Der Nato-Gipfel von Madrid im Juni 2022 hat eine umfassende Neuausrichtung der Allianz auf den Weg gebracht. Das zeigen drei zentrale Beschlüsse: die Verabschiedung des neuen Strategischen Konzepts, die angekündigte Aufnahme Finnlands und Schwedens sowie die militärische Neuaufstellung. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wirkte dabei teils als Auslöser (Norderweiterung), teils als Katalysator, der Entwicklungen beschleunigt, die sich bereits seit langem abzeichnen (militärische Neuaufstellung). Ausgangspunkt für diese Beschlüsse ist die Feststellung, dass Russland derzeit die größte Bedrohung darstellt. Folglich priorisiert die Nato jetzt klar kollektive Verteidigung im euroatlantischen Raum, während das zuvor dominierende internationale Krisenmanagement (etwa in Afghanistan) an Bedeutung verliert. Dieser Fokus wird das kommende Jahrzehnt prägen. Deutschland hat dafür einen Führungsanspruch formuliert. Um ihn umzusetzen, muss sich die Bundeswehr mit Blick auf Ausstattung, Einsatzbereitschaft und Finanzierung besser aufstellen.
Vor dem Gipfel herrschten große Bedenken, dass interne Differenzen die Beschlüsse verhindern und ein Signal der inneren Zerstrittenheit senden könnten. Es wurde befürchtet, die Türkei würde gegen den Wunsch aller übrigen Alliierten den Beitritt Finnlands und Schwedens blockieren. Bis zum Vorabend gerungen wurde auch um einzelne Passagen im Strategischen Konzept, etwa wie kritisch Russland und China benannt werden; um die von einigen Regierungen abgelehnte Aufstockung des Gemeinschaftshaushalts; schließlich um Aspekte der militärischen Neuaufstellung. Umso bemerkenswerter war es, dass die Nato-Staaten die größten Streitpunkte schon am ersten Vormittag ausräumen konnten.
Die Gipfelagenda
Fünf Themen dominierten die Agenda: die Verabschiedung eines neuen Strategischen Konzepts; der Beitritt Finnlands und Schwedens; die Neuaufstellung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten; die Erhöhung des Gemeinschaftsbudgets sowie die Verstetigung der Unterstützungsleistungen für die Ukraine. Im Schatten dieser großen Themen arbeiteten die Alliierten zahlreiche weitere Fragen ab, die sich aus dem neuen Strategischen Konzept ergaben; sie betrafen etwa den Umgang mit den Folgen des Klimawandels, die EU-Nato-Kooperation, den Umgang mit chemischen, biologischen und nuklearen Waffen sowie mit hybriden Bedrohungen, nicht zuletzt Initiativen zur Innovation in der Verteidigungsindustrie.
Bemerkenswert war auch, dass neben der Ukraine als weitere Gäste erstmals vier Staaten aus dem Indo-Pazifik an ausgewählten Agendapunkten teilnahmen, die sogenannten AP4 (Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland). In den Gesprächen mit ihnen ging es zum Beispiel um den Umgang mit hybriden Bedrohungen sowie Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit Blick auf die wachsenden Herausforderungen durch China. Dies zeigt die steigende Bedeutung dieser Region für die Nato und ihr Bestreben, die regionale Kooperation auszubauen.
Das neue Strategische Konzept
Die Nato-Staaten haben 2021 den Generalsekretär beauftragt, ein neues Strategisches Konzept zu erarbeiten, da das Vorgängerdokument von 2010 weitgehend obsolet war. Das neue Konzept analysiert die sicherheitspolitische Lage, identifiziert Bedrohungen und definiert Leitlinien für die Ausrichtung des Bündnisses in den kommenden 10 Jahren. Es zeigt Kontinuität, indem es trotz langer Kontroversen an den drei Nato-Kernaufgaben festhält: kollektive Verteidigung; Krisenprävention und ‑management; kooperative Sicherheit. Sie werden nun jedoch anders gewichtet – kollektive Verteidigung hat Priorität. Unterschiede im Vergleich zu 2010 sind vor allem die kritischere Behandlung Russlands, die erstmalige Erwähnung Chinas und die Aufnahme neuer Themen (wie Klimawandel) und neuer Bedrohungen (wie disruptive Technologien).
