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Zeitenwende in der EU-Handelspolitik

Chancen der Diversifizierung im Indo-Pazifik

SWP-Aktuell 2022/A 61, 05.10.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A61

Forschungsgebiete

Europas Handelspolitik steuert auf eine Zeitenwende zu. Dafür ist jedoch nicht in erster Linie Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine verantwortlich. Vielmehr ist dies eher langfristig wirkenden Einflussfaktoren zuzuschreiben: Die WTO-zentrierte multi­laterale Handelsordnung erodiert zusehends. Protektionismus nimmt weltweit zu. Der Welthandel wächst nur noch geringfügig oder stagniert gar. Die Globalisierung befin­det sich in einer ungewissen Transformation. Und der internationale Handel wird zunehmend für Zwecke der Politik instrumentalisiert. Auf diese strukturellen Um­brüche hat die EU-Kommission im Februar 2021 mit der Ankündigung einer »offenen, nachhaltigen und entschlossenen Handelspolitik« reagiert. Die operative Umsetzung der Ziele, die in der neuen handelspolitischen Strategie postuliert werden, war bis­lang aber ungleichgewichtig. Während der Vorsatz, die Selbstbehauptung Europas und die Nachhaltigkeit des Handels zu stärken, durch zahlreiche neue Instrumente und Maßnahmen mit Leben gefüllt wurde, bleibt das Offenheits- und Liberalisierungs­versprechen der EU einstweilen uneingelöst. Insbesondere der indo-pazifische Raum jenseits von China würde der deutschen und europäischen Wirtschaft indes beträcht­liche Chancen zur Erschließung neuer Rohstoffquellen, zuverlässiger Zulieferernetzwerke und wachsender Absatzmärkte bieten.

Auf die politischen und strukturellen handelspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts hat die EU in bemerkenswerter Weise reagiert. Als wichtige Schritte hin zu einer strategischen Autonomie Euro­pas stechen heraus: der EU-Überprüfungs­mechanismus für ausländische Investitionen (10/2020), das Instrument gegen wirt­schaftlichen Zwang durch Dritte (12/2021), eine aktualisierte europäische Industrie­strategie mit Fokus auf Klimaneutralität und Digitalisierung (05/2021), das europäische Chip-Gesetz (02/2022) und der Entwurf eines europäischen Lieferkettengesetzes (02/2022). Diese Gesetze und Maßnahmen gewähren der europäischen Industrie und Wirtschaft einen gewissen Schutz vor un­fairem Wettbewerb und gegen außereuropäische Handelspartner, die politischen Zwang auf die EU ausüben wollen. Sie sind damit Manifestation einer betont defensiven Ausrichtung der Handels- und Industrie­politik. Jenseits dieser zum Schutz von Unternehmen und Verbrauchern getroffenen Maßnahmen darf die Handelspolitik aber nicht den internationalen Wettbewerb und die globalen Märkte aus dem Blick verlieren. Wichtig ist, dass Europas Unter­nehmen auch offensiv neue Liefer- und Absatzmärkte erschließen und ihre offen­sichtlichen Verwundbarkeiten im China-Geschäft reduzieren.

Chancen liberaler Außenwirtschaftspolitik

Die gegenwärtige Erfahrung existentieller geopolitischer Risiken im Auslandsgeschäft mit Russland und China sollte nicht zu dem Fehlschluss im Sinne eines Pars pro Toto ver­leiten, dass Globalisierung und inter­nationale Arbeitsteilung per se zurück­gedrängt und reduziert werden müssten. Im Gegenteil: Grenzüberschreitender Waren­handel, Dienstleistungsverkehr und aus­ländische Direktinvestitionen haben in den vergangenen Dekaden weltweit ein enormes Wohlstandswachstum ermöglicht, und er­heblich dazu beigetragen, dass im globalen Süden Unterentwicklung überwunden und Armut abgebaut werden konnten. Die da­mit verbundene Vertiefung der Arbeits­teilung hat die daran teilnehmenden Unter­nehmen zu beträchtlichen Produktivitätssteigerungen befähigt. Sie hat Innovationen angeregt, zu mehr Produktvielfalt geführt und sehr wahrscheinlich hat sie auch infla­tionstreibende Tendenzen gedämpft. Die einzelwirtschaftlichen Ertragschancen und die gesamtgesellschaftlichen Wohlstands­gewinne sind zu gewaltig, als dass ein Rück­bau von Außenhandel und Globalisierung eine anzustrebende Option wäre, geschweige denn zu einem beherrschenden globalen Trend werden könnte.

