Russlands Krieg gegen die Ukraine hat bewirkt, dass Kiew von den 27 Staaten der EU rasch und, wie Kritiker meinen, übereilt der Kandidatenstatus zugesprochen wurde. Einstweilen können Beitrittsverhandlungen nur auf einer Nebenbühne vorbereitet werden. Im Zentrum steht das Kriegsgeschehen, dessen Ausgang ungewiss ist. Für die EU heißt das, die Ukraine militärisch wie finanziell zu unterstützen und die internationale Hilfe für den Wiederaufbau mit zu organisieren. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass die EU ihre Beziehungen zur Ukraine nicht allein nach bekanntem Erweiterungsdrehbuch gestalten wird. Sie sollte vielmehr drei Handlungsrahmen aufeinander abstimmen: die künftigen Beitrittsverhandlungen, den laufenden Assoziierungsprozess und mögliche neue Formate wie eine Europäische Politische Gemeinschaft oder einen Europäischen Politik- und Wirtschaftsraum.
Auf seinem historischen Treffen von Brüssel im Juni 2022 hat der Europäische Rat entschieden, den Ländern des »Assoziierten Trios« – Ukraine, Moldau und Georgien – die europäische Perspektive zu eröffnen. Damit löst sich die EU in einem wichtigen Punkt von ihrem Erweiterungskonsens, der seit 2006 galt.
Abschied vom Erweiterungskonsens
Mit dem Brüsseler Beschluss hebt die EU die Konsolidierung auf, also die Begrenzung der Beitrittsversprechen auf die sechs Länder des Westbalkans und die Türkei. Die EU überschreitet damit zugleich den Erweiterungsraum, den sie in den 1990er Jahren mit ihrem Hilfsprogramm PHARE für die Länder Ostmittel- und Südosteuropas abgesteckt hatte. Unter den postsowjetischen Staaten waren nur die drei baltischen Länder in das Programm einbezogen worden, wie später auch in die doppelte Erweiterung von Nato und EU. Ein Grund dafür war, dass die Annexion Litauens, Lettlands und Estlands durch Moskau 1940/41 von den meisten westlichen Staaten auch während des Kalten Krieges offiziell nie anerkannt worden war. Nun bindet sich die EU gegenüber dem Trio in ähnlicher Weise, wie sie es 2003 mit dem politischen Versprechen von Thessaloniki bei den Ländern des Westbalkans tat. Nimmt man die EU beim Wort, dann geht sie in Richtung von 37 und mehr Mitgliedern, wodurch sich »das Gesicht Europas für immer verändern wird« (Bundeskanzler Scholz).
Die EU will jedoch an der strikten Konditionalität, der zweiten Komponente des Erweiterungskonsenses, festhalten. Damit gelten für neue Mitglieder weiterhin die politischen und wirtschaftlichen Kriterien von Kopenhagen sowie die Verpflichtung, zum Stichtag des Beitritts das Primär- und Sekundärrecht der EU vollständig zu übernehmen. Die Aufnahmefähigkeit der EU, das vierte Kriterium, wollen die 27 ebenfalls nicht zur Disposition stellen. Darauf geht die Kommission in ihren Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen mit einem lapidaren Satz ein: Sie werde zu einem späteren Zeitpunkt die Auswirkungen der Beitritte auf die Politiken der EU bewerten. Vor der ersten großen Osterweiterung hatte die Kommission 1997 auf Aufforderung des Rats das Gesamtdokument »Agenda 2000 – Eine stärkere und erweiterte Union« vorgelegt. Für eine solche mehrdimensionale Analyse fehlte jetzt die Zeit und wohl auch die politische Führung. So zeigten die Stellungnahmen von Regierungsvertretern rund um das Treffen des Europäischen Rats im Juni 2022 die bekannten Differenzen, die sich aus der Grundspannung zwischen Erweiterung und Reform bzw. Aufnahmefähigkeit der EU ergeben. Dieser latente Dissens wird auch die nächsten Schritte im Erweiterungsprozess begleiten.
