Der Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat Russland von der harten Autokratie in die Diktatur katapultiert. Totalitäre Tendenzen im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft nehmen zu. Dies geschah nicht aus heiterem Himmel: Die jetzige Kriegszensur und die Repressionen basieren auf Gesetzen, die seit Anfang der 2010er Jahre verabschiedet wurden. Mit der Entscheidung zum Krieg hat Wladimir Putin die russische Machtvertikale verabsolutiert. Die Negation von Recht schreitet noch schneller voran, die Propaganda ist allgegenwärtig und die Unterdrückung von unabhängigen Medien, Opposition, Zivilgesellschaft allumfassend. Während Putins Herrschaft wird sich daran nichts ändern. Doch der immense Druck, der durch den Krieg und die westlichen Sanktionen entstanden ist, könnte mittelfristig zu innenpolitischem Wandel und zum Ende des Putinschen Regimes führen. Die dann denkbaren Szenarien deuten eher auf Destabilisierung als auf Demokratisierung hin.
Die Sitzung des russischen nationalen Sicherheitsrates am 21. Februar 2022, die den Angriff auf die Ukraine vorbereitete, war eine umfassende Machtdemonstration des russischen Präsidenten: Wladimir Putin saß allein an einem Tisch in einem prunkvollen Kremlsaal und nahm den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates aus coronasicherer Entfernung reihum das Bekenntnis zur Anerkennung der »Volksrepubliken Donezk und Luhansk« durch die Russische Föderation ab. Versammelt waren die Spitzen der russischen Regierung, der beiden Parlamentskammern und der Sicherheitsdienste. Einigen war Unbehagen mit der Entscheidung des Präsidenten anzumerken, aber alle reihten sich hinter ihm ein und signalisierten so nicht nur die persönliche Unterordnung, sondern die der von ihnen vertretenen Institutionen unter Putins Willen. Deutlicher lässt sich das Bild der russischen Machtvertikale kaum zeichnen.
Verabsolutierung der Machtvertikale
Diese Machtvertikale ist das Strukturprinzip des russischen politischen Systems. Ihre Funktionslogik beruht auf der zentralen Ausrichtung aller Institutionen, Strukturen und Akteure in Politik und Wirtschaft auf die Person des Präsidenten. Der Entstehungsprozess der Vertikale begann in den frühen 2000er Jahren. Zu Anfang seiner Herrschaft brach Wladimir Putin die Macht vieler Gouverneure und konsolidierte die uneingeschränkte Vorherrschaft des föderalen Zentrums. Parallel zur Aushöhlung des Föderalismus stellte Putin die russischen Oligarchen vor die Wahl, sich entweder politisch unterzuordnen oder verfolgt bzw. aus dem Land gedrängt zu werden.
Mit dem Ende des Oligarchentums veränderte sich auch die Medienlandschaft, die in den 1990er Jahren noch von großer Freiheit gekennzeichnet war. Die Wirtschaftsimperien der meisten Oligarchen umfassten einflussreiche Medienanstalten. Ihre Zerschlagung in den frühen 2000er Jahren beendete diesen »oligarchischen Medienpluralismus«; der Staat übernahm immer mehr Kontrolle über den russischen Informationsraum.
Hinzu kamen die wachsende Manipulation und Fälschung von Wahlen, die Behinderung der politischen Opposition, die Etablierung von »Einiges Russland« als »Partei der Macht« und die Einengung der Zivilgesellschaft in den folgenden Jahren. Der Einfluss der Sicherheitsdienste dehnte sich aus; immer mehr enge Vertraute Putins besetzten Schaltstellen in Politik und Wirtschaft. So bildete sich eine neue Schicht politisch-wirtschaftlicher Akteure heraus, die die Gewinne aus den russischen Rohstoffexporten abschöpften und enorme Reichtümer anhäuften.
