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Amerika-Gipfel mit hemisphärischen Divergenzen

Warum Lateinamerika auf Unabhängigkeit setzt und was das für Europa bedeutet

SWP-Aktuell 2022/A 42, 07.07.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A42

Forschungsgebiete

Die wachsende Entfremdung zwischen den USA und ihren Partnern in Mittel- und Südamerika ist das sichtbarste Ergebnis des 9. Amerika-Gipfels, der Anfang Juni 2022 in Los Angeles stattfand. Kontrovers war bereits die Einladungspolitik der Regierung Biden gegenüber den 34 Staaten der Region; darüber hinaus bestimmten auch tiefer­gehende Unstimmigkeiten diesen Gipfel, auf dem der erhoffte Aufbruch in den Be­ziehungen zwischen USA und Lateinamerika ausblieb. Auf der einen Seite appellierte Biden zur Zusammenarbeit, auf der anderen verlangten die Gäste nach Kooperation ohne Einmischung. Die Staaten Lateinamerikas und der Karibik sind gegenwärtig nicht bereit, in den hemisphärischen Austausch zu investieren. Eine projektbezogene Kooperation mit den extraregionalen Akteuren China, Europa, Russland und Indien erscheint ihnen lohnender, eine zu enge Bindung an die USA dabei nur hinderlich. Europa muss sich auf diese neue Lage einstellen und sein Kooperationsangebot in variabler Geometrie umbauen.

Im Vorfeld des Gipfels hatte es zehn Ab­sagen gegeben. Begründet wurden sie vielfach mit Solidarität gegenüber Kuba, Nicaragua und Venezuela, die als autoritär regierte Staaten keine Einladung vom Gastgeber erhalten hatten. Dabei wurden die Absagen als Versuch interpretiert, die USA zu düpieren; ja sogar von einem Boykott war die Rede, obwohl die abwe­senden Präsidenten Boliviens, Guatemalas, El Salvadors und Mexikos sich von ihren Außenministern vertreten ließen. Das Bild eines »Rumpf-Gipfels« suchte etwa der venezolanische Staatschef Nicolás Maduro zu verstärken. Er unternahm zeitgleich eine Reise nach Algerien, in die Türkei und in den Iran, um die internationale Anerkennung zu unterstreichen, die seinem Land von anderer Seite zuteilwird.

Dass der mexikanische Präsident angekündigt hatte, dem Gipfel fernzubleiben, sahen manche als Versuch, die USA noch zum Einlenken in ihrer Einladungs­politik zu bewegen. Doch waren Präsident Joe Biden zu diesem Zeitpunkt innenpolitisch bereits die Hände gebunden, vor allem mit Blick auf die Kon­gresswahlen im November.

Die Bedeutung der Amerika-Gipfel seit 1994

Seit ihrer Gründung im Jahr 1994 haben sich die Amerika-Gipfel immer wieder als Format erwiesen, das stark von regio­nalen oder weltpolitischen Konjunkturen abhän­gig ist. Die Treffen folgen der Idee von der westlichen Hemisphäre als einer privilegierten Beziehung zwischen den Völkern der Vereinigten Staaten und Lateinamerikas. Auf Grundlage des gemeinsamen Ideals, die eigene Unabhängigkeit gegenüber exter­nen Mächten zu sichern, wurden sie als ein Instrument der US-Außenpolitik entwickelt. Ihre Schattenseite war dabei stets die große Asymmetrie zwischen Washington und den übrigen Teilnehmern. Letztlich sollte dieser Gipfelprozess dem Konzept der westlichen Hemisphäre ebenso wie jenem des Pan­amerikanismus dienen, was mit der Erwar­tung einherging, das regionale Koopera­tionssystem der Amerikas zu vertiefen. Doch hat sich das interamerikanische Bezie­hungsgeflecht nicht zuletzt in Gestalt der – schon seit 1948 bestehenden – Organi­sation Amerikanischer Staaten (OAS) als wenig dynamisch erwiesen. Eigentlich sollte das erste Gipfeltreffen der Amerikas, das im Dezember 1994 in Miami stattfand, der Startschuss dafür sein, Institutionen für eine neue Art der regionalen Kooperation aufzubauen. Im Vordergrund sollten dabei Freihandel, Demokratie und Menschen­rechte stehen, während früher eine Sicher­heitsagenda dominiert hatte.