Deutschland hat als eine besonders stark mit der Weltökonomie verflochtene Volks­wirtschaft in den vergangenen Jahren von der Globalisierung stärker profitiert als Industrieländer vergleichbarer Größe. Es sollte daher ein hochgradiges Interesse an einem außenwirtschaftlich liberalen Europa haben. Die handelspolitischen Bemühun­gen um einen besseren Schutz vor unfairem Wettbewerb und stärkere Resilienz der heimischen Industrie und der Lieferketten bedürfen daher der Ergänzung um eine aktive Liberalisierungspolitik, etwa durch den Abschluss von Freihandels- und Sek­torenabkommen mit außereuropäischen Handelspartnern.

Zusätzlich zu den prinzipiellen Produktivitäts- und Wachstumschancen einer libe­ralen Außenwirtschaftspolitik kann eine aktive Handelspolitik aber auch kon­krete Beiträge zu Europas grüner und digitaler Transformation leisten; und sie kann die geopolitischen Verwundbarkeiten europäischer Unternehmen reduzieren:

  • In Handelsabkommen lassen sich über Nachhaltigkeitsklauseln und Sektorenkapitel Elemente einer klimafreund­lichen Industrie und Landwirtschaft ver­ein­baren. Politische Verpflichtungen zum Umweltschutz oder konkrete Maßnahmen zur Reduktion von CO2-Emissio­nen können rechtlich verbindlich auch außerhalb Europas festgelegt werden. Darüber hinaus können neue Märkte für klimafreundliche Produkte und Prozesse erschlossen werden.

  • Für den Erfolg von Europas digitaler Agenda ist internationale Kooperation unerlässlich. Die Governance und Standardisierung digitaler Dienstleistungen und des Handels mit digitalen Waren müssen im internationalen Praxistest erprobt, implementiert und verbindlich festgelegt werden. Das Interesse der EU, auf die internationale Regelsetzung – auch in puncto Datensicherheit – Ein­fluss zu nehmen und den europäischen Unternehmen faire Wettbewerbschancen zu verschaffen, indem regulatorischer Protektionismus zurückgedrängt wird, er­fordert eine aktive digitale Handelspolitik, sowohl bilateral als auch multilateral.

  • Handelspolitische Vereinbarungen er­öffnen den Zugang zu Absatzmärkten und Bezugsquellen und sie ermöglichen es, wirtschaftliche und politische Risiken durch Diversifizierung zu begrenzen. Gegenüber unerwarteten Ereignissen wie Covid-19, dem Ukraine-Krieg und der jüngsten Taiwan-Krise sind international breit aufgestellte Unternehmen grundsätzlich besser gewappnet. Eine Streuung von Produktionsstandorten und der Ein­kaufs- und Verkaufsmärkte erleichtert es deutschen und europäischen Unter­nehmen, ihre Verwundbarkeit gegenüber einem China zu mindern, von dem nicht nur Bedrohungen für den wirtschaft­lichen Wettbewerb ausgehen, sondern auch kaum berechenbare außen- und sicherheitspolitische Risiken. Denn weder eine Entkoppelung von China noch ein Reshoring oder ein rigoroses Friend-Shoring der Lieferketten kann für Firmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, eine praktikable Option sein. In einer Welt, in der die G7 für circa zehn Prozent der Weltbevölkerung und gut dreißig Prozent des Welthandels stehen, wäre eine Politik, die den Außenhandel auf die Wertepartner Europas reduzieren wollte, unrealistisch und selbstzerstörerisch. In nüchterner Abwägung von Ren­ditechancen und geopolitischen Risiken müssen sich europäische Unternehmen um eine Diversifizierung ihrer Absatzmärkte und Bezugsquellen bemühen und sich in ihrer Standortwahl für Produk­tionsstätten nicht unnötig beschränken.