Die Präsidentschaft Dmitrij Medwedews 2008–2012 simulierte zum letzten Mal eine Phase größerer politischer Vielfalt. Spätestens mit der Rückkehr Wladimir Putins in den Kreml 2012, die von Massenprotesten gegen die gefälschte Dumawahl im Dezember 2011 und einer Welle harter Repressionen begleitet wurde, war die Machtvertikale jedoch endgültig etabliert. Die autokratische Zentralisierung und Personalisierung des politischen Systems schritt nun unaufhaltsam voran. Als Legitimationsquelle wurden zunehmend sogenannte konservative Werte sowie nationalistische Inhalte herangezogen. Versuche der Opposition, allen voran Alexej Nawalnys und seine Anhänger, politische Alternativen zur herrschenden Elite zu schaffen, wurden immer rigoroser unterdrückt.
Seit 2020 erlebte Russland mit der neuen russischen Verfassung und der beispiellosen Repressionswelle vor und nach den Staatsdumawahlen im September 2021 einen weiteren drastischen Autokratisierungsschub. Die Verfassungsreform ermöglichte es Putin, weit über die nächste Präsidentschaftswahl 2024 hinaus an der Macht zu bleiben. Diese Gewissheit allein stärkte seine ohnehin übermächtige Position noch einmal erheblich. Gewaltenteilung und unabhängige Justiz finden nicht statt. Die Wirtschaftselite, seit Jahren aufs engste mit dem Staat verflochten, stellt schon lange kein Gegengewicht mehr dar. Horizontale Strukturen zwischen Staat und Gesellschaft, wie Parteien und Nichtregierungsorganisationen, sind systematisch vernichtet worden. Alexej Nawalny wäre im August 2020 fast einem Mordanschlag zum Opfer gefallen und sitzt seit Januar 2021 in Haft. Seine politischen Organisationen sind zerschlagen.
Wladimir Putin hat sich in den Jahren der Corona-Pandemie immer weiter von den übrigen Institutionen und Akteuren des politischen Systems entfernt. Distanz und Isolation trugen dazu bei, die Hierarchie der Machtvertikale zu zementieren. Die Entscheidung zum Angriff auf die Ukraine ist in dieser Isolation gefallen und muss nun von den untergeordneten Instanzen des Systems mit allen Konsequenzen umgesetzt werden.
Negation von Recht
Lange hat die russische Autokratie mit Hilfe von »Rechtsakten« die Freiheitsrechte und das Recht auf politische Partizipation immer weiter eingeschränkt. Parlament und Staat haben über ein Jahrzehnt hinweg einen umfassenden Korpus repressiver Gesetze geschaffen. Dazu zählen das »Ausländische Agenten«-Gesetz und Gesetze zur Einschränkung von Versammlungs- und Informationsfreiheit sowie zu »extremistischen« und »unerwünschten« Organisationen. Schon vor dem Angriff waren also reichlich Instrumente vorhanden, um Opposition gegen den Krieg im Keim zu ersticken.
Viel war deshalb nicht mehr nötig, um die jetzt herrschende Kriegszensur einzuführen. Bereits am ersten Kriegstag, dem 24. Februar 2022, verpflichtete die Medienaufsichtsbehörde (Roskomnadzor) die russischen Massenmedien, ausschließlich offizielle russische Quellen für die Berichterstattung über die »militärische Spezialoperation« in der Ukraine zu nutzen. Die Verwendung der Begriffe »Krieg«, »Angriff« und »Invasion« wurde verboten.
Am 4. März beschloss die Staatsduma im Eilverfahren drastische Verschärfungen der Strafen für drei Vergehen: Die Verbreitung von Falschinformationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte kann nun mit Geldstrafen bis zu 700.000 Rubel (ungefähr 8.100 Euro) und Freiheitsstrafen von bis zu 15 Jahren (bei »besonders schweren Folgen«) geahndet werden. Für die öffentliche Diskreditierung der russischen Streitkräfte (einschließlich des Aufrufs zu nicht genehmigten öffentlichen Maßnahmen) können Geldstrafen von bis zu einer Million Rubel (rund 11.600 Euro) und Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren verhängt werden. Die gleichen Strafen drohen für den Aufruf zu Sanktionen gegen Russland.