Ein breites Netzwerk an themenbezogenen Kommissionen auf Ministerebene sollte den politischen Prozess zwischen den Gip­feln gestalten. Erster sichtbarer Ausdruck der Neuorientierung war die 2001 verabschiedete Interamerikanische Demokratie-Charta, die in ihrer Umsetzung jedoch bis heute keine durchschlagenden Ergebnisse brachte. Auf dem 4. Gipfel im Jahr 2005 scheiterte das Projekt einer Amerikanischen Freihandelszone (FTAA) am Widerstand Argentiniens (unter Präsident Néstor Kirch­ner), Venezuelas (Hugo Chávez) und Brasi­liens (Luiz Inácio »Lula« da Silva). Seither fehlt ein umfassendes Programm, das die auseinanderstrebenden Kräfte der Region zusammenführen könnte. Einen gewissen Höhepunkt bildete der 7. Amerika-Gipfel in Panama 2015, der im Kontext der Annäherung Washingtons an Havanna stattfand und an dem Kubas Staatschef Raúl Castro an der Seite von Barack Obama teilnahm. Der 8. Gipfel, abgehalten 2018 in Lima, stand dagegen im Zeichen wachsender innerregionaler Spannungen. Angesichts des damaligen Machtkampfes in Venezuela war Präsident Nicolás Maduro vom Gast­geber Peru ausgeladen worden, und es kam zu Auseinandersetzungen um die Rolle der OAS gegenüber dem Konflikt in Caracas. Viele Staaten Lateinamerikas hatten sich dem Kurs von US-Präsident Donald Trump angeschlossen, der den »Gegenpräsidenten« Juan Guaidó unterstützte.

Seitdem haben die ideologischen Divergenzen in der Region weiter zugenommen. Der inneren Fragmentierung sind Integra­tionsinstanzen wie die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) zum Opfer gefallen; andere Zusammenschlüsse wie die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) oder der Gemeinsame Markt Südamerikas (Mercosur) funktionieren nur eingeschränkt. Kritik ent­zündet sich nicht zuletzt am Handeln der OAS und ihres Generalsekretärs Luis Alma­gro, der von einigen Regierungen nicht mehr als Gesprächspartner akzeptiert wird. Dabei fungiert die Regionalorgani­sation als technisches Sekretariat der Amerika-Gipfel, was es erschweren dürfte, getroffene Ver­einbarungen umzusetzen.

Ein Gipfel wachsender Misstöne

Auch wenn die Amerika-Gipfel stets mit dem Hegemonievorwurf an die USA belegt wurden, hatten viele regionale Staaten von Präsident Biden als Gastgeber erwartet, das Format wieder aufzuwerten und ein Signal der Einheit zu senden. Doch Washingtons selektive Einladungspolitik ließ diese Hoff­nung rasch schwinden. Hatten frühere Gip­fel schon spezifische Dynamiken ge­zeitigt, so scheinen gegenwärtig die Divergenzen zwischen den Staaten hervorzutreten. Dies ist nicht zuletzt dem Verlust eines ver­bin­denden Narrativs geschuldet. Demokratie und Rechtsstaat stehen in vielen Ländern Lateinamerikas nicht mehr hoch im Kurs. Das gilt nicht nur für die sogenannten Wahlautokratien wie El Salvador, Nicaragua und Venezuela, sondern auch für Staa­ten wie Brasilien, Guatemala, Kolumbien, Mexiko und Peru. Hier wie dort werden Menschen- und Bürgerrechte massiv miss­achtet, Justiz und autonome Einrichtungen wie Universitäten und NGOs eingeschüchtert und präsidiale Befugnisse auf Kosten der Gewaltenteilung ausgedehnt.

