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Sicherheitspolitische Bilanz der französischen EU-Ratspräsidentschaft

Paris hat wegweisende Beschlüsse erreicht, doch deren Umsetzung bleibt ungewiss

SWP-Aktuell 2022/A 52, 22.08.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A52

Forschungsgebiete

Die französische EU-Ratspräsidentschaft, die am 30. Juni endete, war vom Krieg in der Ukraine und der neuen geopolitischen Lage in Europa geprägt. Durch Russlands Invasion wurden einmal mehr die Schwächen der europäischen Verteidigung offen­gelegt. Ebenso zeigte sich jedoch, dass die EU in Krisensituationen schnell und ent­schlossen handeln kann. Der dramatische Kontext hat es Frankreich zugleich erleichtert, seine Agenda im Bereich Verteidigung und Sicherheit, die ursprünglich umstritten war, auf den Weg zu bringen. Konkrete Erfolge sind dabei die Verabschiedung des Strategischen Kompasses, der Auftrag zur Entwicklung einer EU-Weltraum­strategie, die Finanzierung militärischer Hilfe für die Ukraine über die Europäische Friedensfazilität und die Erklärung von Versailles. Die schwierige Wirtschaftslage und die Refokussierung auf Nato und kollektive Verteidigung könnten es jedoch er­schweren, die einzelnen Entscheidungen umzusetzen. Dabei ist die aktuelle Dynamik zugunsten einer Stärkung der europäischen Verteidigung im deutschen Interesse. Die Bundesregierung sollte daher die lancierten Initiativen unterstützen. Ohne ein starkes deutsch-französisches Duo werden sich die europäischen Vorhaben nicht implementieren lassen. Deshalb ist es auch wichtig, dass sich Berlin enger mit der neuen französischen Regierung koordiniert.

Als Präsident Emmanuel Macron am 9. Dezember 2021 die Ziele der Ratspräsidentschaft bekannt gab, waren viele EU-Staaten skeptisch angesichts der äußerst ambitionierten Agenda, die zahlreiche Ein­zelpunkte enthielt, aber keine klare Priori­sierung aufwies. Unter dem Motto »Relance, Puissance, Appartenance« (Auf­schwung, Macht, Zugehörigkeit) hatte sich Paris vor allem im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein umfangreiches Programm vorgenommen, das von rüstungsindus­trieller Förderung bis zur Erhöhung der Einsatzfähigkeit viele Elemente abdeckte.

Im Nachhinein loben die meisten EU-Mitglieder die Ergebnisse, auch wenn die intensive Agenda bei kleineren Staaten zu Irritationen führte, weil ihnen die Personalressourcen fehlen, um dem vorgegebenen Rhythmus zu folgen. Angesichts von Pan­demie, russischem Angriffskrieg sowie Prä­sidentschafts- und Parlamentswahlen in Frankreich war der Ratsvorsitz von außer­ordentlichen Umständen bestimmt, was zahlreiche Anpassungen des Programms nötig machte. Trotzdem konnte Paris beson­ders im Bereich Sicherheitspolitik Fortschritte erzielen.

Ein günstiger Kontext für die französische Agenda

Russlands Invasionskrieg hat zu einem brutalen Erwachen der Europäer geführt. Auf der einen Seite haben sie bewiesen, dass sie in Krisenzeiten in der Lage sind, schnell und energisch zu reagieren. Davon zeugen ihre beispiellosen Sanktionen gegen Moskau und Minsk, ebenso die Rüstungs­lieferungen an die Ukraine, die auch letale Waffen umfassen und durch die Euro­päische Friedensfazilität (EPF) erleichtert werden.

