung, wann immer westliche Politikerinnen und Politiker die Möglichkeit einer direkten Intervention auch nur andeuteten. So erklärte die damalige britische Außenministerin Liz Truss am 27. Februar, der Westen müsse Russland in der Ukraine stoppen, um andere Länder vor einer Bedrohung zu schützen, die wiederum zu einem »Konflikt mit der Nato« führen könne. Russische Vertreter reagierten schnell – ob nur auf die britischen Äußerungen oder auch auf andere westliche Signale, bleibt unklar. Putin rügte »aggressive« westliche Statements und versetzte Russlands strategische Streitkräfte in »hohe Gefechtsbereitschaft«. Anschließend wurden in mehr als einem halben Dutzend russischer Erklärungen Truss’ Äußerungen explizit verurteilt oder Moskaus Nukleardrohungen mit angeblich aggressiver westlicher Rhetorik legitimiert.
Mindestens zwei weitere Runden dieser Abschreckungsinteraktion folgten. Im März drängte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf die Einrichtung einer Flugverbotszone in der Ukraine, was wohl einen direkten Einsatz von Nato-Truppen gegen russische Flugzeuge erfordert hätte. Putin warnte umgehend vor »gewaltigen« und »katastrophalen« globalen Folgen. Einige Wochen später forderte Polen eine Nato-Friedensmission in der Ukraine. Kurz darauf beschuldigte Putin den Westen, Russland »auslöschen« und seine territoriale Integrität zerstören zu wollen. Vier weitere russische Statements, unter anderem von Lawrow, warnten vor einer direkten Nato-Russland-Konfrontation, die eine nukleare Eskalation herbeiführen könnte.
Trotz abweichender Risikobewertungen unter den Nato-Staaten kehrte der Westen schnell zu Russlands roter Linie zurück. Polens Vorschlag einer Friedensmission beispielsweise fand zunächst dänische Zustimmung, stieß aber auf deutsche Ablehnung. Dabei blieben alle Verbündeten vorsichtig und sahen von konkreten Schritten ab, solange keine gemeinsame Position gefunden war. Schließlich lehnten die Nato-Staaten beide Vorschläge ab, wobei sie explizit auf Eskalationsrisiken verwiesen und betonten, dass sie nicht Kriegspartei seien.
Verunsicherungsversuche
Während eine direkte Konfrontation aus russischer wie westlicher Sicht verhindert werden sollte, versuchte Moskau, auch westliche Unterstützung für Kyjiw zu unterbinden. So deutete der Kreml an, dass Militärhilfen für die Ukraine oder Sanktionen gegen Russland das Risiko einer nuklearen Eskalation vergrößern könnten. Doch diese Strategie hatte nur wenig Erfolg – westliche Unterstützungsmaßnahmen wurden nicht verhindert, aber wahrscheinlich verlangsamt und womöglich in gewissem Maße begrenzt.
Putins erste Erklärung vom 24. Februar interpretierten viele als Drohung an diejenigen, die Kyjiw halfen oder Moskau sanktionierten. In der Tat begründete Putin die Anhebung der Alarmstufe für die russischen Atomstreitkräfte unter anderem mit »illegitimen Sanktionen«. Es folgten mehr als ein Dutzend russischer Warnungen vor den Gefahren von Waffenlieferungen, Sanktionen oder einer »Einmischung« in die »Spezialoperation«. Solche Versuche, Unterstützung zu verhindern, waren jedoch zurückhaltend, die nukleare Dimension blieb in den Statements weitgehend implizit.