Während Russland 2010 noch als strategischer Partner bezeichnet wurde, wird es jetzt als größte und unmittelbarste Bedrohung für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum identifiziert. Ein Angriff auf ein Nato-Mitglied kann nicht mehr ausgeschlossen werden. Moskaus Bereitschaft, Krieg zu führen, um Interessen- und Einflusssphären auszudehnen, sowie seine militärische Aufrüstung haben potentielle Konfliktlinien zwischen der Nato und Russland zur Folge: von der Arktis über den Ostseeraum, das Schwarze Meer und den Balkan bis zum östlichen Mittelmeer und der Sahelzone. Diese Konflikte könnten eskalieren. Die Nato bleibe aber bereit, die Kommunikationskanäle offenzuhalten, um Risiken zu mindern, Eskalationen zu verhindern und mehr Transparenz zu schaffen. Das Bündnis sucht keine Konfrontation mit Russland und ist keine Bedrohung.
China dagegen wird als Herausforderung definiert. Die ursprünglich von einigen Alliierten, wie den USA, geforderte deutlich kritischere Betrachtung Chinas wurde letztlich auf Wunsch anderer, vor allem Frankreichs und Deutschlands, abgeschwächt. Aufgenommen wurde hingegen die Sorge der USA vor einer zunehmenden Zusammenarbeit Russlands mit China. Die Herausforderung durch China ist weniger eine direkte militärische Bedrohung, sondern erwächst aus dem Versuch des Landes, die internationale Ordnung nach eigenen Vorstellungen umzuformen und zu dominieren. Dazu gehören etwa »böswillige hybride und Cyberoperationen«, konfrontative Rhetorik und Desinformation. Daher bestätigt das Konzept, dass hybride Bedrohungen und solche im Cyber- und Weltraum die Beistandsklausel (Artikel 5) auslösen können. Umso wichtiger ist für die Nato, vorsorglich regionale Kooperation mit gleichgesinnten Partnern aufzubauen, wie den AP4. Kooperative Sicherheit bedeutet deshalb nicht nur, dass die Nato offen für neue Mitglieder bleibt, wie Finnland und Schweden, sondern auch, dass sie die Kooperation mit Partnern weltweit intensiviert.
Beitritt Finnlands und Schwedens
In Madrid haben die Alliierten die Beitrittsanträge Finnlands und Schwedens angenommen. Dank intensiver diplomatischer Bemühungen fanden am Vorabend des Gipfels Schweden, Finnland und die Türkei eine Übereinkunft, die den Weg für den Beitritt frei macht. Darin werden unter anderem Konsultationsmechanismen vereinbart und die gegenseitigen Bedrohungsperzeptionen anerkannt, aber auch
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Quellen: Nato, New NATO Force Model, Juni 2022; dies., »Press Conference by NATO Secretary General Jens Stoltenberg«, Madrid, 29.6.2022; |
demokratische Werte bestätigt. Nun müssen alle Alliierten die Beitrittsanträge ratifizieren, Finnland und Schweden müssen nachweisen, dass sie die Beitrittskriterien erfüllen. Ohne weitere Blockaden könnten sie in 6 bis 12 Monaten aufgenommen werden.
Politisch und strategisch ist ihr Beitritt ein Gewinn: Politisch zeigt die Nato, dass sie trotz russischer Drohungen am Prinzip der freien Bündniswahl festhält. Geostrategisch wird Nordeuropa nun ein kohärenter Raum, der mit Ausnahme von Kaliningrad und Sankt Petersburg unter dem Schutz der Nato steht. Das vereinfacht die Verteidigungsplanung, insbesondere für das Baltikum, und erhöht die Glaubwürdigkeit der Abschreckung im Norden. Finnland wie Schweden werden substantiell zur Nato beitragen, denn sie haben modern ausgestattete, schlagkräftige und gut ausgebildete Streitkräfte, innovative Rüstungsindustrien, außergewöhnliche regionale operative Kenntnisse über Russland, einzigartige Fähigkeiten zur Kriegsführung in klimatisch schwierigen Regionen wie der Arktis sowie umfassende nationale Gesamtverteidigungskonzepte. Als Enhanced Opportunity Partners (EOP) arbeiten sie schon lange eng mit der Nato zusammen, was ihre Integration erleichtern wird.