Diese negative Entwicklung konnte Joe Biden kaum ausblenden, als es darum ging, alle Präsidenten und Präsidentinnen des Kontinents um einen Tisch in Los Angeles zu versammeln. Nicht nur, dass dies innen­politisch für ihn nicht darstellbar gewesen wäre. Auch hatte er noch im Dezember 2021 einen internationalen Demokratie­gipfel ausgerichtet, um autokratischen Ten­denzen weltweit entgegenzuwirken. An Gemeinsamkeiten fehlt es jedoch auch bei anderen Herausforderungen der Gegenwart – wie der Covid-19-Pandemie, der Klima­krise und der wachsenden Ungleichheit. In der Klimapolitik haben sich zumindest die beiden großen Staaten Brasilien und Mexiko von den internationalen Bemühungen verabschiedet, die Folgen der Erderwär­mung einzudämmen. Stattdessen beschreiten sie Wege, die diesem Ziel eher abträglich sind. Zudem steht die Frage auf der Tagesordnung, wie das Verhältnis der USA zu Lateinamerika jenseits traditioneller Instrumente der Auslandshilfe neu begrün­det werden kann. Denn die lateinamerikanischen Staaten gelten inzwischen mehr­heitlich als »middle-income countries« und erfüllen daher nicht mehr die internationalen Kriterien von Entwicklungshilfe (im Sinne der Official Development Assistance des Development Assistance Committee der OECD). Bislang sind weder von den USA noch in Lateinamerika selbst Ansätze für neue Finanzierungsmodelle entwickelt worden.

Eine neue Migrationsagenda für die Amerikas

Biden hat eine Prosperitätspartnerschaft für den Kontinent vorgeschlagen, die von der Interamerikanischen Entwicklungsbank und dem Privatsektor getragen werden soll. Damit hat er zwar den krisenbedingten Be­darf der Region an wirtschaftlichen Lösun­gen erkannt, doch blieben die entsprechenden Zusagen zu unverbindlich. Innen­politisch war für Biden das zentrale Gipfel­thema, wie sich der wachsende Druck auf die Südgrenze der USA durch Migration und Asylsuchende kontrollieren lässt. Im Mai 2022 war die Zahl der beim illegalen Grenzübertritt festgenommenen Personen im Vergleich zu den Vormonaten wieder gestiegen. Darunter waren 76 887 Personen mexikanischer Nationalität, 25 348 aus Kuba, 21 382 aus Guatemala, 19 490 aus Honduras und 19 040 aus Kolumbien. Zu­gleich bereitet sich eine neuerliche Migra­tionskarawane im Süden Mexikos auf den Marsch Richtung US-Grenze vor, un­ge­achtet der Gegenmaßnahmen, die von der mexika­nischen Regierung er­griffen wurden.

Die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern von Migranten zu verbessern ist der zentrale Ansatz des Migrationspakts, den Biden auf dem Gipfel vorlegte. Von den Teilnehmerstaaten wurde die darauf fußen­de »Erklärung von Los Angeles« zur Migra­tion auf dem amerikanischen Kontinent angenommen. Sie eröffnet neue Quoten für legale Arbeitsmigration, erleichtert den Zu­gang für Flüchtlinge in die USA sowie die Familienzusammenführung und weitet den gemeinsamen Kampf gegen Schlepperbanden aus. In den nächsten zwei Jahren sollen 20 000 Flüchtlinge in den Vereinigten Staa­ten Aufnahme finden, und 65 Millionen US-Dollar werden eingesetzt, um haitianische und zentralamerikanische Arbeits­kräfte befristet zu beschäftigen. Verpflichtungen sind auch andere Staaten eingegangen: Kolumbien und Ecuador wollen den zahl­reichen Migranten aus Venezuela Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen gewähren, Costa Rica sagte den Nicara­gua­nern im Land dauerhafte Aufnahme zu.

Diese Zusicherungen sollen die gemeinsame Verantwortung für eine Lösung des Migrationsproblems unterstreichen und ein multilaterales Handeln voranbringen. Aber auch weiterhin projiziert sich bei Migra­tionsfragen auf dem amerikanischen Kon­tinent vieles auf die Südgrenze der USA, die nicht erst, aber besonders seit den Zeiten von Präsident Trump ein innen- wie außen­politisch hochvirulentes Thema ist. Die von den USA eingesetzten Maßnahmen des Grenzschutzes verletzen die Menschen­rech­te, weil Familien bei der Einreise ge­trennt und Migranten durch langwierige Asylverfahren gefährdet werden, die sie in mexika­nischen Grenzstädten (»Remain in Mexico«) abwarten müssen. Bidens Versu­che, das Programm seines Vorgängers außer Kraft zu setzen, sind bislang an den Gerich­ten gescheitert – nun liegt die Angelegenheit beim Supreme Court. Abschiebungen aus den USA und Mexiko in die Heimat­länder lassen bislang vielfach das Bild ent­stehen, dass in den Grenzgebieten unkontrollier­bare Zustände herrschen; diese sol­len nun durch ein humanes Grenzmanage­ment und koordinierte Notfallmaßnahmen abgelöst werden. Entscheidend wird dabei sein, auch die mexikanische Regierung mit ins Boot zu holen, jenseits der aktuellen politischen Verstimmungen. Am 12. Juli 2022 wollen die Präsidenten der beiden Länder ein bilaterales Gipfeltreffen abhal­ten, um hier voranzukommen; im Novem­ber soll ein Treffen unter Beteiligung von Kanadas Premierminister Justin Trudeau folgen.