Die dritte Komponente des Erweiterungskonsenses von 2006 betrifft die Kommunikation gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern der EU sowie der Kandidatenländer. Der Krieg hat dazu geführt, dass sich eine Mehrheit der Unionsbürger für eine schnellere Aufnahme neuer Mitglieder ausspricht. Die Zustimmungswerte in traditionell erweiterungsskeptischen Ländern wie Österreich (45 Prozent), Frankreich (47 Prozent), den Niederlanden (46 Prozent) und Deutschland (53 Prozent) liegen weiterhin unter dem EU-Durchschnitt (58 Prozent), aber etwa in Dänemark neuerdings darüber (62 Prozent). Allerdings könnten kriegsbedingte Wohlstandsverluste in Kombination mit steigender Inflation wieder zu mehr Skepsis in der Unionsbevölkerung führen. In den Trio-Ländern gibt es eine sehr große Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft, in der Ukraine hat sie Rekordhöhe.
Die Eurobarometer-Umfragen zur Stimmung in den Westbalkan-Ländern fallen bei den Punkten Vertrauen in die EU und Bild von der EU noch recht positiv aus, obwohl sich auch dort schon seit längerem Enttäuschung über den stockenden Beitrittsprozess breitmacht. In vielen Ländern äußern besonders Regierungen und politische Eliten, dass das Beitrittsversprechen der EU nicht belastbar und die EU selbst unglaubwürdig geworden sei. Dies wirft bereits einen Schatten auf künftige Verhandlungen mit den Trio-Ländern.
Beitrittsverhandlungen: Routinen und Neuerungen
Waren die 27 Regierungen bei der Entscheidung vom Juni noch Getriebene, so könnten sie schon beim Europäischen Rat Mitte Dezember zeigen, dass sie das Sagen über Tempo, Fahrplan und Modalitäten des Erweiterungsprozesses haben. Zu erwarten ist, dass die EU wegen einiger Spezifika und kriegsbedingter Komplikationen Neuerungen in den Ablauf einbauen wird, aber nicht beabsichtigt, die Methodologie grundlegend zu ändern.
Der Europäische Rat anerkennt gemäß seinem Brüsseler Beschluss die europäische Perspektive der Ukraine, Moldaus und Georgiens und sieht die Zukunft dieser Länder in der EU. Dies entspricht in etwa der einstigen Formel von Thessaloniki. Die Ukraine und Moldau erhalten zudem den Status eines Bewerberlandes. Der Rat wird über die weiteren Schritte entscheiden, sobald Kiew die sieben und Chișinău die neun Maßnahmen ergriffen hat, welche die Kommission in ihren Stellungnahmen aufgelistet hat. Sie betreffen vor allem konkrete Forderungen nach Rechtstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz, Korruptionsbekämpfung und Minderheitenschutz. Diese Bedingungen fallen überwiegend in das Themencluster »Wesentliches«, das jene Kapitel des EU-Besitzstandes enthält, die in den Beitrittsverhandlungen zuerst eröffnet und zuletzt geschlossen werden sollen. Der Europäische Rat hat Georgien in Aussicht gestellt, ihm den Bewerberstatus zu gewähren, sobald das Land zwölf als Prioritäten bezeichnete Auflagen umgesetzt haben wird. Gründe für diese Zurücksetzung sind lahmende Reformanstrengungen, eine politische Polarisierung und die schwelende Regierungs- bzw. Verfassungskrise in Georgien.
Stellungnahmen
Der Europäische Rat folgt damit den Empfehlungen, die die Kommission in ihren Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen formuliert hat. Sie enthalten recht allgemeine oder impressionistisch belegte Einschätzungen zur Lage der drei Länder im Lichte der Kopenhagener Beitrittskriterien. Im Fall der Ukraine ist die Vorkriegszeit der Bezugspunkt, während die Einwirkung des Krieges und seine Folgen noch unabsehbar sind.