Allerdings vergrößert sich mit ihrem Beitritt auch das Nato-Gebiet, was allein die mehr als 1.300 Kilometer lange finnische Grenze zu Russland zeigt, die die Nato künftig in ihre Verteidigungsplanung einbeziehen muss. Wenig überraschend kritisiert Russland die beiden Beitritte, da sie eine Nato-Übermacht im Nordosten Europas bedeuteten und seine Handlungsfähigkeit dort beschränken würden, vor allem die seiner Nordmeer- und Ostseeflotte. Zwar haben sich Finnland und Schweden bislang nicht dafür ausgesprochen, auf ihrem Territorium Nato-Truppen zu stationieren oder ein Hauptquartier (HQ) zu errichten; aber zumindest die temporäre Präsenz der Nato in den beiden Ländern wird zunehmen, etwa im Rahmen gemeinsamer Übungen. Um die Verteidigung des nördlichen Bündnisgebiets zu sichern, muss die Nato die seit Jahren diskutierte regionale Koordination im Ostseeraum verbessern und sie enger in die übergeordnete Abschreckungspolitik einbinden.
Stärkung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit
Aus der Bedrohungsanalyse leitet das Strategische Konzept die Notwendigkeit ab, die Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit der Nato zu stärken und neu aufzustellen. Um auf die russische Bedrohung zu reagieren, will die Allianz ihre Präsenz in den besonders exponierten Gebieten ausbauen, vor allem an ihrer Nordost- und Südostflanke die Luft- und Flugkörperverteidigung stärken, sowie die Cyberabwehr und die Übungstätigkeit intensivieren. Damit alle Staaten kohärent vorgehen, sollen nationale und Nato-eigene Verteidigungspläne überarbeitet bzw. erstellt sowie synchronisiert werden. Drei Ideen leiten diese Neuaufstellung (vgl. Grafik 1, Seite 3):
Erstens wurde ein neues Streitkräftemodell beschlossen, das New Force Model (NFM), das die bisherigen Nato-Formate ablöst, namentlich die Nato Response Force (NRF) und die Speerspitze VJTF. Der Anspruch des NFM ist, etwa 800.000 Soldaten zu organisieren. Es teilt die Streitkräfte und Fähigkeiten der Alliierten verschiedenen potentiellen Konfliktregionen innerhalb des euroatlantischen Raums zu, etwa dem Ostseeraum, und organisiert sie in drei Stufen, sogenannten Tiers, mit wachsender Bereitschaftszeit. Tier 1 und Tier 2 bilden mit 100.000 bzw. 200.000 Soldaten den Kern und weisen mit 10 bzw. 30 Tagen eine hohe Reaktionsbereitschaft auf. Tier-3-Truppen, weitere 500.000 Soldaten, sollen graduell in bis zu 180 Tagen einsatzbereit sein.
Innerhalb der drei NFM-Tiers sind weitere Differenzierungen vorgesehen: So werden innerhalb von Tier 1 die bisher existierenden NRF und VJTF in einer neuen schnellen Eingreiftruppe aufgehen, der Allied Reaction Force (ARF), die 40.000 Soldaten umfasst. Diese werden dem obersten Nato-Befehlshaber SACEUR ständig – also bereits vor Ausbruch einer Krise – unterstellt sein, um eine schnelle Reaktion zu ermöglichen. Das ist eine beachtliche Neuerung: Bislang haben einige Staaten, darunter Frankreich und Deutschland, dies abgelehnt.
Allerdings sind in allen drei Stufen Kräfte verplant, die jeder Alliierte zur Verteidigung seines eigenen Territoriums oder unter nationaler Führung als freiwilligen zusätzlichen Beitrag vorhält. Die Staaten behalten also die Hoheit über die meisten ihrer Truppen. Das NFM bedeutet auch nicht, dass die Nato nun tatsächlich über 800.000 Soldaten verfügen würde – es handelt sich lediglich um eine neue Zuordnung. Viele Truppen bleiben unter nationaler Führung, und bei einigen ist die tatsächliche Einsatzbereitschaft fraglich.
