In der Europäischen Union (EU) verläuft die Debatte über weitreichende Reformen zunehmend kontrovers. Nach Abschluss der einjährigen ›Konferenz zur Zukunft Europas‹ hat das Europäische Parlament (EP) die Initiative für einen Konvent und für Vertragsänderungen ergriffen. Für viele nationale Regierungen hingegen scheint weiterhin die Frage im Mittelpunkt zu stehen, wie die EU im Rahmen der bestehenden Verträge weiterentwickelt werden kann. Ein genauerer Blick auf die Ergebnisse der Zukunftskonferenz zeichnet ein differenzierteres Bild – von Bürgerinnen und Bürgern, die von der EU erwarten, in den großen Transformationsprojekten Verantwortung zu übernehmen, die fordern, dass die EU transparenter wird, und die Vertragsänderungen nur als Mittel zum Zweck für eine handlungsfähigere EU sehen. Der Konferenz ist es jedoch nicht gelungen, Befürworter und Gegner von Vertragsänderungen einander näherzubringen. Potential hierfür hat aber die wiederbelebte Debatte über Vertiefung und Erweiterung.
Im Schatten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine treffen zwei Debatten über die Zukunft der Europäischen Union aufeinander: Auf der einen Seite hat der ukrainische Antrag auf EU-Mitgliedschaft, dicht gefolgt von den Anträgen der Republik Moldau und Georgiens, die Diskussion über Erweiterung wiederbelebt. Der Europäische Rat hat der Ukraine und der Republik Moldau im Juni 2022 den formellen Kandidatenstatus verliehen. Auch die lange blockierten Beitrittsprozesse der Staaten des westlichen Balkans sollen wieder aufgenommen werden. Teil dieser Debatte ist zudem die Möglichkeit alternativer und / oder heranführender Formen von Teilintegration in die EU, etwa in Gestalt der vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron ins Spiel gebrachten ›Europäischen Politischen Gemeinschaft‹. Unter der historischen geopolitischen Wendung kehrt damit Erweiterung als geostrategisches Instrument der EU ebenso zurück wie die Frage nach den Grenzen der EU.
Auf der anderen Seite hat, parallel dazu, die Diskussion über eine weitere Vertiefung einschließlich Vertragsänderungen an Fahrt aufgenommen. So hat die Konferenz zur Zukunft Europas im Mai 2022 nach einjährigem Prozess ihren Abschlussbericht vorgestellt. Sinnbildlich für die EU hat die Konferenz in den letzten beiden Jahren viele Veränderungen durchgemacht. Nicht nur, dass sie pandemiebedingt ein Jahr später als geplant begonnen und statt zwei Jahren ein Jahr gedauert hat – ihre Ankündigung im Herbst 2019 erscheint im Rückblick wie aus einer anderen Epoche. Auf die Agenda gebracht hat die Zukunftskonferenz zunächst der französische Präsident Emmanuel Macron, Ursula von der Leyen hat sie dann als Wahlversprechen an das Europäische Parlament aufgegriffen. Ursprünglich sollte ihr Fokus auf den demokratischen Strukturen der Union liegen, etwa der Reform des Spitzenkandidatenverfahrens, transnationalen Listen oder einem Initiativrecht für das EP. Die meisten nationalen Regierungen begegneten ihr mit Skepsis – auch wenn die neue deutsche Bundesregierung mitunter das Ziel eines verfassunggebenden Konvents mit der Zukunftskonferenz verbunden hat. In der Praxis hat die Konferenz eine breite Palette von Fragen rund um die EU abgehandelt, in einem komplexen Konstrukt, das sowohl auf Bürgerbeteiligung als auch eine Balance zwischen den EU-Institutionen Parlament, Kommission und Rat setzte (siehe SWP-Aktuell 20/2021).
Überschattet wurde die Zukunftskonferenz von der Covid-19-Pandemie und der russischen Invasion der Ukraine. Erstere hat dazu geführt, dass der für den 9. Mai 2020 anvisierte Start der Konferenz um ein Jahr verschoben wurde. Vor allem konnten sich die Bürgerinnen und Bürger überwiegend nur virtuell beteiligen, die meisten Bürgerforen fanden online oder unter strengen Hygieneauflagen statt. Eine breite mediale Öffentlichkeit hat die Zukunftskonferenz nie erreicht.
Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine muss(te) die EU in kurzer Abfolge wegweisende Entscheidungen fällen, die ihre Position in einer nunmehr konfrontativen europäischen Sicherheitsordnung neu bestimmen. Sie betreffen sowohl die Reform der EU als auch deren Erweiterungspolitik.
Die Zukunftskonferenz trifft auf eine Union im Wandel
Pandemie und Krieg verändern die Rahmenbedingungen der Debatte über die Zukunft Europas. Dementsprechend sollten diese auch in der Diskussion über die Reform der EU berücksichtigt werden, insbesondere wenn es um die Prioritäten europäischer Reformen geht.
Das Ende der Zukunftskonferenz trifft auf ein sehr schwieriges wirtschaftspolitisches Umfeld. Zwei Jahre Covid-19-Pandemie haben tiefe wirtschaftliche Spuren hinterlassen, einige EU-Mitgliedstaaten hatten bis zum Frühjahr 2022 noch nicht wieder das Vor-Pandemie-Niveau erreicht. Die Inflation in der Eurozone ist auf den bisher höchsten Stand gestiegen und könnte dazu führen, dass Divergenzen zwischen den Eurostaaten und der Druck auf nationale Haushalte wachsen. Die Auswirkungen des russischen Krieges, der EU-Sanktionen und russischen Gegensanktionen sind bereits als enorme Preissteigerungen im Energiesektor zu spüren und werden weitere Wirtschaftsbereiche erfassen. Je länger der Krieg andauert, desto höher werden die wirtschaftlichen Kosten sein. Wirtschaftskrisen eignen sich jedoch nicht als Hintergrund für abstrakte Debatten über die Reform der EU – vielmehr ist diese als Solidaritätsanker und zur Stützung der Wirtschaft gefordert.
Gleichzeitig ist festzustellen, dass sich die EU unter dem Druck der Krisen in den letzten zwei Jahren erheblich weiterentwickelt hat, und zwar losgelöst von Zukunftskonferenz oder Vertragsänderungen. Sie hat neue Verantwortung für öffentliche Güter übernommen, etwa indem sie Covid-19-Impfstoffe beschafft, gemeinsame Anleihen für den Wiederaufbaufonds herausgegeben sowie einen Rechtsstaatsmechanismus ins Leben gerufen hat. Zudem hat die EU in den wenigen Monaten seit dem russischen Überfall auf die Ukraine deutlich mehr Verantwortung für die europäische Sicherheit übernommen als bisher, zum Beispiel dadurch, dass sie Waffenlieferungen an die Ukraine gemeinsam finanziert, dass sie bislang beispiellose Sanktionen im Finanzsektor erlassen hat und als zentraler Akteur in der internationalen Koordination mit den USA, dem Vereinigten Königreich und anderen Partnern auftritt. Perspektivisch will sie eine entscheidende Rolle spielen bei der Diversifizierung im Energiebereich, bei gemeinsamen Gaskäufen sowie der Koordination beim Aufbau militärischer Kapazitäten.
Dabei steht die Union vor einer neuen Debatte über ihre (territorialen) Grenzen, über das Verhältnis zwischen Erweiterung und Vertiefung sowie ihre Aufnahmefähigkeit. Die Beitrittsanträge der Ukraine, der Republik Moldau und Georgiens ebenso wie die auch von Deutschland geforderte Wiederbelebung der Beitrittsprozesse für die Staaten des westlichen Balkans eröffnen langfristig die Perspektive einer EU mit 35 und mehr Mitgliedern. Zwar ist ein schneller Beitritt bei keinem der Länder zu erwarten; für die Zukunft stellt sich aber dennoch die Frage, wie die EU in einer solchen Größe und Heterogenität handlungsfähig bleiben kann.