Auf der anderen Seite hat der Krieg vor Augen geführt, wie sehr es den Europäern an militärischen Fähigkeiten mangelt. Sowohl bei der Verstärkung der Bündnisverteidigung im Rahmen der Nato als auch bei den Waffenlieferungen an die Ukraine kommt der größte Teil aus den USA. Auch dieser ernüchternde Umstand hat es Frank­reich erlaubt, die sicherheitspolitischen Themen, denen aus seiner Sicht Priorität zukommt, in den Vordergrund zu rücken. Paris hatte im Vorfeld einen starken Akzent auf die strategische Souveränität Europas gelegt. Konkrete Anliegen waren dabei, die sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit des Kontinents zu erhöhen und seine ver­teidigungstechnologische wie -industrielle Basis (European Defence Technology and Industrial Base, EDTIB) zu stärken.

Von diesen Intentionen zeugen die Schlussfolgerungen der außerordentlichen Tagungen des Europäischen Rats von An­fang März in Versailles und Ende Mai in Brüssel. Beide Treffen konzentrierten sich auf drei Themen: erstens »Stärkung der Ver­teidigungsfähigkeit« der EU, also Be­schaf­fung militärischer Fähigkeiten und Erhö­hung der Handlungsfähigkeit, zwei­tens »Verringerung der Energieabhängig­keiten« und drittens »Aufbau einer robusten wirt­schaftlichen Basis«. Die am 11. März ver­ab­schiedete Erklärung von Versailles brachte das vierte Sanktionspaket gegen Russland auf den Weg, stellte der Ukraine weitere »politische, finanzielle, materielle und humanitäre Hilfe« in Aussicht und eröff­nete Kyiv insbesondere auch eine Bei­tritts­perspektive für die EU. Darüber hinaus bekundeten die Mitgliedstaaten ihre Ab­sicht, »mehr Verantwortung für unsere Sicherheit zu übernehmen und weitere ent­scheidende Schritte zum Aufbau unserer europäischen Souveränität [und] zur Ver­ringerung unserer Abhängigkeiten […] zu unternehmen«.

Die Europäische Kommission hat Leit­linien formuliert, die darauf zielen, kurz­fristig gemeinsame Beschaffungen zu er­leichtern und längerfristig den Ausbau von Kapazitäten zu fördern; auf diese Weise soll die EDTIB gestärkt werden. So will die Kom­mission bis 2023 neue Mechanismen ein­führen, um die gemeinsame Beschaffung anzuregen. Einzelne Elemente dabei sind Mehrwertsteuerbefreiung, Einrichtung neuer Finanzierungslösungen sowie Anpas­sung und Verstärkung des Verteidigungsfonds-Prämiensystems. Die Europäische Investitionsbank (EIB) soll in die Lage ver­setzt werden, eine größere Unterstützung für Europas Sicherheit und Verteidigung zu leisten.

Erfolg bei wesentlichen Zielen

Strategischer Kompass

Das Hauptziel der französischen Ratspräsidentschaft bestand darin, den Strategischen Kompass (SK) zu verabschieden, den der Europäische Auswärtige Dienst (EEAS) er­stellt hatte und der als erstes »Weißbuch« zur europäischen Verteidigung gilt. Am 21. März wurde das Dokument vom Euro­päischen Rat angenommen. Es sieht vor, bis 2030 die Sicherheits- und Verteidigungs­politik der EU zu vertiefen und die europäi­sche Souveränität zu stärken, damit aus der Union ein »Security Provider« werden kann. Der Kompass bietet einen Fahrplan, mit dem konkrete Maßnahmen festgelegt und Meilensteine in vier Schlüsselbereichen definiert werden: Operationen (»Handeln«), Resilienz (»Sichern«), Verteidigungsausgaben (»Investieren«) und Partnerschaften (»Mit Partnern zusammenarbeiten«). Zum ersten Mal hat die Sicherheits- und Ver­tei­digungspolitik der EU damit eine gemeinsame strategische Vision sowie klare Ziele.