Neu ist zweitens ein stärkerer regionaler Fokus. Streitkräfte und Fähigkeiten der Alliierten werden teilweise potentiellen Konfliktregionen (Fokusgebieten) im euroatlantischen Raum zugeordnet, etwa dem Baltikum. Zusammen mit geplanten Vorausstationierungen von Munition und Material soll dies die Einsatzbereitschaft erhöhen. Praktisch heißt das zum Beispiel, dass Munition und Material der Bundeswehr dort gelagert werden, wo im Ernstfall deutsche Kontingente eingesetzt würden. Ferner werden die Führungsstrukturen für regionale Aufgaben gestärkt; die drei existierenden Joint Force Commands (Brunssum, Neapel und Norfolk) erhalten eigene Verantwortungsbereiche. Ähnliches gilt für die Führungselemente innerhalb einer Region: Beispielsweise erweitert sich die Rolle des Multinationalen Korps Nordost (MNC NE) in Stettin, sodass es regional und domänenübergreifend Nato-Heereskräfte im Ostseeraum koordinieren kann.
Kritik kommt vornehmlich von Alliierten aus Südeuropa, die ihre Kräfte nicht fest regional zuordnen wollen. Sie befürchten, dass eine solche Festlegung die Flexibilität für den SACEUR reduziert und auf Kosten der Aufmerksamkeit für die Südflanke mit ihren spezifischen Problemen geht, etwa Instabilität und Terrorismus.
Drittens passt die Nato ihr Abschreckungsmodell an und verschiebt den Schwerpunkt von Abschreckung hin zu Verteidigung. Die bisherigen Planungen in Ost- und Mitteleuropa waren als deterrence by reinforcement konzipiert: Die Abschreckungswirkung baute auf eine geringe, rotierende multinationale Truppenpräsenz in den baltischen
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Quelle: Nato, NATO’s Eastern Flank: Stronger Defence and Deterrence, Juni 2022. |
Staaten und Polen (jeweils ca. 1.000 Mann), die sogenannte enhanced Forward Presence (eFP), die im Krisenfall verstärkt werden sollte. Insbesondere die genannten Staaten bezweifelten, dass dieser »Stolperdraht«-Ansatz funktionieren würde, und forderten die permanente Stationierung größerer und schwerer ausgerüsteter Verbände sowie glaubhafte Verstärkungstruppen.
Die neuen Planungen folgen nun dem Ansatz deterrence by denial, dem gemäß dem Gegner durch größere Truppenpräsenz und die Vorausstationierung von schwerem Gerät und Munition verdeutlicht wird, dass ein Angriff scheitern würde. Sichtbar wird der neue Ansatz in der Entscheidung, die existierenden eFP zu multidomänfähigen Verbänden auf Brigadeebene aufzustocken und entsprechende Fähigkeiten sowie schweres Gerät, etwa Artillerie, vor Ort zu stationieren. »Multidomänfähig« bedeutet, dass die Einheiten in den verschiedenen Einsatzfeldern, den Domänen (Land, Luft, See, Weltraum, Cyberraum), handlungsfähig sein werden. Zudem werden die Nato-Verbände verstetigt, die als Reaktion auf den russischen Krieg gegen die Ukraine in der Slowakei, in Bulgarien und Rumänien zusätzlich aufgestellt wurden (vgl. Grafik 2).
Mehrere Staaten haben bereits zugesagt, ihre Beiträge zu erhöhen, darunter Deutschland, das das eFP-Kontingent in Litauen führt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Zusagen im Rahmen der Nato, wie sie Deutschland gegeben hat, und bilateralen Zusagen. Letzteres trifft auf die USA zu, die ihre Präsenz in Europa ausbauen wollen, unter anderem durch ein neues HQ in Polen und die Stationierung von zwei F‑35-Kampfjet-Geschwadern in Großbritannien.
Insgesamt geht es also nicht nur um eine quantitative Aufstockung der Nato-Streitkräfte, sondern auch darum, Einsatzbereitschaft und Ausrüstung zu verbessern bzw. neu zu strukturieren. Das NFM wird damit zum Maßstab für die gesamten Nato-Streitkräfte und den Nato-Planungsprozess NDPP. Es soll Mitte 2023 umgesetzt werden. Die Nato hat aber keine eigenen Streitkräfte und betreibt nur wenige Fähigkeiten selbst, etwa die Aufklärungsflugzeuge AWACS – alle Beiträge kommen von den Staaten. Das heißt: Um diese umfassenden Neuerungen umzusetzen, müssen alle Alliierten größere Beiträge in höherer Qualität leisten (Truppen, Ausrüstung), was beträchtliche Anstrengungen erfordert und teils lange dauern wird.