Großmächtekonkurrenz in Latein­amerika: Chance oder Risiko?

Auf dem lateinamerikanischen Subkontinent sehen viele Regierungen gegenwärtig eine Chance darin, sich ihre externen Part­ner frei aussuchen zu können. Dies geht ein­her mit der Überzeugung, eine hinreichende Distanz zu den Großmächten garan­tiere, dass deren Rivalität nicht auf ameri­kanischem Boden ausgetragen wird. Dem Druck, sich zu einem bestimmten Lager zu bekennen, wollen die Staaten der Region eher ausweichen; die eigene Autonomie soll nicht durch Parteinahme beeinträchtigt werden. Die Impf- und Maskendiplomatie, die China und Russland in der Corona-Krise betrieben, hat ihrer Konkurrenz mit den USA um Lateinamerika eine weitere Dimen­sion verliehen – nachdem die beiden Län­der während der letzten Dekaden ihre Rolle im Bereich von Handel und Investitionen ausgebaut hatten, wodurch der Ressourcen­boom in Südamerika massiv befördert wurde.

Vielen lateinamerikanischen Politikern erscheint es als Gewinn, die wirtschaft­lichen Außenbeziehungen ihres Landes zu diversifizieren, wie es auch in der Vergangenheit immer wieder praktiziert wurde. Auf diese Weise hofft man die eigene Ver­handlungsposition zu stärken, was den Verkauf strategischer Rohstoffe mineralischer, energetischer oder agrarischer Art betrifft. Dass die Rohstoffpreise gegenwärtig anziehen, gibt dabei exportstarken Ländern erste Ermutigungen, auch wenn so ihre Rolle als Rohstoffexporteur nur erneut fest­geschrieben werden könnte. Andererseits steigen Importpreise und Transportkosten ebenfalls. Staaten, die stark von Zulieferungen abhängig sind, könnten dadurch in ihrer inneren Stabilität bedroht sein, zumal wenn sich Nahrungsmittel oder Treibstoffe verteuern. Die jüngsten Unruhen in Ecua­dor unterstreichen diese Gefahr.

Lateinamerikanische Länder, die auf Energieexporte bauen können – wie Brasi­lien, Ecuador, Kolumbien und Venezuela sowie in begrenztem Umfang Mexiko –, sehen Chancen für sich, weil die geopolitische Konkurrenz um ihre Aus­fuhrprodukte steigt. Diese Entwicklung könnte dazu bei­tragen, akute fiskalische Krisen zu über­winden und die betreffenden Länder auf einen neuen Wachstumskurs zu bringen. Dabei bemühen sich die Regierungen, die eigene Souveränität über die Res­sourcen zu wahren – mit dem Ziel, ihre nationale Autonomie für den Fall zu stär­ken, dass die Versorgung mit anderen Pro­dukten aus internationalen Lieferketten stockt. Energie­importierende Staaten laufen dagegen Gefahr, dass sich die Inflations­tendenzen verstetigen und damit die natio­nale Devi­senausstattung in Mitleidenschaft gezogen wird. In jedem Fall ist erkennbar, dass sich wirtschafts- und rohstoffpolitisch keine gemeinsame Position des Subkontinents abzeichnet. Vielmehr dürfte Latein­amerika auch in dieser Krise weiterhin ein fragmentiertes Erscheinungsbild abgeben.