Schlüsselregion Indo-Pazifik

Der Indo-Pazifik, geografisch definiert als Zusammenfassung der Subregionen Süd-, Südost- und Nordostasien sowie Ozeanien, ist mit einem Anteil von 33 Prozent (2021) am gesamten außereuropäischen EU-Han­del die bei weitem wichtigste Außen­handelsregion Europas. Der Indo-Pazifik ist zugleich die wachstumsstärkste Region der Welt. Im Jahr 2021 entfielen 44 Prozent (nach Kaufkraftparität) des weltwirtschaft­lichen Wachstums auf den Indo-Pazifik, 22 Prozent dabei allein auf China. Realistischerweise sollte man davon ausgehen, dass der bereits mehrere Dekaden anhaltende Wachstumstrend der Region sich noch ge­raume Zeit fortsetzen wird, es sei denn, ein disruptiver militärischer Konflikt wirft die indo-pazifischen Volkswirtschaften aus dem Gleis. In Anbetracht der Marktgröße und des Wachstumspotentials dieses Raums müsste die EU-Handelspolitik ihre regionale Priorität daher eindeutig auf den Indo-Pazi­fik legen. Neben wirtschaftlichen Erwägungen sprechen aber auch politische Argu­men­te für eine Hinwendung zu dieser Region, wie der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik im September 2021 durch die Vorlage einer europäischen Indo-Pazifik-Strategie eindrücklich deutlich machte. Europas Eigeninteresse an der Aufrechterhaltung von Frieden und Stabilität in Asien, an der Wahrung einer regelgebundenen Weltordnung, an der Geltung und Respektierung demo­kratischer Prinzipien und der Menschenrechte ver­langt ein stärkeres Engagement gegenüber der Region und eine Vertiefung der Zusam­menarbeit mit den Ländern dieses Raums. Es ist also aus ökonomischen und politischen Gründen geradezu zwingend, dass die EU ihre handelspolitischen Prioritäten auf die Indo-Pazifik-Region richtet. Sicher­lich ist eine offensive liberale Handelspolitik auch gegenüber anderen außereuropäischen Weltregionen angezeigt. Aber gerade der mit dem Leitbild einer »offenen strate­gischen Autonomie« verbundene Anspruch auf Selbstbehauptung Europas in einem Umfeld geopolitischer Rivalitäten erfordert ein aktives handelspolitisches Engagement in genau der Makroregion, die sich kraft ihrer Größe und Dynamik als Gravitationszentrum des Welthandels und der Welt­wirtschaft etabliert hat.

Die europäische Handelspolitik hat die Potentiale der Indo-Pazifik-Region nur zum Teil erschlossen. Nur mit vier wichtigen Partnerländern – Korea, Japan, Singapur, Vietnam – konnten bisher Freihandels­abkommen abgeschlossen werden. Der EU ist es im Unterschied zu den USA, Kanada und Japan nicht gelungen, sich mit der Region über multilaterale handelspolitische Abkommen zu vernetzen. Die Chance, etwa über die ASEM-Kooperation die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit dem Indo-Pazifik durch ein Region-zu-Region-Abkom­men oder eine interregionale strategische Zusammenarbeit auszubauen und zu ver­tiefen, wurde nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Auch die 2007 begonnenen Ver­handlungen für ein Freihandelsabkommen mit der ASEAN gingen nicht über vorbereitende Konsultationen und den Austausch von technischen Informationen hinaus und wurden 2010 von der EU angesichts der schwierigen und wenig aussichtsreichen Gespräche ausgesetzt. Auch hat die General­direktion Handel der EU-Kommission im Widerspruch zu der politischen Festlegung des Hohen Vertreters – und auch im Unterschied zu den entsprechenden Wei­chenstellungen Amerikas, Kanadas, Japans und Großbritanniens – ihren regionalen Schwerpunkt nicht auf die Indo-Pazifik-Region gelegt.