Festzuhalten ist, dass das Ende der Zukunftskonferenz trotz der neuen Rahmenbedingungen mit einem Zeitfenster für europäische Reformen zusammenfällt: Der Abschlussbericht wurde nicht zufällig im Mai 2022 verabschiedet, kurz nach den französischen Präsidentschaftswahlen. Jetzt bietet sich ein Gelegenheitsfenster bis zu den Europawahlen im Mai 2024, in dem (möglicherweise mit Ausnahme von Italien) keine großen nationalen Wahlen anstehen – dafür aber die großen EU-Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode, etwa zum Green Deal oder der digitalen Regulierung. Für die Europawahlen 2024 hat das Europäische Parlament außerdem einen Vorschlag für transnationale Wahllisten einschließlich EU-weiter Spitzenkandidaten vorgelegt.
Das komplexe Konstrukt Zukunftskonferenz
Unter diesen veränderten Rahmenbedingungen infolge von Pandemie und Krieg – schwierige Wirtschaftslage, Übernahme neuer Verantwortung durch die EU, Frage der Handlungsfähigkeit im Falle einer Erweiterung – fand das komplexe Konstrukt ›Zukunftskonferenz‹ seinen Abschluss. Auf Grund interinstitutioneller Rivalitäten über Ziele, Aufbau und Arbeitsweise der Konferenz war ein komplexes Gebilde entstanden, bestehend aus drei Ebenen (siehe SWP-Aktuell 20/2021). Diese Struktur sollte bei der Analyse und dem Follow-up zur Konferenz mit in Betracht gezogen werden:
Die erste Ebene bildete die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Dies war der innovativste Aspekt der Zukunftskonferenz und sollte über umfassende Möglichkeiten der Teilnahme europaweiten Input zur Weiterentwicklung der EU sammeln. Hierzu hatte die EU zum einen eine multilinguale Konsultationsplattform eingerichtet, auf der Bürgerinnen und Bürger Ideen einbringen und kommentieren konnten, wie die Union fortentwickelt werden könnte. Die Beteiligung war allerdings eher mäßig, mit knapp 19.000 Vorschlägen von insgesamt etwas mehr als 50.000 aktiven Nutzerinnen und Nutzern aus der ganzen EU. Schaut man genauer auf die Vorschläge, so hat die Plattform vor allem Personen angesprochen, die klar ›pro‹ bzw. ›kontra EU‹ eingestellt sind. Eine breite, repräsentative europäische Öffentlichkeit konnte damit nicht erreicht werden, so dass sich aus der Plattform auch kaum Legitimation für oder gegen politische Entscheidungen ableiten lässt.
Zum anderen haben europäische und nationale Bürgerforen stattgefunden. Hier wurden Bürgerinnen und Bürger aus allen Mitgliedstaaten zusammengebracht, zufällig ausgewählt nach einem repräsentativen Schlüssel. Gemeinsam haben sie Vorschläge für die Weiterentwicklung der EU in vier Bereichen ausgearbeitet: ›Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung‹, ›Demokratie in Europa, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit‹, ›Klimawandel, Umwelt und Gesundheit‹ sowie ›Europa in der Welt / Migration‹. Thematisch wurden in den Bürgerforen also sowohl institutionelle als auch Fragen aus ganz verschiedenen Politikfeldern diskutiert. Auch diese Bürgerforen haben nur wenig Widerhall in den Medien gefunden. Aber sie bieten, anders als die Online-Plattform, wegen ihrer repräsentativen Zusammenstellung und des paneuropäischen Ansatzes einmalige Einblicke in die Erwartungen und Forderungen europäischer Bürgerinnen und Bürger.
Die zweite Ebene der Zukunftskonferenz war das Konferenzplenum, in dem die unterschiedlichen Institutionen der EU direkt vertreten waren. Es ähnelte vom Aufbau her einem Konvent zu EU-Vertragsänderungen. Das Plenum setzte sich zusammen aus je 108 Abgeordneten des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, 54 Vertretern und Vertreterinnen der Mitgliedstaaten aus dem Rat und 3 der EU-Kommission sowie 108 Bürgerinnen und Bürgern aus den Bürgerforen. Darüber hinaus waren die beratenden EU-Gremien, die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft vertreten. Die knapp 450 Personen haben sich in 9 Arbeitsgruppen organisiert, die sich jedoch nach Widerstand aus dem Rat erst spät konstituiert haben. Erst gegen Ende der Konferenz hat die Arbeit in den Arbeitsgruppen Fahrt aufgenommen und ist mit den Empfehlungen der Bürgerforen in die Abschlussergebnisse eingeflossen.