Lateinamerikas Selbstbehauptungsstreben

Die geopolitische Neustrukturierung der internationalen Politik wird von vielen Staaten Lateinamerikas als Chance wahr­genommen, eine neue strategische Rele­vanz zu gewinnen, mit der sich die struk­turelle Schwäche der Region auf globaler Bühne überwinden lässt. Zwischen atlan­tischer Einbindung und Seidenstraßen-Konnektivität suchen insbesondere die Länder Südamerikas ihren jeweils eigenen Weg. Eine große Rolle spielt dabei, inwie­fern sie mit natürlichen Ressourcen aus­gestattet sind und wie die entsprechenden Nachfrageprofile ausfallen. Man verspricht sich Diversifizierungsvorteile durch Partner­vielfalt bei Handel und Investitionen. Da­gegen ist das Handlungsfeld für Mexiko sowie die zentralamerikanischen und kari­bischen Staaten eingeschränkter, denn angesichts von Drogenproblematik und Migrationsdynamiken bewegen sie sich viel stärker im »Sicherheitsschatten« der Verei­nigten Staaten. Zwar folgen auch sie der Maxime des »Abstandhaltens« von Washing­ton, doch hat dies Grenzen, weil sie ökono­misch auf den US-Markt ausgerichtet sind.

Es ist eine Lehre aus dem Kalten Krieg, dass lateinamerikanische Staaten sich (mit nur beschränktem Erfolg) bemühten, auf der neuen geopolitischen Landkarte keiner Hegemonialmacht zugeordnet zu werden, sondern eigene Vorstellungen von regiona­ler Ordnung und Teilhabe an der interna­tionalen Politik umzusetzen. Dabei ist den Regierungen durchaus bewusst, dass die wirtschaftliche Dynamik im Rahmen des Globalisierungsprozesses nach Asien ab­gewandert ist, die eigene Region sich heute aber verstärkt um eine intelligente geo­öko­nomische Positionierung bemühen muss. Der internationale Bedeutungsverlust, den Lateinamerika in den vergangenen Deka­den erlitten hat, erlaubt dem Subkontinent heute angesichts wachsender geopolitischer Konkurrenz eine selektive Politik diversifizierter Außenbeziehungen, ohne sich von den USA, China oder Russland vereinnahmen zu lassen. Man will auf jeden Fall das Risiko vermeiden, Flexibilitäten und damit auch Handlungsoptionen zu verlieren – und letztlich mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Die europäische Antwort auf dieses Dilemma, nämlich Autonomie durch Regio­nalismus zu sichern, wird hier indes ab­gelehnt – zu groß sind die Eigenheiten und Sensibilitäten der einzelnen lateinamerikanischen Länder, zu nachhaltig die nega­tiven Erfahrungen mit einer Reihe geschei­terter Integrationsprojekte. Im Vordergrund stehen nationale Lösungen. Die Staaten fürchten einseitige Abhängigkeiten und legen sich nicht auf Allianzen fest; in der Rivalitätskonstellation zwischen Washington und Peking wollen sie durch selektive Kooperationsmuster erfolgreich sein. Nicht ohne Grund macht in der gegenwärtigen Diskussion der Begriff »Äquidistanz« die Runde, eingefasst in das Konzept eines »active non-alignment«.

Allerdings geht damit auch die Gefahr einer doppelten Abhängigkeit von den USA wie von China einher; sie wird dadurch nicht geringer, dass die lateinamerikanischen Staaten eine ausgeprägte Präferenz für minilaterale Formate haben. Denn zentrale Fragen der Ernährungssicherheit, der globalen Infrastrukturentwicklung in Lieferketten oder auch des Gesundheitsschutzes können effektiv nur multilateral bearbeitet werden. Das Muster einer Riva­lität mit Interdependenz mag zwar ver­lockend sein, gerät aber bei einer passiven Einbettung in die internationale Politik schnell in den Bereich abhängiger Beziehungsstrukturen. Nicht zuletzt wächst mit dieser Aufstellung das Risiko, dass die Kosten interner Herausforderungen und globaler Dilemmata der Großmächterivalität in Lateinamerika anfallen, wie dies mit den Folgen weltweit steigender Zinsen für die verschuldeten Staaten der Region be­reits jetzt erkennbar wird.