Überdies muss die Nato die begonnene Neukonzeption von Verteidigung und Abschreckung den sich wandelnden Rahmenbedingungen stetig anpassen. Da Konflikte in der konventionellen und der nuklearen Dimension, aber auch im Cyber- und Weltraum und in nichtmilitärischen Bereichen wie dem Informationsraum ausgetragen werden können, müssen die Nato-Konzepte laufend weiterentwickelt und neu gedacht werden.
Schlüsselrolle Deutschlands
Die Bundesregierung hat bereits vor dem Gipfel die Beschlüsse geprägt. Unter anderem musste ein Kompromiss gefunden werden zwischen den Wünschen namentlich der baltischen Staaten und Polens, die zusätzliche Kräfte forderten, etwa jeweils eine Brigade von 3.000 bis 5.000 Soldaten, und dem, was die Truppenstellerstaaten bereit und in der Lage sind zu liefern. Die dauerhafte Stationierung von Verbänden dieser Größenordnung ist nicht nur teuer, sondern derzeit faktisch kaum machbar: Die Führungsnationen der eFP im Baltikum, also Deutschland (in Litauen), Großbritannien (Estland) und Kanada (Lettland), verfügen kurzfristig nicht über solche einsatzbereiten und voll ausgerüsteten Heeresbrigaden.
Daher schlug Deutschland vor, dass nur ein Teil der neuen Brigaden vor Ort stationiert wird, vor allem Stabselemente, Munitions- und Betriebsstofflager. Der Großteil bleibt in den Heimatländern, wird aber verpflichtend für die Nato eingeplant und in Abrufbereitschaft versetzt. Für Deutschland und Litauen bedeutet das zum Beispiel, dass Elemente der Brigade sich in Litauen befinden, der Großteil in Deutschland in Bereitschaft steht, Litauen fest zugeordnet ist und dort Übungen absolviert werden. Großbritannien und Kanada wollen sich an diesem Modell orientieren. Auf diese Weise soll die bisherige eFP-Struktur bis 2025 mit multidomänfähigen Elementen zur Brigadeebene aufgebaut werden. Deutschland beteiligt sich zudem an der neuen Battlegroup in der Slowakei, unter anderem mit Flugabwehr.
Zusätzlich hat Deutschland in Madrid angeboten, ein stehendes regionales, maritimes HQ für den Ostseeraum bereitzustellen (vgl. SWP-Aktuell 100/2020). Dieses ständige, multinational besetzte HQ würde Nato-Kräfte regional und domänenübergreifend im kompletten Spektrum von Frieden bis Krieg koordinieren. Polen hat allerdings ein ähnliches Angebot unterbreitet, da es ebenfalls eine regionale Führungsrolle beansprucht. Die Nato hat in dieser Sache bislang nicht entschieden, um deutsch-polnische Konflikte zu vermeiden. In diese Lücke stößt nun London und reklamiert seinerseits eine Führungsrolle entlang der Nordflanke und in der Ostsee. Alle drei Länder stehen vor derselben Herausforderung, diese Ansprüche auch materiell zu untermauern. Absehbar ist hier nicht nur der Konflikt der Führungsansprüche, sondern ebenso eine gegenseitige praktische Behinderung, wenn die Kräfte zugewiesen werden sollen.
In der maritimen Domäne will Deutschland seine Führungsrolle im Ostseeraum unterstreichen, indem es etwa 20 Kriegsschiffe für Tier 1 und 2 bereitstellt. Für den Landbereich ist eine Division vorgesehen, die vorrangig in Litauen, aber auch im gesamten Baltikum und entlang der Nato-Ostgrenze zur Verfügung stehen soll. Die Umsetzung dieser Zusagen ist allerdings fraglich – seit Jahren sagt Deutschland der Nato eine Division zu, hält dies aber nicht ein.