Ungeachtet etwaiger Fehleinschätzungen oder strategischer Versäumnisse in der Ver­gangenheit sollte der Imperativ der Gegen­wart sein, die ökonomischen Poten­tiale des Indo-Pazifiks handelspolitisch auszuschöpfen und neue Lieferquellen und Produk­tions­standorte in der Region außer­halb von China zu erschließen. Außenwirtschaftlich muss es der Europäischen Union vor allem um zwei strate­gische Ziele gehen: Erstens sollte die EU angesichts des inzwischen eng­maschigen Teppichs an diskriminierenden bi- und multilateralen Freihandels­abkom­men anstreben, die Märkte der Indo-Pazifik-Region zu den gleichen Zugangsbedingun­gen wie die wichtigsten Wettbewerber – etwa aus Japan, China, Korea, USA – be­treten und bearbeiten zu können. Ein dis­kriminierungsfreier Marktzugang lässt sich aber nur durch den Abschluss verbindlicher handelspolitischer Abkommen erreichen. Zweitens hat die EU ein strategisches Inter­esse daran, die eigenen Handels- und Regu­lierungsstandards im Indo-Pazifik zur An­erkennung und zur Geltung zu bringen. Wenn die Länder der Region im Rahmen der transregionalen Verbünde RCEP (Regional Comprehensive Economic Part­ner­ship), CPTPP (Comprehensive and Pro­gressive Agreement for Trans-Pacific Part­nership) und IPEF (Indo-Pacific Economic Frame­work) an der Weiterentwicklung von Standards arbeiten – abseits und wahrschein­lich im Vorgriff auf entsprechende multilaterale Vereinbarungen auf WTO-Ebene –, muss der EU daran gelegen sein, hier unmit­telbar oder mittelbar Einfluss zu nehmen.

Und die Chancen, über handels­politische Vereinbarungen Märkte im Indo-Pazifik zu öffnen und wirtschaftliche Verwundbarkei­ten zu vermindern, sind grundsätzlich gut. In der Region ist das Interesse am europäischen Binnenmarkt und an europäischen Investitionen ungebrochen hoch, nicht zu­letzt weil auch die Indo-Pazifik-Staaten ihre ökonomischen Abhängigkeiten von China begrenzen wollen. Für die EU sprechen das wirtschaftliche und politische Gewicht Europas, der referentielle Modellcharakter der EU und ihrer Regulierungsstandards.

Um die Potentiale der Indo-Pazifik-Region optimal auszuschöpfen, empfiehlt sich eine dreigleisige handelspolitische Agenda: Erstens gilt es die bestehenden Han­dels­abkommen mit den Ländern Korea, Japan, Singapur und Vietnam zu vertiefen. Ein positives Beispiel hierfür sind die aktuellen Bemühungen Deutschlands und der EU um ein Digitalpartnerschaftsabkommen mit Singapur, Japan und Korea. Zweitens sollte sich die EU um eine Integration in die multi­lateralen handelspolitischen Netzwerke (RCEP, CPTPP, IPEF) bemühen. Drittens soll­te auf bilateraler Ebene Europas Handels- und Investitionsverkehr über einzelne Ab­kommen mit mög­lichst vielen Partner­ländern der Region liberalisiert werden. Die vorliegende Analyse fokussiert sich im Fol­genden auf diesen dritten Aspekt. Es wird näher betrachtet, auf welchem Stand die laufenden Verhandlungen über weitere Handels- und Investitionsabkommen der EU mit Australien, Neuseeland, Indonesien und Indien sind und welche Perspektiven sich hier ergeben.

Wertepartner Australien und Neuseeland

Auf den gegenüberliegenden Seiten des Planeten gelegen, sind sich die EU und Aus­tralien und Neuseeland in den vergangenen Jahren politisch und wirtschaftlich näher­gekommen, ungeachtet des Aus­tritts Groß­britanniens aus der Union (Brexit) und der auf dem fünften Kontinent bestehenden historischen Vorbehalte gegenüber dem Protektionismus, der von der Gemeinsamen Agrarpolitik ausgeht. Das beiderseitige Inter­esse an der Verteidigung der liberalen Welt­ordnung, ähnliche Sichtweisen in Bezug auf Handelsliberalisierung und Multilatera­lismus und die gleiche Wahrnehmung glo­baler und regionaler Bedrohungen haben die gegenseitige Annäherung befördert. Um ihre guten Beziehungen auf eine ver­trag­liche Grundlage zu stellen, haben sich Neu­seeland und die EU 2016 auf ein Partner­schaftsabkommen geeinigt und mit Austra­lien hat Brüssel 2017 ein Rahmenabkom­men geschlossen. Mit 42,3 Milliarden und 7,8 Milliarden Euro (2021) liegen Australien und Neuseeland gemessen am Handels­volumen auf Rang 21 respektive 50 der wichtigsten Handelspartner der Union. Um­gekehrt ist die EU für Australien und Neu­seeland der jeweils drittwichtigste Handels­partner. Europas Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Australien und Neuseeland starteten parallel im Juni 2018. Trotz einer weitgehenden Übereinstimmung in Bezug auf demokratische Werte und einer kongruenten Außenpolitik wurden sie aber nicht zu Selbstläufern. Zu gegenläufig waren die Interessen im Agrarhandel, zu stark die australischen Vorbehalte gegen­über europäischen Regulierungs- und Nach­haltigkeitsstandards.