So übernahmen russische Repräsentanten in ihren Erklärungen die Sprache der russischen Nukleardoktrin: Militärhilfe komme einem »Akt der Aggression« gleich oder schaffe »existenzielle« Bedrohungen, hieß es zum Beispiel, womit auf die Möglichkeit einer nuklearen Reaktion angespielt wurde. Auch wurde gewarnt, westliche Unterstützung für die Ukraine könne zu einem gefährlichen »direkten Zusammenstoß« führen oder sei als Akt eines Stellvertreterkonflikts zu werten – eben jenes Szenario, das beide Seiten als riskant ansahen. Auf diese eher impliziten Drohungen folgten eine Reihe expliziter Dementis, Richtigstellungen und Klagen darüber, dass Russlands »rein defensive« Politik missverstanden wurde. In knapp zwanzig russischen Statements wurden jegliche Nukleardrohungen bestritten oder erläutert, dass Russland nur bei einem direkten Angriff auf sein Territorium Atomwaffen einsetzen könnte.
Die Nato-Staaten waren unterdessen bemüht, Russlands nukleare Erpressungsversuche als erfolglos darzustellen, möglicherweise um die Schaffung eines gefährlichen Präzedenzfalls zu verhindern. In den ersten sechs Kriegsmonaten kündigte der Westen mehr als sechzig Mal an, seine Maßnahmen zur Unterstützung Kyjiws fortzusetzen oder noch auszuweiten. Solche Ankündigungen erfolgten mindestens im Zweiwochentakt, oft auch mehrmals pro Woche; nach Moskaus Atomdrohungen häuften sie sich in besonderem Maße – zum Beispiel Ende Februar oder Ende April. Dennoch zeugt das Verhalten des Westens von Vorsicht, wobei unklar ist, ob dies auf Russlands Warnungen oder die bloße Existenz des russischen Nukleararsenals zurückzuführen ist. Die Nato-Staaten bemühten sich darum, ihre Unterstützung für Kyjiw sorgfältig auszutarieren, und waren offenkundig darauf bedacht, jedwede Entwicklung in Richtung einer direkten Nato-Russland-Konfrontation wegen der damit verbundenen nuklearen Risiken zu vermeiden. So beschränkten Regierungen von Nato-Staaten den Zugang zu Informationen, ließen Ankündigungen bestimmter Lieferungen im Vagen und bestätigten Lieferungen erst, nachdem sie in der Ukraine eingetroffen waren. Bei Entscheidungen über die Quantität und Qualität weiterer zu liefernder Waffen warteten sie oft Moskaus Reaktion auf vorherige Unterstützungsmaßnahmen ab. Auch widersprachen westliche Staaten wiederholt und öffentlich Russlands Ansinnen, Unterstützungsmaßnahmen mit einer direkten Intervention gleichzusetzen. Besondere Vorsicht legten sie an den Tag, wenn mögliche Lieferungen schwerer Waffen öffentlich diskutiert wurden, wie im Fall von Kampfflugzeugen oder bestimmten Kampfpanzertypen. Schließlich suchten sie zu vermeiden, mit ukrainischen Angriffen auf wichtige russische Ziele in Verbindung gebracht zu werden.
Russlands gescheiterte Erpressungsversuche
Die Möglichkeit eines russischen Atomwaffeneinsatzes gegen die Ukraine beunruhigt Kyjiw und den gesamten Westen. Zwar bestritt Moskau in den ersten Monaten des Konflikts derartige Absichten – in mindestens einem Dutzend Erklärungen wurde die rein defensive Ausrichtung der russischen Atomwaffendoktrin unterstrichen und behauptet, der lokale Konflikt in der Ukraine habe keine nukleare Dimension, oder es wurde ausdrücklich versichert, solche Waffen würden nicht gegen die Ukraine eingesetzt. Jedoch beunruhigten mindestens eine Handvoll russische Andeutungen – dabei ging es um fiktive ukrainische Atom- oder Biowaffenprogramme oder angeblich in der Ukraine verbliebene sowjetische Nuklearwaffentechnik. Im Westen wurde dies als Indiz gesehen, dass Moskau versuchen könnte, einen Atomschlag im Rahmen seiner offiziellen Doktrin zu legitimieren.