Allerdings wurde das Dokument von der Expertengemeinschaft nicht kritiklos auf­genommen. Die am ersten Entwurf be­anstandeten Defizite finden sich teilweise noch immer. So werden einige wichtige Fragen auch in der Endversion nicht oder zu knapp behan­delt. Die EU-Nato-Bezie­hung etwa wird nur sehr vage angesprochen, und es bleibt unklar, wie eine bessere Arbeits­teilung zwi­schen beiden Seiten er­reicht werden soll. Auch gibt der SK keinen Auf­schluss über die künftige Governance der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits­politik (GASP), unter anderem was das Ein­stimmigkeitsprinzip im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungs­politik (GSVP) betrifft.

Schließlich wird dem Kompass fehlende Glaubwürdigkeit vorgeworfen. Unmittelbar vor seiner Annahme musste er angepasst werden, um dem neuen Kontext des Krieges in der Ukraine Rechnung zu tragen. Das Wording über Russland fiel nun wesentlich robuster aus. Noch kurz bevor die Endversion des SK erstellt wurde, hatte es also eine unzutreffende Bedrohungsanalyse gegeben. Dies konnte zwar rechtzeitig korrigiert wer­den. Doch hätte der Krieg erst nach Verab­schiedung des Dokuments begonnen, wäre es sofort obsolet gewesen.

Experten kritisieren auch, dass zwischen den identifizierten Bedrohungen und den vorgeschlagenen operativen Mitteln eine er­hebliche Diskrepanz bestehe. Skeptisch be­trachtet wird vor allem die geplante Schaf­fung einer EU-Eingreiftruppe mit 5 000 Mann. Immerhin gibt es den Präze­denzfall der EU-Battlegroups, die nie zum Einsatz gekommen sind. Dementsprechend ist frag­lich, ob das im Kompass angestrebte Ziel realistisch ist, einen »Quantensprung« in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu vollziehen.

Umstrittene Räume: See, Weltraum, Cyber

Die Sicherung des Zugangs zu den »umstrit­tenen Räumen« See, Weltraum und Cyber war eine weitere Priorität des französischen Ratsvorsitzes. Auch hier gab es nennenswerte Fortschritte. So wurde die Umsetzung der koordinierten maritimen Präsenz (CMP) der EU im Golf von Guinea um zwei Jahre verlängert. Zugleich haben die Mitgliedstaaten entschieden, diesen Mechanismus auch im nordwestlichen Indischen Ozean anzu­wenden. Ziel der CMP ist es, so der Rat der Europäischen Union im Januar 2021, »die Kapazitäten der EU zu verbessern, ein ver­stärktes operatives Engagement Europas zu ermöglichen, eine ständige maritime Prä­senz und Reichweite in den Meeresgebieten von Interesse zu gewährleisten sowie die internationale Zusammenarbeit und Part­nerschaft auf See zu fördern«.

Grundsätzlich geht es darum, die See- und Luftstreitkräfte der Mitgliedstaaten, die in entsprechenden Meeresgebieten präsent sind oder dort auf freiwilliger Basis ein­­gesetzt wer­den, besser zu koordinieren. Frank­reich ist dieser Initiative besonders verbunden und hat sich maßgeblich dafür eingesetzt, sie auf den Indischen Ozean auszudehnen. Noch ist jedoch unklar, wel­che Nationen sich direkt daran beteiligen werden, da die Ressourcen der europäischen Marinen knapp sind und geographische Prioritäten für die Einsätze gesetzt werden müssen. Zu klären bleibt ebenfalls, wie die neue CMP im Indischen Ozean mit den Operationen EU NAVFOR ATALANTA und AGÉNOR zusammenspielen wird. Die Koordinierung wird derzeit festgelegt.