Die vergleichsweise einfacheren Verhandlungen mit Neuseeland kamen Ende Juni 2022 erfolgreich zum Abschluss. Beide Seiten einigten sich auf nahezu vollständige Zollfreiheit bei allerdings signifikanten Ausnahmen für die Landwirtschaft. Die Einfuhr sensibler agrarischer Produkte nach Europa bleibt zum Leidwesen der neuseeländischen Agrarlobby durch Kontingente (für Rindfleisch, Schaffleisch, Milchpulver, Butter und Käse) beschränkt. Vorgesehen sind indes die Liberalisierung des digitalen Handels, des Dienstleistungsverkehrs, der öffentlichen Beschaffungen sowie eine Ver­besserung des gewerblichen Rechtsschutzes, insbesondere auch die Anerkennung von Herkunfts­bezeichnungen für 163 europäische Nahrungsmittel und für die komplette Liste europäischer Weine und alkoholischer Getränke. Innovativ und weitreichend sind die verbindlichen Nachhaltigkeitsverein­barungen in den Bereichen Arbeit, Umwelt, Klima, Land- und Forstwirtschaft, Fischerei und erstmalig Geschlechtergleichheit. Auf Verstöße gegen die Kernarbeitsnormen oder das Pariser Klimaabkommen können beide Seiten notfalls mit Sanktionen reagieren. Der weitere Fahrplan sieht die juristische Überprüfung der Textentwürfe und die Übersetzung des Vertrags in die europäischen Amtssprachen vor. Dann soll das Ver­tragswerk dem Rat vorgelegt und von diesem gebilligt werden. Anschließend stehen die Unterzeichnung des Abkommens und die Ratifizierung durch das Europäische und das neuseeländische Parlament auf der Agenda. Auf europäischer Seite wird er­wartet, dass infolge des Abkommens der bilaterale Waren- und Dienstleistungs­verkehr deutlich um geschätzte 30 Prozent expandieren dürfte.

Auch die Verhandlungen mit Australien sind weit fortgeschritten. Sie befinden sich aktuell – nach vorübergehender Unter­brechung wegen der französischen Verstim­mung in Reaktion auf das AUKUS-Abkom­men – in einer entscheidenden Phase. Die Vorbehalte Australiens gegenüber euro­päischen Nachhaltigkeitsstandards dürften bei der neuen, im Mai 2022 ins Amt gekom­menen Regierung von Anthony Albanese zwar geringer geworden sein. Sie sind aber noch nicht ganz ausgeräumt. Nachdem sich Australien per Gesetz auf eine Reduktion seiner CO2-Emissionen um 43 Prozent bis 2030 und auf CO2-Neutralität bis 2050 ver­pflichtet hat, befinden sich beide Seiten klimapolitisch auf einer Wellenlänge. Offen ist jedoch, ob Australien bereit sein wird, sich ähnlich wie Neuseeland bilateral auf sanktionsbewehrte klimapolitische Nach­haltigkeitsstandards festzulegen.

Die Hauptschwierigkeit bleibt indes der Agrar­handel. Noch immer klafft eine weite Lücke zwischen Australiens offensiven Ex­portinteressen bei Getreide und vor allem bei Fleisch- und Molkereiprodukten und den gegenläufigen Schutzinteressen Europas, ins­besondere Frankreichs, Irlands, und Polens. Umgekehrt stößt die europäische Forderung nach Anerkennung von Herkunftsbezeich­nungen für europäische Nahrungsmittel, Wein und alkoholische Getränke auf starke Vorbehalte. Auf einen Vertragsabschluss wie den der EU mit Neu­seeland wird sich Australien kaum einlassen. Der vergleichsweise größere australische Importmarkt, vor allem aber Europas dringender Bedarf an einem verlässlichen Zugang zu kritischen Energieressourcen und Rohstoffen verleiht den Forderungen Canberras größe­res Gewicht. Angesichts der australisch-europäischen Interessenkongruenz in der Geopolitik und der aktuellen bilateralen Annäherung in Fragen der Klimapolitik sollten sich beide Seiten zu einem Kompromiss im Agrarhandel bereitfinden. Die Einigung auf ein Freihandelsabkommen wäre ein wichtiger Meilenstein für die weitere Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Australien und Europa.