Um den Kreml davon abzuhalten, nukleare Optionen in Erwägung zu ziehen, und um die Entschlossenheit der Ukraine zu stärken, zogen US- und Nato-Repräsentanten ihrerseits immer deutlicher rote Linien. Öffentlich taten US-Beamte zwar die Möglichkeit eines Nukleareinsatzes zunächst als unwahrscheinlich ab. Hinter verschlossenen Türen warnten sie Russland aber bereits Ende Februar davor, solche Optionen in Betracht zu ziehen. Ende April schienen sich die Bedenken zu mehren, als Geheimdienste vor massiven Auswirkungen eines – wenn auch weiterhin unwahrscheinlichen – Nukleareinsatzes warnten. So erklärte Biden damals öffentlich, Washington sei auf alles vorbereitet, was Russland tun könnte. Eine zweite Warnung folgte Ende Mai: »Jeder« Einsatz von Nuklearwaffen sei »völlig inakzeptabel« und hätte »schwerwiegende Konsequenzen«, so Biden. Ende Juni sprachen die USA gemeinsam mit ihren G7-Partnern eine ähnliche Warnung aus.
Im September erhielten westliche Befürchtungen neuen Auftrieb. Angesichts militärischer Rückschläge beschloss Moskau, die teileroberten ukrainischen Provinzen offiziell zu annektieren. Dabei deutete es die Möglichkeit an, zum Schutz von Russlands »territorialer Integrität« Atomwaffen einzusetzen. Washington reagierte mit spezifischen Warnungen an den Kreml hinter verschlossenen Türen, aber auch öffentlich. Der Einsatz von Atomwaffen würde »das Gesicht des Krieges verändern« und »konsequente« US-Reaktionen nach sich ziehen, so Biden. Andere europäische Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen, Nato- und US-Beamte beschworen ebenfalls »katastrophale Folgen« für Russland.
Nukleare Risiken bleiben begrenzt
Westliche Vertreter haben wiederholt festgestellt, dass Russland bisher keine praktischen Vorbereitungen für einen Nuklearwaffeneinsatz getroffen habe. Moskaus interne Überlegungen dazu sind jedoch nicht bekannt. Aus seinem Drohverhalten lassen sich gleichwohl drei Implikationen für mögliche Entwicklungen ableiten.
Erstens legen sowohl westliche als auch russische Erklärungen und Handlungen nahe, dass die Gefahr eines Nuklearwaffeneinsatzes in der Tat größer würde, sollte die Nato direkt in den Konflikt eingreifen. Derzeit deutet allerdings nichts darauf hin, dass das Bündnis diesen Weg einschlägt.
Unterhalb der Schwelle zu einer direkten Intervention scheint der Westen wiederum mehr Spielraum zu haben, als oft vermutet wird. Moskaus Äußerungen und sein Verhalten lassen nicht darauf schließen, dass der Kreml auf militärische Hilfe für die Ukraine oder Sanktionen gegen Russland atomar reagieren würde – erst recht nicht gegen Nato-Staaten. Stattdessen scheint Russland Schritte tunlichst zu vermeiden, die eine direkte Konfrontation hervorrufen könnten. Angesichts der beträchtlichen Auswirkungen, die westliche Ukraine-Militärhilfe schon jetzt auf russische Kriegsanstrengungen hat, erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass bestimmte Waffenlieferungen diese grundsätzliche russische Haltung ändern würde.
Drittens deutet die berechnende und vorsichtige Strategie der russischen Führung darauf hin, dass sie um die Kosten eines Atomwaffeneinsatzes gegen die Ukraine weiß und darum vorerst nicht glaubwürdig mit dieser Option drohen kann. Sollte sich Kyjiws Gegenoffensive längerfristig als erfolgreich erweisen, gilt es sorgfältig zu durchdenken, auf welche Weise sich eine militärische Niederlage Russlands in der Ukraine zu einer ernsthaften Bedrohung für das amtierende Regime im Kreml entwickeln und infolgedessen akutere Risiken einer nuklearen Eskalation hervorrufen könnte.
Dr. Liviu Horovitz ist Wissenschaftler, Anna Clara Arndt ist Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts »Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order« (STAND).
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DOI: 10.18449/2022A63