Im Luftbereich hat die Nato auf den Krieg in der Ukraine mit einem Ausbau des Air Policing und Air Patrolling reagiert. Darüber hinaus soll die Luftraumverteidigung verbessert werden. Dazu bedarf es mehr Flugzeuge in den besonders exponierten Regionen sowie des Ausbaus der bodengebundenen Flugabwehr. Der deutsche Beitrag hierzu wurde noch nicht präzisiert.
Für Deutschland gilt es deshalb, dass es erstens seine Zusagen an die Nato innerhalb der vereinbarten Fristen erfüllt – das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. Zweitens muss Berlin eigene Verteidigungspläne erarbeiten und diese mit denen der Nato abstimmen, um die eigenen Kräfte und Fähigkeiten planbar und flexibel einsetzen zu können.
Mit den Beschlüssen von Madrid kommen gerade auf Deutschland große Anforderungen zu. Seine Bedeutung für Europas Verteidigung resultiert teils aus seiner Wirtschaftskraft: Wenn Berlin wie angekündigt 2 Prozent seiner Wirtschaftskraft für Verteidigung ausgibt, hat es 2022 mit circa 55,6 Milliarden Euro sowie dem diesjährigen Anteil am Sondervermögen von veranschlagt etwa 25 Milliarden Euro den mit Abstand größten Verteidigungshaushalt in Europa (Großbritannien ca. 53,8 Mrd. Euro, Frankreich ca. 49,6 Mrd. Euro). Investiert Deutschland klug, kann es damit zum konventionellen Rückgrat für die Nato werden. Aufgrund seiner Lage ist es außerdem das logistische Drehkreuz, über das potentielle Einsätze im Osten des Bündnisgebiets verlaufen würden. Politisch steht Berlin wegen seiner Russlandpolitik in der Kritik; viele Alliierte haben sie als zu lange zu unkritisch empfunden. Dass Deutschland sein Bekenntnis zur Nato praktisch untermauert, ist also eine Frage der Glaubwürdigkeit.
Praktisch erfordert die Neuaufstellung der Nato von Deutschland mehr Truppen in höherer Bereitschaftszeit, die Stärkung von Fähigkeiten der Landes- und Bündnisverteidigung (wie weitreichende Artillerie und Luftraumverteidigung) sowie strukturelle Anpassungen. In ihrem aktuellen Zustand kann die Bundeswehr dies nur unter größten Anstrengungen leisten und muss dafür andere Verpflichtungen reduzieren, etwa die Beiträge, die sie im Rahmen des internationalen Krisenmanagements erbringt, zum Beispiel in den Operationen UNIFIL und IRINI. Um die angestrebte Führungsrolle ausfüllen zu können, muss die Bundeswehr drei Dinge dauerhaft sicherstellen:
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Ausstattung: Um die Bereitschaftszeiten des NFM einzuhalten und die notwendige Flexibilität in der Umsetzung der Nato-Verteidigungsplanung zu gewährleisten, ist eine personelle und materielle Vollausstattung der Truppe erforderlich. Allerdings gelingt es der Bundeswehr seit Jahren nicht, ausreichend und geeignetes Personal zu gewinnen. Materiell war die Bundeswehr zu lange auf Krisenmanagementeinsätze ausgerichtet und hat einen schwerfälligen Rüstungsbeschaffungsprozess etabliert. Hinzu kommt die unzulängliche Versorgung mit und Bevorratung von Munition. Der Beschaffungsprozess muss strukturell und rechtlich reformiert werden, um jenseits von langwierigen Ausschreibungs- und Beschaffungsverfahren sowie Produktfestlegungen kurzfristig das benötigte und marktverfügbare Material beschaffen zu können.
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Einsatzbereitschaft: Um sie zu erhöhen, braucht es strukturelle Reformen. Zum Beispiel muss die Entscheidungshierarchie abgeflacht und den unteren Ebenen mehr Eigenverantwortung übertragen werden. Dadurch kann mehr Flexibilität und eine grundlegende Kaltstartfähigkeit geschaffen werden. »Kaltstartfähigkeit« bedeutet hier, voll ausgerüstete und umfassend ausgebildete Streitkräfte zur Verfügung zu haben, die im Falle einer militärischen Konfrontation kurzfristig abrufbereit und geografisch unabhängig einsetzbar sind. Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr kann verbessert werden, indem Kräfte und Fähigkeiten für Landes- und Bündnisverteidigung vorbestimmt und dafür ausgebildet werden.