Auf technologischer Ebene droht Lateinamerika mit einer Politik der Äquidistanz in Parallelwelten zu geraten, wie sie sich aus Einzelprojekten in der Kooperation mit China und den USA ergeben könnten. Die Entscheidungen zur Vergabe von 5G-Lizen­zen sind dafür ein erstes Beispiel, weitere Konfliktfelder tun sich im Bereich von Cybersicherheit und Biotechnologie auf. All dies sind strategische Bereiche, in denen sich die Regierungen Lateinamerikas be­währen müssen, wenn sie ihre Gesellschaften mit technologischer Kompetenz weiter­entwickeln wollen. Die Alternative wäre, sich mit der Rolle eines internationalen Rohstofflieferanten zu begnügen, der zwar von Preissteigerungen profitiert, aber die Zukunftschancen der jungen Generationen nicht systematisch verbessern kann.

Eine neue »linke Welle«?

Nachdem Gustavo Petro im Juni 2022 als Gewinner aus den Präsidentschaftswahlen in Kolumbien hervorgegangen ist, hat sich für manche Beobachter die rote Einfärbung auf der politischen Landkarte Lateinamerikas weiter ausgedehnt. Sie wäre demnach fast komplett, sollte Ex-Präsident »Lula« da Silva im November in Brasilien einen Wahl­sieg erringen. Nur Ecuador, Paraguay und Uruguay würden in dieser Sichtweise dann noch dem einheitlichen Bild entgegenstehen. Hier wird bereits eine gemeinsame Front gegen die USA gesehen. Doch die ver­schiedenen linken Regierungen der Region folgen bislang stark nationalen Eigenheiten und sind weit von einer gemeinsamen pro­grammatischen Ausrichtung entfernt. Viel zu sehr sind sie im Inneren in spezifische Koalitionen und Allianzen eingebunden, was vielfältige Unterschiede bei Themen wie Abtreibung, Frauen- und Indigenenrechte, Energiewende und Klimaschutz zur Folge hat. Zwar lässt sich eine gewisse Handlungseinheit herstellen, wenn es um die Verteidigung von nationaler Souveränität und Ressourcenautonomie geht, aber von einer Bereitschaft zur regionalen Inte­gration oder auch nur zu gemeinsamem internationalen Handeln ist man gegenwärtig noch weit entfernt. Dazu ist die Spann­weite zwischen den verschiedenen Varian­ten der Linken zu groß. Sie reicht von auto­ritären Formen in Nicaragua und Vene­zu­ela über erstmals regierende linke Präsi­denten und Präsidentinnen in Hondu­ras, Kolumbien, Mexiko und Peru bis hin zu Parteien und Bewegungen, die nach einer kurzen Episode konservativer Regierungen wieder ins Amt zurückkehren – wie in Bolivien, Chile und möglicherweise Brasi­lien. Eine gewisse Ausnahmestellung nimmt dabei der chilenische Präsident Gabriel Boric ein, da sein Bündnis eine neue politische Kraft bildete und sich ein­deutig von der bisherigen Parteienkoalition abzu­setzen wusste. Seine Präsidentschaft hat ein klares Mandat für politischen Wan­del in Chile und besitzt damit trotz aller abzu­sehenden Schwierigkeiten wegweisenden Charakter für die zukünftige Gestalt des linken »Progressismus«.

Es gibt also eine Vielzahl von Regierungen und Bewegungen, die zwar oft auf eine ähnliche Rhetorik setzen, deren inhaltliche Differenzen jedoch bedeutender sind als ihre Gemeinsamkeiten. Damit geht von der aktuellen »Umfärbung« der politischen Landkarte keine Gefahr für die Regierung Biden aus. Dies markiert einen Unterschied gegenüber der ersten »rosa Welle« in den 1990er Jahren und zu Beginn des 21. Jahr­hunderts, die mit den Namen Hugo Chávez (Venezuela), »Lula« da Silva (Brasilien), Néstor Kirchner (Argentinien), Evo Morales (Bolivien), Tabaré Vázquez (Uruguay), Rafael Correa (Ecuador) und Fernando Lugo (Paraguay) verbunden war. Heute sind die Herausforderungen für die sich als »pro­gressiv« verstehenden Regierungen deutlich größer. So ist die Region bislang nicht in der Lage, angemessen auf die sich zuspitzende Klimakrise, die Rezession und die Viruspandemie zu reagieren. Angesichts von Versorgungsengpässen und Inflationsdruck sind soziale Unruhen absehbar. Es besteht auch die Gefahr, dass Regierbarkeitskrisen das Vertrauen in die demokratischen Institutionen weiter untergraben und autoritären Tendenzen den Weg bahnen.