Indonesien und ASEAN

Als Handels- und Wirtschaftspartner wird Indonesien auf europäischer Seite noch immer unterschätzt. Mit einem Handels­volumen von 24,7 Milliarden Euro war Indonesien 2021 gerade einmal Nr. 31 im Ranking der wichtigsten Handelspartner der EU, und lag damit hinter den ASEAN-Nachbarländern Vietnam, Singapur, Malay­sia und Thailand. Das gemessen an der Bevölkerung viertgrößte, gemessen an der Wirtschaftsleistung nach Kaufkraftparität siebtgrößte Land der Erde (2021) besitzt in­des das Potential, zum wichtigsten Außen­wirtschaftspartner Deutschlands und Europas in Südostasien zu werden. Es ist positiv zu werten, dass sich die politischen Beziehungen der EU zu Indonesien nach dem Ende der Suharto-Diktatur (1998) suk­zessive ver­bessert haben und seit Mai 2014 in einem Partnerschafts- und Kooperationsabkommen freundschaftlich verankert sind. Eingedenk ihrer jeweiligen Verpflichtung auf die Bewahrung der Demokratie, der Menschenrechte und des Pluralismus und ihres gemeinsamen Eintretens für eine regel­basierte internationale Ordnung befinden sich Europa und Indonesien politisch im Gleichklang. Interessanterweise haben die EU und Indonesien den gleichen Wahlspruch gewählt, um den inneren Zusammenhalt ihrer Region trotz aller Diversität zu betonen: »In Vielfalt geeint«, »Unity in Diversity«, »Bhinekka Tunggal Ika«.

Im Vergleich zur politischen Ebene haben die europäisch-indonesischen Außenwirt­schaftsbeziehungen und die Handelspolitik aber noch erheblichen Nachholbedarf. Die Aufnahme von Verhandlungen für ein bi­laterales Freihandelsabkommen im Juli 2016 war insofern überfällig, zumal sowohl die EU als auch Indonesien eine Diversifizie­rung ihrer Handels- und Wirtschafts­beziehungen anstreben. Die Erwartungen, die beide Seiten an ein umfassendes Wirt­schaftspartnerschaftsabkommen (Indonesia-EU Comprehensive Economic Partnership Agreement, IEU-CEPA) knüpfen, sind aller­dings nicht gleich. Für die EU geht es bei dem Abkommen um den diskriminierungsfreien Zugang zu Südost­asiens größtem Markt und einem strategisch bedeut­samen Anbieter von natürlichen und metallischen Ressourcen – zu den gleichen Bedingungen wie die Wettbewerber aus Japan, China, Korea und den USA. Zudem bieten die Ver­handlungen die einmalige Chance, den pro­tektionistischen Tendenzen der indonesischen Wirtschaftspolitik entgegenzuwirken und Regulierungs- und Nachhaltigkeitsstandards durch­zusetzen. Das vorrangige Ziel Jakartas hingegen ist die Entwicklung der heimischen Wirtschaft. Von einem bes­seren Zu­gang zum EU-Binnenmarkt und einem gestärkten Vertrauen von Investoren in den Standort Indonesien verspricht sich die Regierung des Inselstaats mittelbar eine Stimulierung der heimischen Produktion und Beschäftigung und einen erhöhten Zu­fluss von Direktinvestitionen aus dem Aus­land. Die wirtschaftlichen Abhängigkeiten des Landes von China und Japan könnten so ein Stück weit gemindert werden.

Es ist diesen grundsätzlichen Interessendivergenzen geschuldet, dass aktuell zwar nach elf Verhandlungsrunden auf technischer Ebene in vielen Punkten eine Eini­gung erreicht werden konnte, die Positionen in den sub­stantiellen Fragen des Markt­zugangs, der Handelsregeln und der Nach­haltigkeit aber noch weit auseinanderliegen. Auf der einen Seite fordert die EU von Indo­nesien, die mannigfachen Auflagen für aus­ländische Direktinvestitionen abzuschaffen, Exportrestriktionen für Rohstoffe auf­zu­heben, seine Dienstleistungs- und öffent­lichen Beschaffungsmärkte zu öffnen und wettbewerbsverzerrende Subventionen zu beenden. Auf der anderen Seite sieht Indo­nesien genau in diesen Regulierungen legi­time Instrumente zur Förderung seiner Ent­wicklung. Es bleibt den Verhandlungen vor­behalten zu klären, ob und inwieweit die genannten Maßnahmen überhaupt ent­wicklungsfördernd sind oder im Gegenteil protektionistisch und gar entwicklungshemmend.