Fein abgestuft fällt das Kommissionsurteil zur politischen Reife im Hinblick auf die Qualifikation als Kandidat aus: Die Ukraine ist »weit fortgeschritten«, Moldau hat eine »solide Grundlage«, Georgien wiederum eine »Grundlage«, um institutionelle Stabilität zu erreichen. In der Vergangenheit hat der Rat dem Bewerberstatus und der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen bereits zugestimmt, wenn die politischen Kriterien wie bei der Türkei oder Serbien nur »in ausreichendem Maß« oder »hinreichend« erfüllt waren. Dass Beitrittsverhandlungen mittlerweile zehn Jahre und länger dauern, senkt die Risikoschwelle für wechselnde Regierungen in den Mitgliedstaaten und relativiert ihre Verantwortung. Andererseits hat die Kommission etwa 2019 in ihrer Stellungnahme zum Beitrittsantrag von Bosnien-Herzegowina die politischen Kriterien als nicht ausreichend erfüllt angesehen, um Verhandlungen zu eröffnen. Diese Frage stand aber in Bezug auf das Trio noch gar nicht an.
Einer funktionierenden Marktwirtschaft stehen in den drei Ländern die strukturelle Stärke von Oligarchen und deren Netzwerke entgegen. Ebenso fehlt es dafür an einem unabhängigen und effektiven Justizsystem samt Strafverfolgungsbehörden, die etwa gegen eine bis in höchste Kreise verbreitete Korruption und gegen organisierte Kriminalität vorgehen. Auch wegen solcher Defizite und Unsicherheiten fließen Auslandsinvestitionen nur spärlich in die drei Länder. Immerhin attestiert die Kommission, dass die makro-ökonomische Erfolgsbilanz der Ukraine solide und bemerkenswert resilient sei, Moldau ein solides und Georgien ein hohes Maß an makro-ökonomischer Stabilität aufweise.
Die Frage, wie weit sich die drei Länder dem Besitzstand der EU schon angenähert haben, behandelt die Kommission recht kursorisch. Sie kann sich aber auf die Fahrpläne zur Implementierung der umfassenden Assoziierungsabkommen (AA/DCFTA) stützen, die bereits substantielle Teile des Acquis abdecken. Die Verhandlungen werden jedoch einer eigenen Logik folgen. Dafür werden 33 Verhandlungskapitel gemäß der 2020 eingeführten neuen Methodologie in sechs Themencluster aufgeteilt. Die Kommission durchleuchtet für ihre Stellungnahme den Stand der Acquis-Übernahme nicht im Detail, sondern greift Beispiele heraus, nennt Potentiale, Fortschritte und Defizite.
Sie kommt dennoch zu Gesamteinschätzungen, die erwartungsgemäß überall ein gemischtes Bild ergeben und sich zwischen insgesamt zufriedenstellend (Ukraine), zufriedenstellend (Moldau) und insgesamt positiv (Georgien) bewegen. Es bleibt dem Screening-Prozess vorbehalten, mehr Licht in die Implementierungsergebnisse zu bringen. Dieser setzt meist kurz vor der Eröffnung von Verhandlungen ein und zieht sich über viele Monate. Je nach Länge des Verhandlungsprozesses wird das Screening später wieder aufgenommen. Das hängt auch mit dem System des Benchmarkings zusammen, denn für jedes Eröffnen und vorläufige Schließen von Kapiteln werden spezifische Benchmarks vereinbart und geprüft.
Der Rat dürfte frühestens im nächsten Jahr bewerten, inwieweit die drei Länder die geforderten Schritte bzw. Prioritäten erfüllt haben. Darüber hinaus müsste die Kommission dann Stellung dazu nehmen, welche spezifischen Voraussetzungen in den Ländern noch zu erfüllen sind, damit sie die Eröffnung von Verhandlungen empfehlen kann. Der Rat wartet vor allem das Votum des Europäischen Rats ab, der eine solche Richtungsentscheidung für sich reserviert. Somit haben die EU-Organe Spielraum, um im Lichte der Kriegsdynamik, der geopolitischen Gesamtkonstellation und der innenpolitischen Lage in den drei Ländern zu agieren.