Die USA müssen ihr Konzept für die Hemisphäre und ihre Rolle in der Weltordnungspolitik im weiteren Sinne neu aus­richten. Der rein reaktive Handlungsmodus, das Vertrauen auf Sanktionen gegen Kuba, Nicaragua und Venezuela und die Gewährung bilateraler Präferenzen reichen nicht hin, um auf die Ansprüche in der Region zu antworten und erwartbare Turbulenzen aufzufangen. Hier ist die Biden-Administra­tion deutlich stärker gefordert, als auf dem Amerika-Gipfel deutlich wurde. Sie muss sich darauf einstellen, dass die Regierungen Lateinamerikas im Umgang mit den USA und China strategische Parallelagenden verfolgen, die sich in Teilen überlappen und daher kompetitiv angelegt sind, wäh­rend auf anderen Politikfeldern bestimmte exklusive Regeln dominieren. So sind Fra­gen der Drogenpolitik und der Sicherheitsinteressen stark durch das bilaterale Ver­hältnis zu den USA geprägt, während bei den Themen Handel, Investitionen und Innovation ein wettbewerblich geprägtes Beziehungsmuster vorherrschen dürfte.

Neugestaltung von Partner­schaf­ten – Herausforderung für Europa

Auch Europa wird sich diesem Muster der Beziehungsgestaltung seitens der Partner in Lateinamerika nicht entziehen können. Trotz langjähriger Präsenz in der Region haben die Europäer deutliche Positions­verluste bei Handel und Investitionen zu verzeichnen, die sich auch durch die Schaf­fung strategischer Partnerschaften nicht ausgleichen ließen. Die Ratifizierungsverfahren für die Assoziation der EU mit dem Mercosur und für die Modernisierung der Verträge mit Mexiko und Chile stagnieren; dies bildet keinen hilfreichen Kontext, um das Handeln eines geopolitisch aufgestellten Europas zu befördern. Das Gleiche gilt für die Debatten darüber, das EU-Mercosur-Abkommen aufzuspalten – in einen han­delspolitischen Teil auf der eine Seite und die weiteren Regelungen zum politischen Dialog sowie die Kooperationsagenda, die sich in zentraler Weise auf die Entwaldung im Amazonasgebiet bezieht, auf der ande­ren. Neben umweltpolitischen Aspekten blockieren jedoch auch weiterhin protek­tionistische Interessen eine vorläufige Inkraftsetzung des Abkommens. Das Euro­päische Parlament wie auch nationale Parlamente beklagen, dass klimapolitische Verpflichtungen missachtet werden; zudem haben sie Bedenken in menschenrecht­licher und demokratiepolitischer Hinsicht. Nach den Regelungen des European Green Deal sind alle globalen Handelsabkommen damit zu konditionieren, dass die Partner das Pariser Klimaabkommen ratifizieren und wirksam umsetzen. Daraus ergeben sich im Falle Brasiliens und Mexikos unlös­bare Probleme, da sich ihre Regierungen immer deutlicher von den entsprechenden Verpflichtungen entfernen.

Zunehmend wird erkennbar, wie wichtig Rohstoffe aus Lateinamerika wie Lithium, Niob, Kupfer, Bauxit und Eisenerz für die Energiewende und die Digitalisierung in Europa sind, zumal wenn im Zeichen des Ukraine-Krieges auch der Druck zur ener­getischen Versorgungssicherheit zunimmt. Die Neigung der Europäischen Kommission, aber auch einzelner EU-Mitgliedstaaten, nun mit Rohstoffkooperationen wieder näher an die Region heranzurücken, ist nachvollziehbar. Doch sind solche Avancen in den gegenwärtigen Formaten wenig aus­sichtsreich. Zum einen sind die dafür ein­gesetzten Instrumente nicht aufeinander abgestimmt – wie strategische Rohstoffpartnerschaften im Rahmen der European Raw Materials Alliance (ERMA) und die grünen Allianzen unter dem Dach des Euro­pean Green Deal. Zum anderen ist für die lateinamerikanischen Staaten kein konsis­tentes Erwartungsprofil der Europäer er­kennbar, wenn diese ihre Nachfrage nach Kohleimporten aus der Region erhöhen, gleichzeitig aber Fortschritte bei der dorti­gen Dekarbonisierung einfordern.