Der Auswärtige Dienst der EU entwickelt in enger Verbindung mit der Kommission eine Weltraumstrategie für Sicherheit und Verteidigung, die spätestens 2023 vom Rat angenommen werden soll. Das Ziel dieser Strategie hat Präsident Macron in einer Rede umschrieben, die er am 16. Februar 2022 in Toulouse anlässlich eines informellen Treffens der europäischen Minister für Raumfahrt hielt: »Unser Bestreben in die­sem Bereich ist es, ohne Aggressivität, aber auch ohne Naivität eine Vision zum Schutz und zur Widerstandsfähigkeit unserer Weltrauminfrastrukturen zu entwickeln und gemeinsam mit allen unseren Verbün­deten auf Angriffe auf unsere Kapazitäten zu reagieren. Dies erfordert europäische Investitionen in Ausrüstung, Innovation und Forschung.«

In Toulouse wurde vom 24. Februar bis zum 4. März auch die Weltraumübung »AsterX 2022« durchgeführt. Neben Deutsch­land, Italien und den USA, die bereits an der »AsterX 2021« teilgenommen hatten – damals eine Premiere in Europa –, waren in diesem Jahr auch Belgien sowie die Task­force des Europäischen Auswärtigen Diens­tes vertreten. Ziele dieser taktischen und operativen Übung waren die Ausbildung von militärischem Personal, die Erprobung der Reaktionsfähigkeit in Alarmsituationen sowie die Definition und Erprobung be­stimmter operativer Prozesse im Bereich der Weltraumüberwachung. Am »VIP-Day« waren EU-Verteidigungsminister sowie der EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen anwesend, was die euro­päische Dimension der Übung unterstrich; hinzu kamen allerdings auch offizielle Repräsentanten der Nato. Im Vergleich zu 2021 war das Szenario anspruchsvoller (mit 16 Ereignissen statt 13, die das gesamte Bedrohungsspektrum widerspiegelten). Die Übung sollte nicht nur Frankreichs Füh­rungsrolle als Weltraumnation betonen, sondern auch vermitteln, dass die Europäer das All tatsächlich als Konfrontationsraum ansehen und bereit sind, ihre Interessen dort gegebenenfalls mit Hard-Power-Instru­menten zu verteidigen.

Im Cyberbereich wurden EU-CyCLES (EU Cyber Crisis Linking Exercise on Solidarity)-Übungen durchgeführt; Teilnehmer waren die nationalen Agenturen für Cybersicherheit, die zuständige EU-Agentur (ENISA) und die Europäische Kommission (Generaldirektion Kommunikationsnetze, Inhalte und Technologien, kurz DG CONNECT). Bei diesen Übungen geht es darum, die Reak­tionsfähigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten im Falle eines größeren Cyber­angriffs auf kritische Infrastrukturen zu testen und zu verbessern. Ziel ist vor allem, die Zusammenarbeit zwischen technischer, operativer und politischer Ebene zu erpro­ben, mit besonderem Fokus auf den EU-Krisenbewältigungsmechanismen (interne Dimension) und der politischen Reaktion der EU (externe Dimension). Auf dem Prüf­stand steht auch die Bereitschaft der EU, die 2017 eingerichtete »cyber diplomacy tool­box« zu aktivieren. Das angenommene Szenario war diesmal deutlich komplexer als bei früheren Übungen und sah in den letzten Phasen eine gravierende Eskalation vor.

Zum ersten Mal haben sich alle Mit­gliedstaaten auf die Option geeinigt, die Bei­standsklausel aus Artikel 42.7 des EU-Ver­trags zu aktivieren, sollte es einen schweren Cyberangriff geben. Dies zeigt, dass sich die EU stärker auf Cyberangriffe vorbereitet, die physische Schäden ver­ursachen können. Solche Attacken werden als realistisch betrachtet, und es ist davon auszugehen, dass die EU – auch in Abstim­mung mit der Nato – vergleichbare Cyber­übungen regelmäßiger durchführen wird.