Die maßgebliche Entscheidungsebene war die dritte, in Form eines Exekutivausschusses. Hier wurde die Konferenz gesteuert von den zentralen EU-Organen, das heißt vom Rat (vertreten durch die rotierenden Ratspräsidentschaften, also in der entscheidenden Phase Frankreich), der Kommission und dem Parlament. Es ist dieser Exekutivausschuss, der konsensual den Abschlussbericht zur Konferenz formuliert und am 9. Mai den drei EU-Institutionen formell übergeben hat. Der Abschlussbericht greift vornehmlich die Empfehlungen der Bürgerforen auf und ergänzt sie durch einzelne Punkte aus der Online-Plattform und aus den Beratungen der Arbeitsgruppen des Konferenzplenums. Insgesamt umfasst er 49 Aspekte mit 320 detaillierten Vorschlägen, die das gesamte Spektrum der EU-Politiken abdecken.
Nun sollen alle drei Institutionen »gemäß ihren Kompetenzen und im Einklang mit dem EU-Vertrag« ihre Schlussfolgerungen aus dem Bericht ziehen. Die politisch wichtigste Phase der Zukunftskonferenz steht somit noch bevor – die politische Verarbeitung der Vorschläge in tatsächliche Reformen der EU, ob auf sekundärrechtlicher Ebene oder sogar mit Vertragsänderungen. Auf diese Umsetzung kommt es an; hier entscheidet sich, ob das Experiment Zukunftskonferenz einen Beitrag zur Weiterentwicklung der EU leistet oder ob der Abschlussbericht lediglich zur Kenntnis genommen wird und ohne große Wirkung in Vergessenheit gerät.
Institutionelles Ringen um die Ergebnisse der Zukunftskonferenz
Die Konferenz zur Zukunft Europas hat weder in der Öffentlichkeit noch in der europäischen Politik die Zugkraft eines starken Reformmoments der EU entfaltet. Dennoch – oder auch gerade deswegen – lassen sich drei sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen aus der Konferenz ziehen.
Bürger erwarten eine EU, die Verantwortung übernimmt
Die Bürgerinnen und Bürger aus allen EU-Ländern, die sich an den Bürgerforen beteiligt haben, fordern von der EU, mehr Verantwortung zu übernehmen und dabei deutlich transparenter zu agieren. Das originärste Ergebnis der Konferenz ist in den Empfehlungen zu finden, die diese repräsentativ ausgewählten Personen erarbeitet haben und die den Hauptteil des Abschlussberichtes ausmachen. Eine Auswertung dieser Empfehlungen ergibt ein eindeutiges Bild: Von den insgesamt 178 betreffen 66 die Marktregulierung, einen klassischen Kompetenzbereich der EU. Die Bürgerinnen und Bürger wünschen sich, dass die EU mit ihrer Regulierungsmacht Europa zukunftsfähig(er) macht, indem sie die Energietransformation vorantreibt, Anreize schafft für eine nachhaltigere Landwirtschaft, den Schutz der Arbeitnehmenden stärkt, Datenschutz verbessert, Konvergenz in Europa fördert sowie höhere und nachhaltigere Importstandards einführt. Darüber hinaus nennen die Empfehlungen als weitere wichtige Anliegen die engere Einbindung der Bürgerinnen und Bürger (18), Migration (17), Bildung (15), eine erweiterte EU-Gesetzgebung und die Gesundheitsunion (jeweils 11).
Aus allen Bürgerforen kommt zudem der Wunsch, dass die EU ihre öffentliche Kommunikation zu Politikinhalten und laufenden Gesetzgebungsprojekten verbessern und dass allgemeines Wissen über die EU verständlicher dargestellt werden solle. Zum Beispiel haben die Bürgerforen in verschiedenen Zusammenhängen vorgeschlagen, ein EU-betriebenes Online-Tool zu etablieren, das Folgendes anbieten sollte: allgemeine Informationen über EU-Institutionen und EU-Politikfelder, verifizierte Informationen über Politikinhalte und Desinformationsbekämpfung, Faktenchecks, Online-Abstimmungen sowie Austausch mit Politikerinnen und Politikern. Den Bürgerinnen und Bürgern ist dabei wichtig, dass die vermittelten Inhalte für alle leicht zu verstehen sind. Auch der Wunsch nach einer stärkeren Beteiligung an den politischen Prozessen der EU wird ausdrücklich geäußert und eine Weiterführung der Zukunftskonferenz als permanentes Bürgerforum angeregt. Offensichtlich empfanden die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich bei der Zukunftskonferenz einzubringen, als eine willkommene und auch gelungene Chance, EU-weite Diskussionen mitzugestalten.
