Das kürzlich abgehaltene Außenministertreffen der G20-Staaten in Indonesien stand, nicht zuletzt wegen des Verhaltens von Moskaus Vertreter Sergej Lawrow, ganz im Zeichen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Dies zeigte sich auch an der komplizierten Position, die das G20-Gastgeberland im Umgang mit der Krisensituation einnimmt. Indonesien hat zwar im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) im März ein Ende der russischen Invasion gefordert, danach aber weder Sanktionen gegen Moskau mitgetragen noch Russland vom G20-Gipfel ausgeladen. Zuletzt besuchte Indonesiens Präsident Joko Widodo als erster asiatischer Regierungschef seit Beginn des Krieges sowohl Kiew als auch Moskau. Während sich Jakarta aus Sicht westlicher Kritiker damit zwischen alle Stühle setzt, ist diese Haltung im Inneren populär und entspricht zudem tradierten Prinzipien indonesischer Außenpolitik. Ein Kurswechsel Jakartas im Hinblick auf den G20-Gipfel im November ist daher unwahrscheinlich.
Für die G7 Staaten wäre aber gerade eine Richtungsänderung Indonesiens ein erstrebenswertes Signal im Konflikt mit Russland (und China). Indonesien ist von der Bevölkerung her der größte muslimische Staat und die drittgrößte Demokratie der Welt. Es ist Mitbegründer der blockfreien Bewegung und verfügt als regionales Schwergewicht in Südostasien durchaus über außenpolitischen Einfluss. Präsident Joko »Jokowi« Widodo widersetzte sich jedoch bislang allem westlichen Drängen, Wladimir Putin vom G20-Gipfel im November 2022 auf Bali auszuladen; zur Überraschung vieler lud er im April aber auch den ukrainischen Präsidenten Selenskyj zu dem Treffen ein. Aus seiner Sicht agiert er damit im Einklang mit Indonesiens Tradition der Neutralität und Blockfreiheit und der verfassungsrechtlich verankerten Pflicht zum Einsatz für den Frieden. Jokowi reiste zudem jüngst sowohl nach Kiew als auch nach Moskau, um angesichts der humanitären Notlage in der Ukraine und der sich anbahnenden globalen Ernährungskrise für ein Ende des Krieges zu werben und Indonesien als möglichen Vermittler zwischen beiden Parteien ins Gespräch zu bringen. Jokowi, der im Zuge dessen auch das vom Krieg zerstörte Irpin besuchte, bezeichnete seine Reise gar als Mission für den Frieden und übergab in Moskau nach eigenen Angaben eine Botschaft Selenskyjs an Putin. Ziel des indonesischen Staatspräsidenten war es, einen Dialog zwischen den Kriegsparteien herzustellen und Grundlagen für einen baldigen Waffenstillstand zu schaffen. Im Land selbst wurde die Reise Jokowis äußerst positiv aufgenommen; einige prominente indonesische Persönlichkeiten forderten gar den Friedensnobelpreis für den Präsidenten.
Die indonesische Führung handelt aus unterschiedlichen Motiven heraus. Sie will sich vor dem G20-Gipfel im eigenen Land unter anderem als Friedensstifter und fähiger Vermittler profilieren. Einer der Hauptgründe für die diplomatischen Bemühungen sind aber die Sorgen Jakartas über teure Nahrungsmittelimporte und Preissteigerungen auf dem Energiemarkt. Höhere Lebensmittelpreise, insbesondere beim Speiseöl, die vorübergehend Rekordniveau erreichten, hatten Jokowis Zustimmungswerte in den vergangenen Monaten zwischenzeitlich auf ein Allzeittief fallen lassen. Infolge struktureller Reformen und einer Reihe von Marktinterventionen sanken die Speiseölpreise im Land zwar wieder, doch die Marktturbulenzen haben Indonesiens Vulnerabilität im Hinblick auf mögliche weitere Auswirkungen der drohenden globalen Nahrungsmittelkrise offenbart.
In den vergangenen Jahren haben sowohl klima- als auch pandemiebedingte Ernteausfälle und Lieferkettenprobleme weltweit für Engpässe und Preissteigerungen bei Lebensmitteln gesorgt. Der russische Angriffskrieg und die steigende Inflation haben diesen Trend nun exponentiell verschärft, was Indonesien, das als weltgrößter Getreideimporteur etwa 25 Prozent seines Bedarfs mit Importen aus der Ukraine deckt, schwer zusetzt. Zusätzlich belastet der starke Anstieg der Energiepreise auf dem Weltmarkt den wegen der Gesundheitskrise ohnehin schon gebeutelten Staatshaushalt, denn Benzin und Diesel werden in Indonesien stark subventioniert.