Krisenmanagement

Im Bereich Krisenmanagement hatte der französische Ratsvorsitz beabsichtigt, die Einsatzfähigkeit der EU zu erhöhen, unter anderem durch eine flexiblere Implementierung der GSVP-Instrumente. Ein gelun­genes Beispiel dafür ist die Europäische Friedensfazilität (EPF), die es den Mitgliedstaaten nach Russlands Invasion erlaubt hat, der Ukraine militärische Ausrüstung im Wert von insgesamt 2,5 Milliarden Euro zu liefern, davon etwa 90 Prozent letales Material. Der Einsatz dieses Instruments – dessen Annahme 2021 sich Irland, Öster­reich und Zypern zunächst widersetzt hat­ten – ist ein bedeutsamer Schritt. Denn die EU finanziert zum ersten Mal den Kauf und die Lieferung von Waffen sowie anderer Ausrüstung an ein Drittland. Allerdings ist die Hälfte des für den Zeitraum 2021–2027 vorgesehenen Budgets von 5 Milliarden Euro, das aus freiwilligen Beiträgen der Mitgliedstaaten stammt, damit bereits aus­geschöpft, was die Frage nach der Nach­haltigkeit des Instruments aufwirft. Außer­dem erlaubt die Friedensfazilität keine logistische Unterstützung für Waffenlieferungen, anders als das EUCOM Control Center Ukraine/International Donor Coor­dination Center (ECCU/IDCC), das aus einer Fusion der amerikanischen und der briti­schen Logistikzellen zur Unterstützung der Ukraine hervorgegangen ist. Und auch wenn es an Informationen über die gelie­ferten Waffensysteme pro Land fehlt, bleibt doch anzunehmen, dass der europäische Anteil im Vergleich zum amerikanischen relativ überschaubar ist.

Europas Nachbarschaft: Westbalkan und Afrika

Eine weitere Priorität, die Macron in seiner Rede vom 9. Dezember 2021 angesprochen hatte, waren Stabilität und Wohlstand in Europas Nachbarschaft, mit besonderem Fokus auf dem Westbalkan und Afrika. Doch wurden während der französischen Ratspräsidentschaft in keinem der beiden Fälle nennenswerte Fortschritte erreicht. Was die Annäherung des Westbalkans an die EU betrifft, war es Frankreich bis Ende Juni nicht gelungen, einen sowohl für Nordmazedonien als auch für Bulgarien akzeptablen Kompromiss zu finden, um Sofias Blockade der Eröffnung von Beitritts­verhandlungen – die auch Albanien traf – zu überwinden. Doch auf Basis des von Paris vorgelegten Kompromissvorschlags konnte dann Mitte Juli unter tschechischer Ratspräsidentschaft der Startschuss für Verhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien gegeben werden.

Die Hoffnungen Bosnien-Herzegowinas und Kosovos, die noch keinen offiziellen Kandidatenstatus haben, wurden hingegen erneut enttäuscht. Ihr Heranführungs­prozess scheint sich in einer Sackgasse zu befinden. Umso frus­trierter war man dar­über, dass die Ukraine und die Republik Moldau in Rekordzeit den begehrten Bewer­berstatus erhielten.

Die Ergebnisse des Gipfels von EU und Afrikanischer Union (AU), der Mitte Februar in Brüssel stattfand, sind durchwachsen. Verabschiedet wurde ein Investitionspaket in Höhe von 150 Milliarden Euro für die Bereiche Energie, Verkehr, digitale Infra­struktur, Gesundheit und Bildung. Zudem beschlossen EU und AU, auf den Feldern Gesundheit und Pandemiebekämpfung, Klima, Frieden und Sicherheit sowie Migra­tion zu kooperieren bzw. die bestehende Zusammenarbeit zu stärken. Keine Fort­schritte gab es jedoch im kontroversen Bereich Demokratie und Menschenrechte. Entsprechende Fragen wurden nur am Rande erörtert und in keinem der sieben thematischen Workshops behandelt.

Hinzu kommt, dass sich die politische Situation und die Sicherheitslage im Sahel deutlich verschlechtert haben – weder Mali noch Burkina Faso, die von der AU suspendiert sind, wurden zum Gipfel ein­geladen. Am Vorabend des Treffens hatte Frankreich die Entscheidung verkündet, seinen Einsatz in der Sahel-Zone umzu­organisieren und seine Truppen aus Mali abzuziehen. Wegen der angespannten Lage dort war auch das für Ende Januar geplante G5-Sahel-Meeting be­reits abgesagt worden.