Einerseits ist den Bürgerempfehlungen eine deutliche Legitimation für bereits laufende Großprojekte der EU zu entnehmen, etwa den Green Deal, die Digitalisierung und den Aufbau der Gesundheitsunion. Andererseits lässt sich der Wunsch nach Vertragsänderungen nur bedingt daraus ableiten: Lediglich 13 Empfehlungen beinhalten Vorschläge, die eine Vertragsänderung zwingend voraussetzen würden. Diese betreffen zum Beispiel eine Harmonisierung der Fiskal- und Steuerpolitik innerhalb der EU, europaweite Referenden, EU-Steuern für Großkonzerne, Namensänderungen der EU-Institutionen, die Ausweitung der EU-Kompetenzen auf die Gesundheitspolitik, eine europäische Verfassung, eine Föderalisierung der EU sowie die Abschaffung der Einstimmigkeit. Die übrigen Empfehlungen ließen sich im Rahmen von EU-Gesetzgebungsprozessen umsetzen; es wäre nicht nötig, die Verträge aufzuschnüren.
Das EU-Parlament drängt auf Vertragsänderungen
Die Interpretation des Europäischen Parlaments geht in eine andere Richtung. Schon als die Zukunftskonferenz eingesetzt wurde, haben die Vertreterinnen und Vertreter des EP mehrheitlich darauf gedrängt, auch die Option von Vertragsänderungen in ihr Mandat aufzunehmen – anders als die Kommission und der Rat. Als der Abschlussbericht verfasst wurde, haben an der Konferenz teilnehmende EP-Abgeordnete darauf hingewirkt, dass Vorschläge, die Vertragsänderungen erfordern, prominenter platziert wurden als in den ursprünglichen Empfehlungen der Bürgerforen. Ebenso wie die EU-Institutionen vor der Konferenz über das Mandat gestritten haben, interpretieren sie nun auch deren Ergebnisse unterschiedlich – und die Fronten haben sich weder durch die Zukunftskonferenz selbst noch durch die Covid-Pandemie oder den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine maßgeblich verschoben.
So sieht sich die Mehrheit des EU-Parlaments in ihren Forderungen nach Vertragsänderungen bestätigt. In Reaktion auf die Konferenz hat das Parlament deshalb in einem ersten Schritt bekräftigt, dass die im Abschlussbericht aufgeführten Maßnahmen möglichst umfangreich umgesetzt werden sollen, und dabei einen Fokus auf diejenigen Aspekte gelegt, die Vertragsänderungen benötigen. In einem zweiten Schritt hat das EP im Juni 2022 von seinem Recht Gebrauch gemacht, selbst die Initiative für Vertragsänderungen zu ergreifen und gemäß Artikel 48 EU-Vertrag (EUV) das Verfahren für einen Konvent zu eröffnen. Dies ist insofern eine Besonderheit, als dass alle bisher erfolgreichen Vertragsänderungen von den Mitgliedstaaten im Europäischen Rat ausgegangen sind, deren Zustimmung als ›Herren der Verträge‹ weiterhin notwendig ist.
Die Initiative des Europäischen Parlaments bietet damit eine – maximalistische – Idee davon, welche Vertragsänderungen zur Debatte stehen. Das EP macht hierzu fünf konkrete Vorschläge:
Erstens fordert das EP einen weitgehenden Übergang von der Einstimmigkeit zu qualifizierter Mehrheit im Rat, um die Handlungsfähigkeit der Union zu erhöhen. Als Beispiel nennt es Beschlüsse über Sanktionen in der Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere nach den Erfahrungen mit dem Ringen um das sechste Sanktionspaket gegenüber Russland und den mehr als vier Wochen dauernden internen Verhandlungen, die nur mit großzügigen Opt-Outs für Ungarn abgeschlossen werden konnten. Den politischen Willen vorausgesetzt, ist eine Überführung in Mehrheitsentscheidungen jedoch auch ohne umfassende Vertragsänderungen jederzeit möglich, nämlich über die so genannte Passerelle-Klausel (Art. 48 (7) EUV). Dieses Vorgehen erfordert Einstimmigkeit und bringt etwa in Deutschland erhöhte Bedingungen für die nationale Zustimmung mit sich.