Dass die Reise Jokowis nach Moskau diesbezüglich wenig konkrete Ergebnisse brachte, hat der innenpolitischen Popularität des Unterfangens keinen Abbruch getan, zumal Putin zumindest seine Bereitschaft zur Versorgung »freundlicher Staaten« erklärte, was in Indonesien durchaus als Erfolg gewertet wurde.
Wahrnehmung des Krieges in Indonesien
Tatsächlich dominiert in weiten Teilen Südostasiens – und so auch in der indonesischen Bevölkerung – überwiegend die russische bzw. chinesische Lesart des Konflikts. Demnach sind die USA bzw. die Nato Verursacher des Krieges und Russland wird zum Opfer des westlichen Imperialismus stilisiert. Auch lehnt die Mehrheit der Indonesier laut Umfragen Sanktionen gegen Russland ab. Hinter dieser Haltung verbergen sich zum einen generelle antiwestliche Ressentiments, die in Indonesien im Gefolge des US-geführten »Krieges gegen den Terrorismus« entstanden sind. Denn dieser wird in weiten Teilen des Inselstaats als »Krieg gegen Muslime« gedeutet. Zudem fällt russische Propaganda auch auf einen äußerst fruchtbaren Boden, weil es medial kaum ein Korrektiv gibt. Nachrichten und politische Analysen rezipiert der Großteil der indonesischen Bevölkerung primär über soziale Netzwerke wie Facebook, TikTok, Twitter und Instagram. Hier dominiert, aktiv befeuert vor allem von russischer und chinesischer Seite, seit März 2022 ein dezidiert antiwestlicher, prorussischer Diskurs.
Auch die traditionell einflussreichen muslimischen zivilgesellschaftlichen Gruppen, die Ende 2016 noch zu Demonstrationen gegen die als »anti-muslimisch« gebrandmarkte russische Militärintervention in Syrien aufgerufen hatten, haben Russlands Invasion in der Ukraine bisher nicht verurteilt. Im Gegenteil, in entsprechenden Foren werden mit heroisierendem Impetus Videos von muslimischen Kämpfern aus Tschetschenien verbreitet, die auf russischer Seite am Krieg teilnehmen. In diese Kerbe schlug auch Putin, als er während Jokowis Besuch die Reise einer muslimischen Delegation Russlands nach Jakarta erwähnte.
Indonesiens Außenpolitik und der Krieg in der Ukraine: Zwischen Riffen segeln
Es war Moskau und nicht Kiew, wo Jokowi seine Hoffnung auf eine Wiederherstellung der globalen Nahrungsmittelversorgung zum Ausdruck brachte. Dieses Herausstellen der russischen Schlüsselverantwortung für die Sicherheit der Lebensmittellieferketten kann durchaus als Signal gewertet werden, dass die Regierung in Jakarta das von Putin propagierte russische Narrativ, der Westen trage die alleinige Schuld an der (Nahrungsmittel-)Krise, nicht teilt. Tatsächlich hatte sich Indonesien bereits im März den beiden Resolutionen der UN-Generalversammlung angeschlossen, in denen eine Mehrheit der Staaten den russischen Angriff auf die Ukraine verurteilt, den sofortigen Abzug der Invasionstruppen gefordert und die humanitäre Lage als dramatisch deklariert hatte. Bei der folgenden Abstimmung zum Ausschluss Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat enthielt sich Jakarta jedoch mit der Begründung, keine negativen Präzedenzfälle schaffen zu wollen, die der Glaubwürdigkeit der Generalversammlung schaden könnten. Stattdessen unterstütze man den Vorschlag des UN-Generalsekretärs, eine unabhängige Untersuchungskommission einzusetzen. Desgleichen schloss man sich nicht den westlichen Sanktionen gegen Russland an.