Fortsetzung unklar

Damit die erlangten Fortschritte verstetigt werden und die initiierten Prozesse zu Ergebnissen führen, müssten die beiden anderen Länder der gegenwärtigen Trio-Präsidentschaft, Tschechien und Schweden, die Ambitionen Frankreichs mittragen und dessen Bemühungen fortsetzen. Paris wird sich dafür innerhalb des Trios engagieren. Fraglich ist jedoch, ob diese zwei Partner denselben Ehrgeiz haben und dieselben Ressourcen einsetzen können. Tschechien hat bei den Prioritäten seiner Ratspräsidentschaft die »Stärkung der europäischen Verteidigungskapazitäten und der Sicherheit im Cyberspace« nur an dritte Stelle gesetzt, hinter »Bewältigung der Flüchtlingskrise und Erholung der Ukraine nach dem Krieg« und »Energiesicherheit«. Die Prioritäten der schwedischen Präsidentschaft wurden noch nicht festgelegt. Doch Stockholm ist traditionell eher zurück­haltend, wenn nicht misstrauisch gegenüber dem Konzept einer strategischen Autonomie Europas, vor allem im Indus­triebereich, wo Schweden sehr enge Ver­­bindungen zu den USA und Großbritannien unterhält. So erklärte Verteidigungsminister Peter Hult­qvist 2019, sein Land lehne die strategische Autonomie des Kontinents in industrieller Hinsicht ab. Nichts weist darauf hin, dass sich diese Position verän­dert hätte.

Allgemein hat der Ukraine-Krieg die Sichtweise gefestigt, dass die Nato der wich­tigste Akteur für die kollektive Verteidigung ist. Der bevorstehende Beitritt von Schweden und Finnland verstärkt diese Tendenz. Viele europäische Alliierte betrachten das Bündnis kurz- wie langfristig als einzige Garantie für ihre Existenz. So überschattet die Nato in gewissem Maße die EU, was die Förderung europäischer Initiativen kom­plizierter macht.

Eine wesentliche Schwäche der Europäer besteht in ihren mangelnden militärischen Fähigkeiten, ob es um Munitionsvorräte oder die Verfügbarkeit komplexer Waffensysteme geht. Dies gilt zumal nach den ersten Materiallieferungen an die Ukraine. Darüber hinaus fehlte es in den letzten Jahrzehnten an Investitionen in Schlüsseltechnologien und strategische Enabler wie weitreichende Lufttransportkapazitäten, Mittel zur Weltraumkommunikation oder Fähigkeiten für die Cyberabwehr. Die EU-Staaten haben sich zwar verpflichtet, ihre Verteidigungsausgaben deutlich zu erhö­hen, aber ob sie die bisherige Tendenz wirk­lich umkehren können, ist unsicher, erst recht in einem schwierigen wirtschaftlichen Kontext. Zudem erscheint fraglich, ob die europäische Rüstungsindustrie überhaupt in der Lage ist, eine stark erhöhte Nachfrage der EU-Staaten zu erfüllen. Als Alternative – oder gar aus politischen Motiven – könnten einige von ihnen amerikanische Systeme bevorzugen, was dem Ziel zuwider­liefe, die EDTIB zu stärken.