Verhandlungsrahmen
Auf Vorschlag der Kommission wird der Rat für jede Beitrittsverhandlung einen eigenen Verhandlungsrahmen beschließen. Dieser zeigt, dass die Mitgliedstaaten im Prozess die Hoheit haben und Beitrittskonferenzen mit den Bewerbern im Kern Regierungskonferenzen sind – auch wenn das Operative bei der Kommission liegt, die dadurch allerdings selbst in eine Schlüsselstellung drängt. Deutlich wurde bereits, dass die Kommission beträchtlichen Einfluss darauf hat, wie schnell die Trio-Länder in die Erweiterungspolitik der EU eingespurt werden. Kommission und Europäisches Parlament nehmen seit langem eine dezidiert erweiterungsfreundliche Position ein.
Im Verhandlungsrahmen werden typischerweise zuerst die Prinzipien festgelegt – das sind hauptsächlich die primärrechtlichen Bestimmungen und Beitrittskriterien, der Rekurs auf Schlussfolgerungen des Europäischen Rats mit Forderungen oder Erwartungen an den Bewerber, Regeln für die Suspendierung der Verhandlungen sowie Hinweise auf Prozesse, die parallel zu den Verhandlungen laufen (etwa zwischen der EU und den Zivilgesellschaften des Landes). Weitere Vorgaben betreffen die Substanz von Verhandlungen. Hier kann die EU beispielsweise ihre eigenen Interessen hinsichtlich Art und Dauer von Übergangsregelungen festlegen, was traditionell die Personenfreizügigkeit und die abgestufte Integration in die kostenträchtige Gemeinsame Agrar- und Strukturpolitik betrifft. Die EU machte so in der Vergangenheit aus einer überlegenen Verhandlungsmacht heraus klar, dass sie ihre Interessen schützen will und die andere Seite sich auf (lange) Übergangsregelungen einstellen muss. In einem weiteren Teil wird das Verhandlungsverfahren dargelegt, das der neuen Methodologie folgen wird. Es ist kaum zu erwarten, dass die Mitgliedstaaten in diesem Kontext ihren Willen bekunden, bilaterale Streitigkeiten mit Bewerberländern nicht innerhalb von Beitrittsverhandlungen auszutragen. Wichtig wäre jedoch, dass der Rat die gegenteilige Praxis ausdrücklich als unionsschädliches Verhalten betrachtet.
Der Verhandlungsrahmen ist demnach ein politisches Dokument der Mitgliedstaaten, mit dem sie sich darauf einigen, worüber und wie sie verhandeln wollen. Dabei können sie auch gleich ein paar politische Pflöcke einschlagen. Möglich wäre etwa, Verbindungen zum parallel laufenden Assoziierungsprozess und zu neuen Formaten wie etwa einer Europäischen Politischen Gemeinschaft zu schaffen. Beides könnte für eine abgestufte Aufnahme in die EU genutzt werden – sei es im Sinne einer faktischen Integration unterhalb der Schwelle zur Mitgliedschaft oder eines völlig neuen Sonderstatus der EU-Teilmitgliedschaft.
Assoziierungsprozess und Unterstützung
Die Assoziierungsabkommen mit den Trio-Ländern sind sehr viel stärker auf die Integration in den EU-Binnenmarkt ausgerichtet als die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit den Ländern des Westbalkans, die im Wesentlichen klassische Freihandelsabkommen sind. Mit der Ukraine, Georgien und Moldau hat die EU vertiefte und umfassende Freihandelszonen (AA/DCFTA) vereinbart, die über den Abbau von Zöllen und nichttarifären Hemmnissen hinaus die schrittweise Übernahme der Vier Freiheiten und sektorale Regulierungen bzw. Kooperation einschließen. Letzteres betrifft Energie, makro-ökonomische Zusammenarbeit, Umwelt, Verkehr, Industrie- und Unternehmenspolitik, Bergbau, Fischerei, Finanzdienstleistungen, Wissenschaft und Technologie. Die regelmäßig erstellten Implementierungsberichte der Kommission zeigen neben den Schwierigkeiten im Bereich gute Verwaltung und Regierung, Justizwesen und Stärkung von Institutionen, dass die Verpflichtungen bislang nur lückenhaft umgesetzt sind. Es ist sehr hoch gegriffen oder missverständlich, wenn Kommissionspräsidentin von der Leyen behauptet, die Ukraine habe bereits 70 Prozent des Acquis umgesetzt.