Dieses ambivalente Verhalten der indonesischen Regierung ist zum einen strategischen Interessen, wie dem Zugang zu Nahrungs- und Düngemitteln und Technologie (sowie in geringerem Maße auch Rüstungsgütern) aus Russland geschuldet. Zwar verzichtet Indonesien bisher darauf, russisches Öl zu kaufen, doch profitiert die indonesische Wirtschaft durchaus von guten bilateralen Beziehungen mit Russland. So hat sich Jokowi zum Ziel gesetzt, höhere Wertschöpfung durch industrielles »Downstreaming« im eigenen Land zu kreieren, was bedeutet, dass der Inselstaat Rohstoffe künftig nicht mehr nur exportieren, sondern selbst verarbeiten und dann teurer weiterverkaufen will. Russische Investitionen und russisches Know-how, unter anderem im petrochemischen Sektor, sind dabei von großem Wert. Entsprechende Projekte sind derzeit bereits in Planung. Zusätzlich sucht Jokowi aktiv nach Investoren für den Bau seines Megaprojekts, der neuen Hauptstadt Nusantara. Während des jüngsten Treffens bot Putin unter anderem die Unterstützung der staatlichen Russian Railways bei dem Vorhaben an und stellte zudem eine Kooperation im Bereich der Produktion von Kernenergie in Aussicht.
Darüber hinaus ist Russland nach wie vor ein etablierter Dialogpartner in den verschiedenen internationalen Foren der ASEAN (Association of Southeast Asian Nations), auch in jenen, die sich mit der Sicherheitspolitik in der Region befassen, wie zum Beispiel dem ASEAN Defence Minister’s Meeting-Plus (ADMM+).
Betrachtet man die von Indonesien vielfach postulierten Werte und Prinzipien, mag die mangelnde Verurteilung Russlands durch Jakarta auf den ersten Blick verwundern. Zusätzlich zur verfassungsmäßig festgeschriebenen Pflicht zum Einsatz für den Frieden ist Indonesien Mitglied der ASEAN, deren Charta, welche Indonesien maßgeblich mitgestaltet hat, nicht nur friedliche Konfliktlösung und die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten festschreibt, sondern auch staatliche Souveränität und territoriale Integrität als sakrosankt erachtet. Diesen Bekenntnissen zum Trotz blieb sowohl die Rhetorik Jakartas als auch die der ASEAN äußerst verhalten. So benannten die ASEAN-Mitglieder in ihrer offiziellen gemeinsamen Erklärung nicht einmal Russland als Aggressor und riefen lediglich allgemein zur Beendigung der Kampfhandlungen auf. Allerdings entspricht das Verhalten Indonesiens tradierten außenpolitischen Denkmustern der Neutralität, der Blockfreiheit und der strategischen Autonomie.
Paradigmatisch für diese außenpolitische Richtlinie ist das Bebas-dan-Aktif-Prinzip. Dieses postuliert eine unabhängige und aktive indonesische Außenpolitik. »Unabhängig« bedeutet in diesem Kontext, dass Indonesien seinen Part in der internationalen Politik frei von der Einflussnahme externer Mächte und unter Aufrechterhaltung seiner nationalen Souveränität ausübt. Seit der Unabhängigkeit von den Niederlanden im Jahr 1949 ist das Bebas-dan-Aktif-Prinzip fester Bestandteil des außenpolitischen Selbstverständnisses Indonesiens. Die zentrale Rolle des Inselstaats bei der Gründung der Bewegung der Blockfreien Staaten während des Kalten Krieges und das Bestreben, eine Äquidistanz zwischen konkurrierenden Großmächten zu wahren – heute insbesondere zwischen China und den USA–, sind eine Manifestation dieser Grundeinstellung.
Entsprechend verhält sich Jakarta bisher auch im Ukraine-Konflikt. Die Jokowi-Regierung hat bisher weder offen prowestliche noch prorussische Töne angeschlagen. Somit fügt sich der derzeitige Umgang der indonesischen Führung mit der Krise nahtlos in die außenpolitischen Traditionslinien des Landes ein. Während diese Haltung innenpolitisch populär ist, wird sie von Kritikern in den USA und Europa, die sich einen klareren Kurs Jakartas wünschen, als »auf dem Zaun sitzen« bzw. »zwischen allen Stühlen sitzend« bezeichnet. Wie jedoch die indonesische Redewendung mendayung antara dua karang (zwischen zwei Riffen segeln) suggeriert, laufen nur diejenigen, die keinen klaren Kurs haben, Gefahr, auf ein Riff (verstanden als eine Großmacht) aufzulaufen und dabei die eigene nationale Souveränität zu verlieren.
Wie weiter mit dem G20-Gipfel?