Problematisch ist auch, dass Frankreich (nicht anders als Deutschland) von den Mittel- und Osteuropäern in Sachen Russ­land-Politik scharf kritisiert und mit einem gewissen Misstrauen betrachtet wird. Mac­rons Umgang mit Putin gilt aus dieser Sicht als naiv, nicht zuletzt was den fruchtlosen Dialog zwischen den beiden kurz vor und nach Kriegsbeginn angeht. Dass Paris sich weigerte, für die Kriegsverbrechen der rus­sischen Armee in Butscha den Begriff »Völkermord« zu verwenden, haben viele mittel- und osteuropäische Staaten ver­­urteilt. Auch Macrons Bemerkung, Moskau dürfe nicht gedemütigt werden, irritierte dort. Darunter leidet Frankreichs Ruf bei den östlichen EU-Mitgliedern, was dazu führen könnte, dass sie die von Paris geför­derten Ansätze ablehnen werden. Deutschlands Zögern zu Beginn des Krieges (so die späte Genehmigung für Waffenlieferungen und die ebenfalls späte Zustimmung für Russlands Ausschluss aus dem Swift-Sys­tem), vor allem aber Berlins Nein zu einem Gasembargo wurden von dieser Seite eben­falls sehr negativ aufgenommen.

Hier könnte sich zugleich ein tieferes Unbehagen der Mittel- und Osteuropäer gegenüber Berlin und Paris andeuten. Die Kritik am Russland-Kurs der beiden Regie­rungen wäre dann womöglich nur ein Vor­bote für allgemeinere Proteste gegen das deutsch-französische Tandem – eine Ge­fahr, die in den zwei Hauptstädten nicht unterschätzt werden sollte. Schließlich ist für den Erfolg von europäischen Initiativen die Einigkeit der Mitgliedstaaten erforderlich. Diese ist jedoch nicht dauerhaft garan­tiert. Je länger der Krieg anhält, desto mehr drohen Kohäsion, Einheit und Solidarität in Europa zu erodieren – und damit die EU-Projekte im Bereich der Sicherheitspolitik zu scheitern. Dabei liegt es im Interesse der Union und aller Mitgliedstaaten, auch Deutschlands, die notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, damit die positive Dynamik auf diesem Feld aufrechterhalten und die europäische Verteidigung gestärkt werden kann.

Deutsch-französische Führungsrolle

Bei diesen Bemühungen wird das deutsch-französische Tandem eine Führungsrolle spielen müssen. Berlin und Paris sollten rasch eine neue Arbeitsdynamik finden, damit sie weiterhin als Schrittmacher der europäischen Außen- und Sicherheits­politik agieren können. Schon bald bietet sich der deutschen Seite wohl eine Gelegen­heit, mit der neuen französischen Regierung bilaterale, europäische und interna­­tio­nale Themen produktiv zu besprechen und dabei nach Synergien zu suchen. Der nächste Deutsch-Französische Ministerrat (DFMR) könnte im Herbst stattfinden, und am Rande dieses Treffens ließe sich der Deutsch-Französische Verteidigungs- und Sicherheitsrat (DFVSR) organisieren.

Der Strategische Kompass, der unter deutscher Ratspräsidentschaft initiiert und unter französischer verabschiedet wurde, ist ein Beispiel für die gute bilaterale Zu­sammenarbeit zugunsten Europas. Nun gilt es für Berlin und Paris, die Umsetzung des Dokuments in all seinen Dimensionen sicherzustellen. Von den rund 80 konkreten Zielen soll die Hälfte bis 2023 implementiert werden. Im Schlüsselbereich »Han­­deln« etwa ist vorgesehen, ab dem kommenden Jahr regelmäßige LIVEX-Übungen durchzuführen. Bis dahin will man sich auch auf ein militärisches Konzept für Luft­sicherheitsoperationen geeinigt haben, das Aufgaben der Luftunterstützung, Ret­tung, Evakuierung, Überwachung und Katastrophenhilfe einschließen soll. Im Bereich »Sichern« beabsichtigt die EU unter ande­rem, bis Ende 2022 ihre Bedrohungsanalyse zu überprüfen. Dieser Vorgang soll künftig regelmäßig durchgeführt werden. Im lau­fenden Jahr will die EU auch neue Instru­mentarien gegen hybride Bedrohungen bzw. gegen ausländische Informations­manipulation und Einmischung entwickeln und ihre Werkzeuge für Cyberdiplomatie weiter ausbauen. Im Bereich »Investieren« soll die Erklärung von Versailles umgesetzt werden. Kurzfristig (bis Mitte 2023) bedeu­tet dies insbesondere, gemeinsame Beschaf­fungen durch neue Finanzierungsinstrumente oder Mehrwertsteuerbefreiung zu fördern. Damit sich diese Ziele in so kurzer Zeit erreichen lassen, wird ein volles Enga­gement aller Mitgliedstaaten nötig sein. Die tschechische Ratspräsidentschaft hat die Umsetzung des Strategischen Kompasses als Priorität festgelegt. Für Berlin und Paris gilt es, Prag bei seinen Bemühungen zu unter­stützen.