Um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr abzusichern, wäre ferner ein umfassendes Reservekonzept hilfreich. Das würde etwa den Bedarf an Sicherungs- und Absicherungsfähigkeiten abdecken, der innerhalb der Bundesrepublik entsteht, sollte ein Konflikt eskalieren und Kräfte aus Tier 3 des NFM abgerufen werden müssen. Für die deutschen Beiträge zur ARF, die permanent unter der Führung der Nato stehen, sollte eine Art Präautorisierung durch den Bundestag erwogen werden. Diese würde sowohl der Nato als auch den deutschen militärischen Führern mehr Handlungssicherheit geben. Diese Art Vorratsbeschluss würde dem SACEUR erlauben, auch in Krisen unter klaren Vorgaben schnell zu reagieren, ihn aber zu einer nachträglichen Genehmigung verpflichten. Es wäre ein pragmatischer Kompromiss, der politische Kontrolle und militärische Schnelligkeit verbindet. -
Finanzierung und politische Unterstützung: Das Sondervermögen über 100 Milliarden Euro, verbunden mit der Zusage, den Verteidigungshaushalt auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) anzuheben, macht es möglich, seit langem bestehende Fähigkeitslücken zu schließen. Dazu gehören zum Beispiel die persönliche Ausstattung der Soldaten, Kommunikationssysteme, das Kampfflugzeug F‑35, das Deutschlands Rolle in der nuklearen Teilhabe sichern soll. Allerdings handelt es sich bei den meisten Beschaffungsprojekten um langfristige, mehrjährige Vorhaben. Entsprechend muss die Finanzierung langfristig gesichert sein. Die Alliierten sind sich weitgehend einig, dass ihre 2014 formulierte Forderung, 2 Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben, lediglich ein Minimum beschreibt (»2 % ist the floor, not the ceiling«).
Hinzu kommt, dass Geld allein die seit langem bekannten Probleme der Bundeswehr nicht lösen kann. Ebenso wichtig sind funktionierende Beschaffungs- und Vergabesysteme, eine Anpassung der Truppenstruktur und klare politische Zielvorgaben. Letztere kann die Nationale Sicherheitsstrategie bieten, die derzeit unter Federführung des Auswärtigen Amtes erarbeitet wird.
Ausblick: Mehr Europa
In Madrid ist es den Alliierten gelungen, trotz großer Differenzen politische Geschlossenheit zu demonstrieren. Das ist auch nötig: Erst wenn die Nato-Staaten politisch überzeugend nach innen und außen vermitteln können, dass sie füreinander einstehen, wird das militärische Beistandsversprechen glaubwürdig. Besonders ermutigend waren die starke politische Unterstützung der USA und die Verstärkung ihrer militärischen Präsenz in Europa. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass erstens weiterhin der Indo-Pazifik in der US-Verteidigungspolitik Priorität genießt, wie die kürzlich verabschiedete Nationale Verteidigungsstrategie belegt. Zweitens wächst durch die innenpolitische Polarisierung in den USA die Wahrscheinlichkeit, dass bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2024 ein Kandidat gewinnt, der vergleichbar mit dem vorherigen Präsidenten Trump wenig Interesse an transatlantischer Kooperation zeigt.
Langfristig müssen sich die Europäer daher auf eine Verteidigung mit immer geringeren US-Beiträgen vorbereiten. Das heißt, sie müssen ihre Nato-Beiträge verbessern und erhöhen, so dass sie zukünftig mindestens 50 Prozent der Nato-Planungen leisten. Eine militärische Verteidigung Europas ohne konventionelle und nukleare Beiträge der USA und deren politische Führung ist in den kommenden 10 bis 15 Jahren unrealistisch. Die Europäer können aber ihre Beiträge sukzessive steigern. Die Beschlüsse von Madrid sind folglich vor allem Hausaufgaben für die Europäer – und insbesondere für die, die wie Deutschland aufgrund ihres wirtschaftlichen und politischen Gewichts die Allianz prägen.
Dr. Claudia Major ist Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Fregattenkapitän Göran Swistek ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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