Aus Sicht Jakartas ist die Abhaltung des G20-Außenministertreffens auf Bali unter Anwesenheit aller Beteiligten, inklusive Russlands, ein erster Erfolg der indonesischen G20-Präsidentschaft. Präsident Jokowi hat damit ein wichtiges Ziel erreicht: Indonesiens Rolle in der internationalen Politik zu stärken, ohne die eigene Neutralität aufzugeben. Ein denkbares Scheitern des G20-Meetings durch ein Fernbleiben der G7-Staaten ist zumindest vorläufig abgewendet. Nunmehr liegt das primäre Augenmerk Jakartas auf einer erfolgreichen Durchführung des G20-Gipfels im November. Diesbezüglich hat die indonesische Regierung bereits erklärt, das Treffen nicht zu einem »Ukraine-Konflikt-Gipfel« machen zu wollen; man gedenke, an der ursprünglichen Agenda festzuhalten. Diese steht unter dem Motto »Recover Together, Recover Stronger« und soll sich primär dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wiederaufbau nach der Covid-19-Pandemie widmen. Mit Blick auf die hierbei genannten Hauptthemen »Globale Gesundheitsarchitektur«, »Digitale Transformation« und »Nachhaltige Energie-Transition« versucht Indonesien vor allem von den G7-Staaten und China Zusagen für Investitionen, Finanzhilfen und Technologietransfer zu erhalten. Indonesien sieht seine Rolle in der G20 immer auch als Anwalt der Entwicklungs- und Schwellenländer, die sowohl von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie als auch von den Auswirkungen der russischen Invasion in der Ukraine auf die Lebenshaltungskosten besonders hart getroffen worden sind.
Indonesien selbst ist eines der Länder in der Region Südostasien, die von Covid-19 am stärksten in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Insbesondere während der Delta-Welle haben hohe Ansteckungs- und Todesraten und lange Lockdowns zu schweren wirtschaftlichen Einbrüchen geführt. In der Folge nahmen Armut und Mangelernährung landesweit zu. Und auch die ökonomischen Kollateralschäden des Krieges in der Ukraine sind für Indonesien bereits beträchtlich. Die gestiegenen Energie- und Nahrungsmittelpreise und die Abschwächung der weltweiten Nachfrage treffen eine Volkswirtschaft, die ohnehin mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise und strukturellen Problemen, unter anderem mit einem starken regionalen Entwicklungsgefälle, einer maroden Infrastruktur, einer wachsenden Staatsverschuldung und der Abwertung der Rupiah, zu kämpfen hat.
Als Präsident, für den die wirtschaftliche Weiterentwicklung Indonesiens oberste Priorität besitzt, ist Jokowi sehr daran gelegen, ebendiese Agenda auf dem G20-Gipfel weitgehend unabhängig von den Entwicklungen in der Ukraine weiter zu verfolgen. Die Erwartung Jakartas ist es denn auch, dass alle G20-Mitglieder konstruktiv an einer globalen Strategie für einen Post-Covid-Wiederaufschwung mitarbeiten. Unter anderem durch seine Reise nach Kiew und Moskau hat Jokowi gezeigt, dass seine Regierung bereit ist, dafür diplomatisch aktiv zu werden. Der westlichen Erwartung, eine russlandkritischere Haltung einzunehmen – wenn nicht durch eine Änderung der offiziellen G20-Agenda, dann zumindest durch entsprechende Aktivitäten am Rande des Gipfels – dürfte sich die Jokowi-Regierung aus den genannten Eigeninteressen heraus weiter verweigern.
Allerdings hat das G20-Außenministertreffen ebenfalls gezeigt, dass Jakarta sich Diskussionen über die globalen wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine nicht verschließen kann und will. Dieser Umstand könnte von deutscher bzw. europäischer Seite dazu genutzt werden, die Debatte über die ökonomischen Kollateralschäden der Invasion – und auch jener der Sanktionen gegen Russland – mit Fragen der künftigen europäischen Sicherheitsordnung, des Konfliktmanagements in der Ukraine und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus zu verknüpfen. Darüber hinausgehend ist jedoch damit zu rechnen, dass Indonesien aus eigener Sicht weiter »zwischen den Riffen segeln« und somit im Auge externer Betrachter weiter zwischen allen Stühlen sitzen wird.
Dr. Felix Heiduk ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Asien.
Tom Wilms ist Praktikant in der Forschungsgruppe Asien.
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