Mit der Agenda von Versailles hat die Kommission den Weg geebnet, um den EU-Haushalt zur Unterstützung der Verteidigungsindustrie zu mobilisieren. Sie hat damit die Maßnahmen fortgesetzt, die im Bereich Forschung und Entwicklung mit dem Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) entwickelt wurden. Nun muss dafür gesorgt werden, dass die bereits begonnenen Verhandlungen über das kurzfristige Instrument zur Stärkung der Europäischen Verteidigungsindustrie durch Gemeinsame Beschaffung (EDIRPA) – es geht hier um 500 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt bis Ende 2024 – und die ab Herbst statt­findenden Verhandlungen über das Euro­päische Investitionsprogramm für Verteidigung (EDIP) erfolgreich verlaufen. Diese beiden Instrumente werden entscheidend sein, um die gemeinsame Beschaffung von Ausrüstung zu fördern, die notwendig ist, damit sich die Fähigkeitslücken der Mit­gliedstaaten schließen lassen und zugleich die EDTIB gestärkt wird. Deutschland und Frankreich werden in diesen Verhandlungen eine maßgebliche Rolle spielen. Wich­tig wäre zugleich, dass Berlin mit gutem Beispiel vorangeht und das Sondervermögen Bundeswehr so umsetzt, dass die EDTIB dadurch gefördert wird.

Die langfristigen Mechanismen können ebenso den nötigen Anreiz bieten, um die deutsch-französischen Rüstungskoopera­tionsprogramme voranzubringen, an denen zum Teil noch einige weitere europäische Partner beteiligt sind. Dies betrifft vor allem das Future Combat Air System (FCAS) und das Main Ground Combat System (MGCS) als zukünftige Luft- und Landkampfsysteme, aber auch den Seefernaufklärer MAWS (Maritime Airborne Warfare System) und die Modernisierung des Kampfhubschraubers Tiger. Der Deutsch-Französische Ver­teidigungs- und Sicherheitsrat sollte den politischen Willen beider Regierungen be­stätigen, die zahlreichen Schwierigkeiten zu überwinden und diese Projekte zu ver­wirklichen. Insbesondere müssen die poli­tischen Abkommen unverzüglich in indus­trielle Abkommen umgesetzt werden. Der politische Druck auf die Industrie sollte also steigen, wozu es auch einer engen Abspra­che zwischen dem für Rüstung zuständigen Staatssekretär des Bundesverteidigungs­ministeriums und dem neuen französischen Generaldelegierten für Rüstung, Emmanuel Chiva, bedarf.

Angesichts dieser Herausforderungen für Europa sind deutsch-französische Einigkeit und Entschlossenheit wichtiger denn je. Zugleich ist es erforderlich, die Mittel- und Osteuropäer stärker einzubeziehen und eine bessere Kommunikation mit ihnen zu erreichen, damit Missverständnisse verhin­dert werden und das europäische Einvernehmen garantiert ist. Deutschland und Frankreich haben bei diesen Partnern einen Vertrauensverlust erlitten, den es wieder wettzumachen gilt. Was die logistische Unterstützung für die Ukraine angeht, wäre es etwa besonders sinnvoll, dass sich beide Regierungen mit Polen im Rahmen des Weimarer Dreiecks koordinieren.

Sven Arnold ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

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