Tabelle Das Assoziierte Trio: Erhaltene EU-Förderung in Darlehen und Zuschüssen (2014–2021)
EBWE: Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung; EFF: Europäische Friedensfazilität; EIB: Europäische Investitionsbank; ENI: Europäisches Nachbarschaftsinstrument; MFH: Makrofinanzhilfe. Quelle: eigene Darstellung nach Stellungnahmen der Europäischen Kommission zu den Beitrittsanträgen der Ukraine, Moldaus und Georgiens vom 17.6.2022; Einwohnerzahlen nach CIA World Factbook (Schätzungen für 2022). |
Eine in ihrer Tragweite noch unabsehbare Komplikation besteht darin, dass die staatliche Kontrolle in der Ukraine, Georgien und Moldau nicht das gesamte Staatsgebiet abdeckt und sich dies bis auf weiteres wohl nicht ändern wird. Zwar hat die EU mit Zypern bereits ein Mitglied mit einem abgetrennten De-facto-Staat in ihren Reihen. Aber angesichts der Insellage, der Mächtekonstellation und der sicherheitspolitischen Gegebenheiten ist dieser Fall deutlich entspannter, vergleicht man ihn mit den jeweils unterschiedlich geprägten Konfliktgebieten in der Ukraine (zumindest Krim und Donbass), in Georgien (Abchasien und Südossetien) sowie Moldau (Transnistrien und Gagausien). Pragmatische Lösungen konnten für die Implementierung der AA/DCFTA gefunden wurden, aber eine partielle Umsetzung des EU-Acquis nach dem Beitritt dürfte deutlich komplizierter sein. Vor allem aber bilden diese Konflikte permanente Ansatzpunkte für Russland, um in den künftigen EU-Ländern zu intervenieren und Druck auszuüben, worauf dann die gesamte Union reagieren muss.
Im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) hat die EU über Jahre mit dem Instrument ENI (neuerdings NDICI) die Ukraine, Georgien und Moldau finanziell unterstützt (siehe Tabelle). Nach der Krim-Annexion 2014 stockte die EU die Mittel erheblich auf; sie hat zur makro-ökonomischen Abstützung und Reform von Politiksektoren beigetragen und sich zentral darum bemüht, die Institutionen der in ihrer Souveränität bedrohten Ukraine zu stärken. Zur Koordinierung der Hilfe setzte die EU eine spezielle Unterstützungsgruppe (SGUA) ein, die nicht mehr einzelne Projekte und Programme, sondern sektorbezogene Reformpakete und den Institutionenaufbau förderte. Mit dem Spurwechsel von der ENP zur Erweiterungspolitik können die Bewerberländer eine erheblich höhere Mittelzuweisung erwarten. So können die sechs Westbalkan-Länder bei einer Bevölkerung von etwa 18 Millionen Menschen mit rund 9,2 Milliarden Euro (IPA III) im Zeitraum 2021–2027 rechnen. Die Bevölkerungszahl des Assoziierten Trios summiert sich dagegen auf fast 52 Millionen Menschen.
Der Krieg hat inzwischen zu einer außerordentlich massiven Hilfeleistung für die Ukraine und auch Moldau geführt. Seit Russlands Angriff im Februar unterstützte die EU die Ukraine mit 12,82 Milliarden Euro an Finanzhilfen, darunter 2 Milliarden Euro über die EIB, 1,42 Milliarden Euro an humanitärer Hilfe und 2,5 Milliarden Euro an Militärhilfe über die EFF. Die Leistungen für Moldau setzen sich zusammen aus 52 Millionen Euro Resilienz- und Wiederaufbauhilfe, 53 Millionen Euro Budgethilfe, 150 Millionen Euro Makrofinanzhilfe, 13 Millionen Euro humanitäre Hilfe, 40 Millionen Euro an Militärhilfe über die EFF, 15 Millionen Euro Unterstützung für die Aufnahme von Geflüchteten, 15 Millionen Euro zur Unterstützung des Grenzschutzes (EUBAM) und ein Darlehen von 150 Millionen Euro über die EIB für den Anschluss an das transeuropäische Kernnetz.