Eng verbunden damit ist der zweite Vorschlag, Artikel 48 (7) EUV dahingehend zu ändern, dass auch eine qualifizierte Mehrheit die Überführung von Einstimmigkeit in Mehrheitsentscheidungen beschließen könnte. Eine solche (wenn auch technische) Änderung hätte das Potential, den Charakter der EU nachhaltig zu verändern. Denn damit könnten perspektivisch in allen Politikbereichen selbst gegen den Willen einzelner Staaten Mehrheitsentscheide durchgesetzt und folglich nationale Vetos als Druckmittel entwertet werden. Gleichzeitig würde die Notwendigkeit europäischer demokratischer Legitimation steigen.
Drittens spricht sich das EP dafür aus, die Kompetenzen der EU auszuweiten, konkret in der Gesundheitspolitik – als Reaktion auf die Pandemie –, in der Energie-, Verteidigungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Diese Forderung ist am engsten mit den Diskussionen der Zukunftskonferenz verknüpft, denn auch die beteiligten Bürgerinnen und Bürger plädierten für eine Kompetenzerweiterung, etwa in der Gesundheitspolitik. Der Vorschlag des Europäischen Parlaments bleibt indes vage. Für eine solche Kompetenzerweiterung wären umfassende Vertragsänderungen notwendig; auf einem Konvent und einer anschließenden Regierungskonferenz müsste verhandelt werden, mit welchen zusätzlichen Kompetenzen die Union ausgestattet werden soll.
Viertens beansprucht das EP ein eigenes Initiativrecht und volle Mitentscheidung beim EU-Haushalt. Dies sind langjährige Forderungen und nur implizit aus der Zukunftskonferenz abgeleitet. Wird die EU-Integration weiter vertieft, inklusive einer Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen und neuer Kompetenzen für die EU, ist eine Diskussion darüber, wie die demokratische Legitimation gestärkt werden kann, durchaus sinnvoll.
Zuletzt fordert das EP, den Rechtsstaatsmechanismus nach Artikel 7 EUV zu stärken, und zwar einerseits das Verfahren selbst, andererseits solle spezifiziert werden, welche Maßnahmen die Union im Falle von Verstößen gegen ihre Grundwerte nutzen kann. Eine derartige Verschärfung der Instrumente zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit bedingt jedoch, dass alle 27 EU-Staaten ihr zustimmen und sie ratifizieren, einschließlich Polen und Ungarn.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Vorschläge, Mehrheitsentscheidungen auszuweiten und die Kompetenzen der EU zu erweitern, sind am ehesten auf die Zukunftskonferenz zurückzuführen; Ersteres wäre auch ohne umfangreiche Vertragsänderungen und einen Konvent möglich. Auf den größten Widerstand dürften diejenigen Initiativen treffen, die anstreben, die EP-Rechte auszudehnen, die Rechtsstaatlichkeit mit schärferen Mitteln durchzusetzen und die Passerelle-Klausel drastisch zu vereinfachen.
Die Mitgliedstaaten sind gespalten
Bereits vor Beginn der Zukunftskonferenz zeichnete sich ab, dass das Konzept in einigen Mitgliedstaaten kaum Begeisterung auslösen würde. Als die Konferenz begann, plädierte eine Gruppe von 12 EU-Staaten (Dänemark, Estland, Finnland, Irland, Lettland, Litauen, Malta, die Niederlande, Österreich, Schweden, die Slowakei und Tschechien) in einem gemeinsamen Non-Paper für ein restriktiveres Mandat der Konferenz und dafür, Vertragsänderungen von vornherein auszuschließen. Zum Abschluss der Konferenz veröffentlichte eine ähnliche Gruppe aus 13 Ländern – weiterhin unter Beteiligung der nordischen und der baltischen Staaten, darüber hinaus Staaten aus Mittel- und Osteuropa (Bulgarien, Kroatien, Polen, Rumänien, Slowenien und Tschechien) sowie Malta – ein weiteres Non-Paper, das sich gegen den maximalistischen Ansatz des Europäischen Parlaments ausspricht und Vertragsänderungen zum aktuellen Zeitpunkt ablehnt.