Palmöl bildet das größte Konfliktfeld in den Verhandlungen, wenn nicht in den europäisch-indonesischen Beziehungen ins­gesamt. Für Indonesien, den größten Palm­ölproduzenten weltweit, ist die EU noch immer der (nach China und den USA) dritt­wichtigste Absatzmarkt. In der EU stößt der Anbau von Palmöl in den Tropen und seine Einfuhr nach Europa aber auf den doppel­ten Widerstand der Anbieter von Biokraftstoffen, die sich durch Importe aus Südost­asien bedroht fühlen und Indonesien un­zulässige Subventionen und unfairen Wett­bewerb vorwerfen, und zivilgesellschaft­licher Gruppen, die auf die Verletzung von Arbeits- und Menschenrechten und die ökologischen Schäden der Palmölproduk­tion verweisen. Vor diesem Hintergrund erkennt die zweite Erneuerbare-Energien-Richtlinie der EU Palmöl nicht mehr als einspeisungsfähige Energieressource an, es sei denn, die Nachhaltigkeit der Produktion kann nachgewiesen werden. Indonesien wiederum betrachtet diese Richtlinie als unzulässige protektionistische Maßnahme, unternimmt zugleich aber auch beträcht­liche Anstrengungen, um den heimischen Anbau von Palmöl nachhaltiger zu gestal­ten. Die Lösung des Konflikts dürfte in der Vereinbarung und Durchsetzung von zer­tifizierten Nachhaltigkeitsstandards für die Palmölproduktion liegen, ähnlich den Be­stimmungen des Wirtschaftspartnerschafts­abkommens, das Indonesien mit der EFTA geschlossen hat. In dem anzusteuernden Kompromiss müsste Indonesien die ver­lässliche Umset­zung der Nachhaltigkeits­standards – einschließlich durchgreifender Kontroll- und Sanktionsmechanismen – rechtlich verbindlich garantieren. Die euro­päische Seite wiederum müsste bei der heimischen Agrarwirtschaft und Zivilgesell­schaft aktiv für das Abkommen werben, so wie die Schweizer Politik dies im Vorfeld der Volksabstimmung über das Wirtschafts­partnerschaftsabkommen der EFTA mit Indonesien getan hat.

Die Vereinbarung des IEU-CEPA wäre im handelspolitischen, geostrategischen und ökologischen Interesse beider Seiten. Ein erfolgreicher Abschluss eines Freihandelsabkommens mit der ASEAN-Führungsmacht Indonesien könnte der EU zudem den Weg zu einem interregionalen Abkommen mit der ganzen ASEAN-Gemeinschaft ebnen. Aktuell zeichnet sich bereits ab, dass die Verhandlungen über ein Freihandelsabkom­men mit den Ländern Thailand, Malaysia und Philippinen wiederaufgenommen werden.