Für die EU ist es eine massive Herausforderung, die großen Summen für den Wiederaufbau zu mobilisieren, sie mit anderen Gebern zu koordinieren und eine sachgemäße wie effektive Verwendung zu gewährleisten. Dies war – allerdings in einer hellen Aufbruchsstimmung – auch nach 1989 der Fall, als die EU es übernahm, die internationale Hilfe für die marktwirtschaftliche Transformation in Ostmitteleuropa abzustimmen. Beginnend mit Polen und Ungarn hatte das PHARE-Programm in der ersten Phase zwischen 1990 und 1998 ein Volumen von knapp 9 Milliarden Euro (Verpflichtungen) für 13 Länder einschließlich plurilateraler und horizontaler Programme.
Für die Ukraine-Wiederaufbauhilfe werden sich internationale Finanzinstitutionen und Geberländer auf eine Governance verständigen müssen, bei der die EU gegebenenfalls die Koordination übernimmt. Die Kommission hat bereits eine Wiederaufbau-Plattform geschaffen, um die Investitionsbedarfe, Ressourcen und Maßnahmen überblicken und abstimmen zu können. Auf der Ukraine Recovery Conference, die Anfang Juli in Lugano stattfand, waren 42 Regierungen vertreten sowie EBRD, Kommission, EIB, OECD und Europarat. Das dürfte auch der Kreis sein, in dem die Wiederaufbauhilfe gemäß den in Lugano verkündeten sieben Prinzipien geplant werden muss. Die Steuerung der internationalen Hilfe soll bei der Ukraine liegen. Die internationalen Partner werden bei der Umsetzung auf Transparenz, Zurechenbarkeit und Rechtsstaatlichkeit achten, also Missstände wie Großkorruption, Veruntreuung öffentlicher Gelder und Geldwäsche im Blick haben, die aus der Vorkriegszeit bekannt sind. Ob sich insbesondere die ukrainischen Eliten in diesen Fragen neu aufstellen, wird entscheidend sein. Auf der Konferenz nannte die Kiewer Regierung eine Größenordnung von 720 Milliarden Euro für den Wiederaufbau; doch steigen die Summen mit jedem Tag, an dem der Krieg weitere Zerstörung bringt. In Lugano haben die Teilnehmer nicht konkretisiert, an welche Konditionen sie die Mittelvergabe knüpfen wollen. Die EU müsste dies für ihre Beiträge jedoch tun. Schon jetzt ist unter den Mitgliedstaaten die Art der Vergabe (Zuschüsse oder Kredite) strittig. Zu entscheiden ist auch, ob für Wiederaufbau und Beitrittsvorbereitung zwei Töpfe mit unterschiedlichen Konditionalitäten eingerichtet werden oder eine Förderung aus einem Guss administrativ und politisch vorzuziehen wäre.
Östliche Partnerschaft obsolet?
Seit 2009 sind die Trio-Länder auch Teil der Östlichen Partnerschaft (ÖP) der EU, die Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, die Ukraine und potentiell Belarus umfasst. Die ÖP war auf polnisch-schwedische Initiative unter dem Eindruck des Georgienkriegs von 2008 und der sich zuspitzenden geopolitischen Konkurrenz zwischen Moskau und Brüssel im postsowjetischen Raum lanciert worden. Bilaterale Abkommen mit der EU bilden das Rückgrat der ÖP, doch hat sie auch eine multilaterale Dimension. Die drei Vorreiterländer, also jene mit einem AA/DCFTA, schlossen sich im Mai 2021 zum Assoziierten Trio zusammen und setzten sich so selbst vom Rest ab. Indem sie ihnen den (potentiellen) Kandidatenstatus gewährt, vollzieht die EU diesen Schritt nach, ohne die multilaterale Klammer schon völlig aufgegeben zu haben. Keineswegs obsolet ist jedenfalls die transversale und transnationale Logik der ÖP-Plattformen in den Bereichen (1) gute Regierungsführung, (2) wirtschaftliche Entwicklung, (3) Konnektivität, Energieeffizienz, Umwelt und Klimawandel sowie (4) Mobilität und zivilgesellschaftliche Kontakte. Aber das politische Momentum fehlt. Andere multilaterale Formate verdrängen die ÖP nicht zwingend, sie müsste allerdings an die neuen Kontexte von Krieg und Erweiterungspolitik angepasst werden.