Wenn in Lateinamerika das geopolitische Erwachen Europas vor allem als wachsende Konkurrenz um Rohstoffe wahrgenommen wird, besteht die Gefahr eines einseitigen Profils, das mit dem etablierten Bild vom umwelt- und klimapolitischen Engagement nicht zur Deckung gebracht werden kann. Ein rein rohstoffpolitisch motiviertes Inter­esse an der Revitalisierung der europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen wäre jedoch abträglich für die Positionierung Europas in der Region; es bedarf einer Neu­gestaltung des europäischen Kooperationsangebotes. Europa muss hier ein neues Gesicht zeigen und sich deutlich von den Angeboten anderer Staaten unterscheiden. Als Region, die kaum Großunternehmen zur Rohstoffausbeutung besitzt, sollte Euro­pa sich bemühen, Rohstoffpolitik, Nachhaltigkeitsvorsorge und lokale bzw. regionale Wertschöpfung zu verbinden. Dies bedeutet vor allem eine Zusammenführung von außen-, wirtschafts- und entwicklungs­poli­tischen Interessen, die konkret mitein­ander zu verknüpfen sind und nicht mehr nur in nachgeordneten Abstufungen sicht­bar ge­macht werden dürfen.

Gefragt ist also ein integraler Ansatz, der verschiedene Instrumente kombiniert und gemeinsam mit den Stakeholdern vor Ort und in Europa zu entwickeln ist. Dabei muss auch die nachhaltigkeitsorientierte Entwicklungsfinanzierung neu gestaltet werden, denn die große Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten fällt als »middle-income countries« – wie erwähnt – aus den traditionellen Kriterien der finanziellen und technischen Zusammenarbeit heraus. Letztlich ist damit auf eine Fondslösung verwiesen, die sich aus Nach­haltigkeitsbonds finanzieren müsste. Auf diese Weise könnte zusammen mit inter­essierten Staaten der Region ein Koopera­tionsangebot aufgebaut werden, das sich jenseits der ausgelaugten Rohstoffpartnerschaften bewegt und zugleich den Wertschöpfungsinteressen der traditionellen Exportländer entgegenkommt. Eine solche europäisch-lateinamerikanische Rohstoff- und Nachhaltigkeitsfazilität könnte durch eine Innovationsdimension ergänzt und vorangetrieben werden, die sich unter Ein­beziehung technologischer Impulse am Beispiel des »grünen Wasserstoffs« entwi­ckeln ließe. In diesem Bereich bestehen viele Ansatzpunkte, die in einem gemeinsamen Rahmen überprüft und verdichtet werden könnten. Ein solcher innovativer Zugang könnte die traditionellen Verhärtungen hinsichtlich der blockierten Assozi­ierungsabkommen vermindern und neue Wege der Zusammenarbeit eröffnen.

Die europäisch-lateinamerikanischen Beziehungen müssen angesichts der geo­politischen Herausforderungen und der unterschiedlichen Antworten, die beidseits des Atlantiks darauf gegeben werden, in eine neue Entwicklungsphase treten. So muss gemeinsam ein flexibles Design ge­funden werden, das den jeweils national bestimmten Interessen lateinamerikanischer Staaten eine Opting-in- oder Opting-out-Modalität eröffnet und sie nicht mehr in feste subregionale Verbünde zwingt. Mit dieser Formgebung flexibler Geometrie könnte Europa einen eigenen Fußabdruck in einer gemeinsamen Entwicklung mit Lateinamerika bieten. Gefragt ist ein inte­grierter Ansatz, der europäische und latein­amerikanische Interessen aufnimmt und dabei auch private und zivilgesellschaft­liche Stakeholder erfasst, indem ihnen ebenso Mitwirkungsrechte eingeräumt wie Leistungsverpflichtungen (etwa bei der Ach­tung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten) abverlangt werden. Dies setzt einen vertieften und breiten Dialog voraus, der sich von etablierten Formaten ablöst und tragfähige Muster der Zusammenarbeit ermöglicht – jenseits des blockierten bi­regionalen Dialogs zwischen EU und CELAC auf Ebene der Präsidenten und jenseits vor­gegebener Förderlinien. Dafür könnten gute Partner in Lateinamerika gefunden werden, die zwar ihre nationale Autonomie be­wah­ren wollen, sich aber gerne an zukunfts­orientierter Kooperation beteiligen.

Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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