Wachstumsmarkt Indien

Die EU und Indien sind seit 2004 strategische Partner. Sie haben verschiedene Koope­rationsabkommen geschlossen, treffen sich alljährlich zu einem bilateralen Gipfel und verfolgen im Prinzip kongruente außen- und sicherheitspolitische Ziele. Beide Seiten setzen sich für die Aufrechterhaltung der liberalen, auf Regeln basierenden Ordnung ein und be­mühen sich um eine Rückversicherung gegen die Unwägbarkeiten des Aufstiegs Chinas. Die EU und Indien, die füreinander der dritt- bzw. zehntwichtigste Handelspartner sind, haben es bisher aber nicht vermocht, ein Handels- oder ein In­vestitionsabkommen miteinander abzuschließen. Indien hat sogar die bestehenden bilateralen Investitionsabkommen mit 23 EU-Mit­gliedstaaten 2017 einseitig ge­kündigt. Und die im Jahr 2007 begonnenen Verhandlungen über ein Freihandelsabkom­men wurden 2013 angesichts unüberbrück­barer Differenzen ausgesetzt. Hauptstreitpunkte waren die weitreichenden Forderun­gen der EU nach Zollliberalisierung, nach Öffnung der indischen Dienstleistungs- und Agrarmärkte, verbessertem Patentschutz, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit; und andererseits die Forderung Indiens nach Anerkennung als Land mit einem an­gemessenen Maß an Datensicherheit und nach flexiblen Arbeitsgenehmigungen und Visabestimmungen für indische Fachkräfte. Obwohl diese Fragen nach wie vor ungelöst sind, haben die EU und Indien 2022 die Ver­handlungen über ein »ausgewogenes, ehrgeiziges, umfassendes und für beide Seiten vorteilhaftes« Handelsabkommen wiederaufgenommen und separate Konsul­tationen über ein bilaterales Investitionsschutzabkommen und über den Schutz geografischer Herkunftsangaben begonnen. Ein gemeinsamer Handels- und Techno­logierat soll die bilaterale Kooperation konsultativ und koordinativ begleiten.

Die handelspolitische Annäherung liegt im beiderseitigen politischen und wirtschaft­lichen Interesse. Abseits der multi­lateralen Handelsverbünde RCEP und CPTPP sind sowohl die EU als auch Indien quasi-isolierte Außenseiter im indo-pazifi­schen Wirtschaftsraum. Ein Freihandels­abkommen würde für beide Akteure nicht nur ökonomisch von Nutzen sein, sondern sie auch politisch aufwerten. Denn die EU und Indien sind füreinander wichtige und attraktive Handels- und Wirtschaftspartner: Europa als Anbieter von Investitionskapital, Technologie, Infrastruktur und als Tür­öffner zu globalen Absatzmärkten, Indien als riesiger Markt mit enormem Wachstumspotential und als vielversprechender, zu China alternativer Fertigungsstandort. Indien hat gute Chancen, den gegenwärtigen Entwicklungspfad der Urbanisierung, Industrialisierung und demografischen Transition fortzusetzen und noch geraume Zeit alljährlich mit einer Rate von 6 bis 7 Prozent gesamtwirtschaftlich zu wachsen. Um diese Perspektiven zu verwirklichen, müsste der Subkontinent allerdings im Innern schwierige strukturelle Reformen durchsetzen und nach außen eine gewisse wirtschaftliche Öffnung zu­lassen. Zumindest für letzteres Ziel stehen die Chancen nicht schlecht, denn Indien voll­zieht der­zeit einen Kurswechsel in seiner Außenwirt­schaftspolitik. Aus der Furcht heraus, in eine neokoloniale Abhängigkeit von seinem großen Nachbarn im Norden zu geraten, verfolgt das Land dezidiert eine Politik der Entkoppelung von China. Gegenüber Dritt­märkten strebt es aber aktiv nach einer Ein­bindung in Lieferketten, wirbt um Kapi­tal, Technologie und Marktzugang und ist auch seinerseits zu Liberalisierungen bereit. So ist Indien Partner der amerikanischen IPEF-Initiative (Indo-Pacific Economic Framework), hat in der ersten Jahreshälfte 2022 mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Australien ein Freihandelsabkommen geschlossen und steht auch mit dem Golf­kooperationsrat, Großbritannien, Israel und Kanada in entsprechenden Verhandlungen. Gegenüber der EU dürfte Indien zu weiter­reichenden Zugeständnissen bereit sein als gegenüber anderen Handelspartnern. Die Chancen stehen für die EU daher so schlecht nicht, mit Indien ein umfassendes und ambitioniertes Freihandelsabkommen zu vereinbaren. Allerdings wäre es illusorisch anzunehmen, dass Brüssel die europäischen Regulierungs- und Nachhaltigkeitsstandards im Hinblick auf Indien in gleicher Weise durchsetzen könnte wie gegenüber Neu­seeland. Indien ist wie die EU ein handels­politisches Schwergewicht und ein selbst­bewusster Gesprächspartner. Für einen Ver­handlungsabschluss mit Substanz wird die EU vermutlich mehr Kompromisse eingehen müssen als bei vergangenen Verhandlun­gen mit anderen Partnerländern. Es sollte sich lohnen.

Dr. Hanns Günther Hilpert ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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