In Reaktion darauf brachten 6 westeuropäische Staaten (Belgien, Deutschland, Italien, Luxemburg, die Niederlande und Spanien) ein eigenes Non-Paper heraus, in dem sie sich für Reformen mit Option auf Vertragsänderungen stark machen. Gemeinsam mit Frankreich, das die Ratspräsidentschaft innehatte und deshalb nicht unterschreiben konnte, repräsentieren diese Staaten die Mehrheit der EU-Bevölkerung. Die 13 ablehnenden Länder repräsentieren zusammen mit Ungarn, das sich klar gegen Vertragsänderungen mit dem Ziel der Kompetenzausweitung positioniert, allerdings die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten. Die Zukunftskonferenz hat also nicht dazu beigetragen, hinsichtlich Vertragsänderungen einen Kompromiss zu finden; einzig die Niederlande haben – wegen einer neuen Koalition in Den Haag – in dieser Frage ›die Seiten gewechselt‹.
Die Opposition derjenigen, die gegen Vertragsänderungen sind, hat unterschiedliche Ursachen. Generell ist besonders in den nordöstlichen EU-Staaten die politische Bereitschaft für weitere Integration gering. Die mittel- und osteuropäischen Staaten sind nicht willens, mehr Souveränität an die EU abzugeben, nachdem sie ihre Unabhängigkeit erst vor dreißig Jahren wiedererlangt haben. Für die nordischen Mitgliedstaaten ist es ein zentrales Anliegen, dass EU-Regulierung nicht zu weit in die nationale Entscheidungshoheit eindringt, vor allem in der Steuer- und Fiskalpolitik, der Sozialpolitik und anderen für die nordischen Wohlfahrtsstaatsmodelle relevanten Politikbereichen.
Hinzu kommt der Zeitpunkt: Im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich die nord-, mittel- und osteuropäischen Staaten zunehmend zusammengefunden in ihrer Einschätzung der Lage sowie in ihrer Vision, welchen Kurs die westlichen Partner der Ukraine einschlagen sollten. Für die Staaten in Russlands unmittelbarer Nähe hat Priorität, dass es seine Nachbarn nicht noch einmal angreifen kann. Diese härtere Position, die eine eindeutige Niederlage Russlands fordert, steht im Gegensatz zum vorsichtigeren deutschen und französischen Ansatz, nicht alle Brücken nach Russland einzureißen und bereits jetzt darüber nachzudenken, wie man nach dem Krieg mit Russland umgehen könnte. Die nordöstlichen EU-Mitgliedstaaten halten den jetzigen Zeitpunkt, an dem ein Krieg in Europa herrscht, der voraussichtlich noch lange andauern wird, für besonders gefährlich und strategisch unklug, um einen institutionellen Prozess zu Vertragsänderungen zu beginnen, wie ihn Frankreich und Deutschland befürworten. So ein Prozess würde in ihren Augen massiv Kräfte binden und Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die dringend für die Unterstützung der Ukraine und die Stärkung der europäischen Sicherheit benötigt werden.