Neue Formate, Zwischenstadien
Frankreich hat mit dem Vorschlag einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) ein neues Spielfeld eröffnet. Der Europäische Rat hat sich dem nicht verweigern können und der tschechischen Präsidentschaft eine vage Skizze an die Hand gegeben, wie ein erstes Treffen des Formats ausgerichtet sein könnte.
Die EPG soll demnach eine Plattform für politische Koordinierung unter allen Ländern des Kontinents sein, zu denen die EU enge Beziehungen unterhält, was Russland und Belarus derzeit ausschließt. Es geht um politischen Dialog und Zusammenarbeit bei den Themen Sicherheit, Stabilität und Wohlstand – in einer inklusiven »Gruppe Europa«, die sich über gemeinsame Herausforderungen und Grundlinien für ihr jeweiliges Handeln austauschen will. Der ursprüngliche Vorschlag von Präsident Macron war zwar unbestimmt, ließ aber doch konkretere Verbindungen zu den Beitrittsprozessen vermuten. Er konnte so gedeutet werden, dass die EU damit ein Zwischenstadium auf dem Weg zur Mitgliedschaft schaffen will. Die 27 haben im Europäischen Rat ausführlich über eine EPG diskutiert, sich dabei aber vor allem auf deren Grenzen verständigt. Sie soll kein Ersatz für die Erweiterung der EU sein, und sie darf deren Autonomie in der Beschlussfassung in keiner Weise einschränken. Letzteres erinnert an die Grenzziehung des Europäischen Gerichtshofs in den Planungen für den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) und dessen Organe. Die jetzige Erweiterung des Spielfelds bietet dem »Team Erweiterung« wie dem »Team Vertiefung« unter den Mitgliedstaaten und Organen viele Möglichkeiten, ihre jeweilige Agenda voranzutreiben. Auch hier drängen sich Vorläufer auf – so die von Präsident Mitterrand 1991 vorgeschlagene Europäische Konföderation, die noch unter den Vorzeichen der Charta von Paris für ein neues Europa und einer geplanten Einbindung der UdSSR bzw. Russlands stand. Ähnlich wie heute Macron meinte Mitterrand, die nächste Erweiterung benötige noch Jahrzehnte.
1998 schuf die EU eine Europa-Konferenz, zu der sie alle Länder einlud, die der Union beitreten wollten. Die demonstrative politische Inklusivität dieses Formats sollte die leistungsorientierte Selektivität des Beitrittsprozesses abmildern. Die Europa-Konferenz blieb jedoch eine Episode, weil sie – ebenso wie der »strukturierte Dialog« über Sektorpolitiken – den Teilnehmerstaaten wenig zusätzlichen Nutzen versprach. Diese konzentrierten sich ganz auf die Verhandlungsprozesse und kamen dort auch relativ schnell voran. Es ist anzunehmen, dass das Trio in ähnlicher Weise alles auf diese Karte setzen wird. Die Kommissionspräsidentin und einige Regierungschefs haben sich rhetorisch schon stark auf eine geopolitische und moralische Argumentation festgelegt, die auf eine schnelle Not-Erweiterung hinauslaufen könnte. Das hätte freilich eine Internalisierung aller Risiken und skizzierten Problemkomplexe in die EU zur Folge.
Das Szenario für das Trio könnte jedoch anders aussehen, als dies bei den Ostmitteleuropäern in den 1990er Jahren der Fall war. Einen Unterschied macht das Interesse der drei Staaten wie der EU, sich außen- und sicherheitspolitisch eng abzustimmen und gegenüber dem Widersacher Russland geschlossen aufzutreten. Ein neuer Faktor ist ebenso, dass diese Länder, allen voran die Ukraine, Sicherheitsgarantien benötigen, welche die EU allein nicht geben kann und die Nato nicht geben will. Von daher sollte die EU überlegen, ob sie für die EPG ein außen- und sicherheitspolitisches Profil im Vorhof von Nato und EU entwickeln will. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es durchaus sinnvoll, das Vereinigte Königreich und auch die Türkei einzubeziehen.