Zurück in die Zukunft
Die Europäische Union steht wieder einmal vor einer Bewährungsprobe. Die weitgehend von den Ereignissen überlagerte Zukunftskonferenz konnte allerdings nur bedingt dazu beitragen, die Frage nach den notwendigen Reformen der Union zu beantworten. Dafür reicht weder die Legitimationskraft der zufällig, wenn auch repräsentativ zusammengesetzten Bürgerforen aus, noch ist es im Rahmen des Konferenzplenums gelungen, die gegensätzlichen Interessen zwischen und innerhalb der EU-Institutionen zu überbrücken. Insbesondere die Lager der Mitgliedstaaten, die für bzw. gegen Vertragsänderungen sind, haben sich im Laufe der Zukunftskonferenz kaum verschoben. Dennoch lassen sich aus dem Prozess und dem Abschlussbericht vier Schlussfolgerungen ziehen, die für die Debatte über die Reform der EU zentral sind:
Erstens zeigen die von den Bürgerforen erarbeiteten Vorschläge, welche Erwartungen die Bürgerinnen und Bürger an die EU stellen, nämlich: Sie solle mehr Verantwortung übernehmen, geeint in der Welt auftreten und mit ihren Stärken, das heißt ihrer Regulierungsmacht und ihrer Wirtschaftspolitik, die großen Transformationsprojekte Green Deal und Digitalisierung vorantreiben. Diese Zielmarken sollten leitgebend sein für die entscheidende zweite Hälfte der aktuellen Legislaturperiode und die großen Vorhaben der EU. Der allergrößte Teil dieser Ziele lässt sich auch ohne Vertragsänderungen realisieren. Die Umsetzung der Zukunftskonferenz ausschließlich auf die Frage von Vertragsänderungen zu konzentrieren würde weder den Anforderungen der EU gerecht noch den Wünschen der Bürgerinnen und Bürger.
Zweitens zieht sich die Forderung durch die Empfehlungen der Bürgerforen, dass die EU transparenter werden und auch jenseits des Experiments Zukunftskonferenz besser kommunizieren und mehr Möglichkeiten anbieten solle, Bürgerinnen und Bürger einzubinden. Dies sollte ebenfalls eine Aufgabe für die Weiterentwicklung der EU sein. Eine konkrete Lehre aus der Zukunftskonferenz ist, dass das Modell transeuropäisch und repräsentativ zusammengesetzter Bürgerforen eine echte europäische Debatte schaffen und wertvollen Input geben kann. Dieses Modell sollte die EU für große Vorhaben verstetigen, und zwar als Ergänzung – nicht als Ersatz – zu ihren regulären Gesetzgebungsprozessen mit Beteiligung des Europäischen Parlaments. Denkbar wären zum Beispiel spezifische europäische Bürgerforen zu den Initiativen des Green Deal 2023 / 2024. Dies sollte gemeinsam diskutiert werden mit den Vorschlägen zur Demokratisierung der Europawahlen mithilfe transnationaler Listen, die das Bürgerforum zu Demokratie unterbreitet hat und die aktuell im Europäischen Parlament erstmals auf eine breite Mehrheit stoßen.
Drittens ist der Versuch gescheitert, die Frage nach Vertragsänderungen offenzulassen und diese weder explizit ins Mandat der Zukunftskonferenz zu schreiben noch auszuschließen. Eine Teilantwort hat die Konferenz aber auf die Frage gegeben, welche Vertragsänderungen zur Diskussion stehen. Und diese Antwort fällt nicht so vollumfänglich aus wie bei den großen Vertragsrevisionen der 1990er und 2000er Jahre von Maastricht bis Lissabon, sondern konzentriert sich auf die Aspekte Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen / Handlungsfähigkeit, begrenzte Ausweitung der EU-Kompetenzen sowie, aus Sicht des EP, institutionelle Reformen zur Stärkung des EP und der Rechtsstaatlichkeit. Zumindest der erste Punkt lässt sich, den notwendigen politischen Willen vorausgesetzt, über die Passerelle-Klausel auch ohne Vertragsänderungen umsetzen.
Viertens ist das Ringen über die strategische Ausrichtung der EU zurückgekehrt. Die nordöstlichen Mitgliedstaaten, die keine Vertragsänderungen wollen, sind ausdrücklich für die EU-Mitgliedschaft der Ukraine und für eine Erweiterung über die Ukraine hinaus, aus geopolitischen Gründen. Auch und gerade mit Blick auf die geostrategische Transformation Europas sollte Deutschland aber darauf drängen, dass eine neue Erweiterungsrunde nur mit Vertragsreformen und vertiefter Integration, beispielsweise in Form von mehr qualifizierten Mehrheitsentscheidungen, möglich ist. Andernfalls droht die EU ihre Handlungsfähigkeit ganz zu verlieren, wenn ihre Heterogenität weiter steigt, was zu erwarten ist. Beides zu vereinen ist die Reformaufgabe der EU in der nächsten Dekade.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
Minna Ålander ist Forschungsassistentin der Forschungsgruppe EU / Europa.
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DOI: 10.18449/2022A44