Eine enger an den Assoziierungsprozess gekoppelte Möglichkeit wäre, dass die EU mit dem Trio gemeinsam einen Europäischen Politik- und Wirtschaftsraum (EPWR) nach Vorbild des EWR bildet. Der EPWR wäre eine provisorische oder dauerhafte Einrichtung und gäbe dem Trio einen privilegierten Status. Dieser bliebe zwar unterhalb einer Mitgliedschaft. Doch durch eine abgestufte Übernahme des Binnenmarkt-Acquis, die Einbeziehung von binnenmarkt-flankierenden Politiken, die Transfers aus dem EU-Haushalt und die Öffnung von EU-Programmen hätte er ein umfassenderes und explizit politischeres Integrationsprofil als der EWR. Die Vorteile wären, dass Zeit gewonnen würde, um den Beitritt bzw. die Aufnahme auf beiden Seiten vorzubereiten, dass mehr Möglichkeiten für interessengeleitete flexible Regelungen bestünden, als es die nichtverhandelbaren Anforderungen einer Mitgliedschaft erlauben, und dass sich Frustrationen somit kleinhalten ließen. Die EPG will Schutz und Resilienz bieten. Dafür benötigt sie aber einen operativen Unterbau, den wiederum der EPWR bieten könnte. Ein EPWR oder ein anderes Zwischenstadium wäre ein Sicherheitsnetz für alle Fälle. Denn die Aufnahme in die EU ist erst abgeschlossen, wenn alle Mitgliedstaaten den Beitrittsvertrag ratifiziert haben. Der Beitritt fällt weder unter die GASP noch die Passerelle-Klausel. Der Beitrittsartikel 49 EUV statuiert die Einstimmigkeit, weil die Aufnahme neuer Mitglieder die Konstitution der EU insgesamt betrifft.
Ausblick: Reformhebel und Absorptionskraft der EU
Die EU muss sich mit zwei Schlüsselfragen auseinandersetzen, wenn sie eine gegenüber den Unionsbürgern verantwortungsvolle Erweiterungspolitik betreiben will: Welche Reformhebel hat sie gegenüber den Bewerberländern, und wie steht es um die eigene Aufnahmefähigkeit? Was den Einfluss auf Reformen angeht, fällt die Bilanz der letzten Jahre für die Westbalkan-Staaten trotz deren Mitgliedschaftsperspektive negativ aus. Und die EU hat zwar in der Polykrise ebenso zusammengehalten wie nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Doch die Grundüberzeugungen zur Integration, die wirtschaftliche Leistungskraft sowie politische Präferenzen und Spielräume driften in den 27 Mitgliedstaaten auseinander, was die gemeinsamen Regelwerke – siehe Stabilitäts- und Wachstumspakt, NextGenerationEU – schon heute erheblich strapaziert.
Wenn die EU sich in kontinentalem Maßstab ausdehnt und viele kleine Staaten aufnimmt, die eine schwache demokratische Verfassung und unsichere Grenzen haben, so riskiert sie als ein staatenabhängiges System zumindest ihre Funktionsfähigkeit. Diese beruht auf der legitimen Rechtsetzung durch EU-Organe, der Rechtstreue demokratischer Mitgliedstaaten im Mehrebenensystem und gemeinsamen politischen Zielen. In ihrer janusköpfigen supra- und intergouvernementalen Regierungsweise ist die EU ein einzigartiges politisches Projekt. Die nächste Erweiterung kann zu ihrer Sollbruchstelle werden. Spätestens dann muss sie sich konstitutionell neu ordnen. Eine EU konzentrischer Kreise oder überlappender Räume unterschiedlicher Integrationstiefen dürfte dann noch komplexer und experimenteller ausfallen.
Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP und Mitglied der Institutsleitung.
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DOI: 10.18449/2022A48