In der Zwischenzeit sind landesweit über 180 Medien blockiert worden, unter ihnen die Flaggschiffe des russischen unabhängigen Journalismus, Radio Echo Moskwy und der Fernsehkanal TV Rain. Die Frequenz von Echo Moskwy wurde dem Propagandasender Russia Today zugeschlagen. TV Rain hatte seine Fernsehlizenz bereits 2014 wegen der kritischen Berichterstattung über die Krim-Annexion und den Krieg im Donbas verloren und arbeitete internetbasiert. Die traditionsreiche Nowaja Gazeta, deren Chefredakteur Dmitrij Muratow 2021 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, stellte wegen zweifacher Verwarnung durch Roskomnadzor ihre Arbeit für die Dauer der »Spezialoperation« ein. Darüber hinaus wurden westliche soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram und Twitter gesperrt, der Facebook-Konzern Meta wurde als extremistische Organisation eingestuft. Youtube, das viele heimatlos gewordene unabhängige Journalistinnen und Journalisten intensiv als Ausweichmedium nutzen, ist unmittelbar von der Blockade bedroht. Ohne Hilfsmittel wie VPN gibt es in Russland keinen Zugang mehr zu Informationen, die von der staatlichen Propaganda abweichen.
Das Ergebnis dieses Prozesses ist die vollständige Zerschlagung der unabhängigen Medien in Russland. Dutzende unabhängige Journalistinnen und Journalisten flohen ins Ausland. Dabei geht es nicht nur um die Vernichtung von Internetmedien, Zeitungen sowie Radio- und Fernsehstationen durch Blockade und Verbot. Unter den gegenwärtigen Bedingungen in Russland birgt jeder Versuch, professionellen und unabhängigen Journalismus zu betreiben, ein existentielles Risiko.
Das Ende der russischen Mitgliedschaft im Europarat ist ein weiterer Schritt in Richtung Rechtlosigkeit. Bereits am 25. Februar hatte das Ministerkomitee des Europarats beschlossen, der Russischen Föderation das Recht auf Vertretung zu entziehen. Das war 2014 nach der russischen Annexion der Krim schon einmal geschehen. 2019 wurde Russlands Stimmrecht restituiert. Nun vollzogen beide Seiten die endgültige Trennung. Am 15. März erklärten Ministerrat und Parlamentarische Versammlung des Europarats, Russland könne angesichts seines fundamentalen Bruchs mit der europäischen Friedensordnung kein Mitglied der Organisation mehr sein, und Russland verkündete seinerseits den Austritt aus der Organisation.
Damit verlieren russische Bürgerinnen und Bürger nach einer Übergangsfrist von sechs Monaten, also ab dem 16. September 2022, die Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anzurufen. Derzeit sind noch rund 18.000 Beschwerden aus Russland beim EGMR anhängig, darunter mehrere Eingaben von Alexej Nawalny. Es ist fraglich, ob in der kurzen verbleibenden Frist noch Urteile gefällt und auch von der russischen Regierung umgesetzt werden. Russland ist mit dem Ende seiner Europarats-Mitgliedschaft nicht mehr an die europäische Menschenrechtskonvention gebunden.
Schließlich eröffnet der Ausstieg dem russischen Staat die Möglichkeit, zur Todesstrafe zurückzukehren. Sie ist Teil des russischen Rechtssystems, war aber wegen des Beitritts zum Europarat 1996 und im Zusammenhang mit dem Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU seit den 1990er Jahren ausgesetzt. Je nachdem, wie sich die innenpolitische Situation entwickelt, kann die Rückkehr zur Todesstrafe in Russland nicht ausgeschlossen werden.
Allgegenwart von Propaganda und Geschichtsideologie
Mit dem Krieg hat sich die antiukrainische Propaganda in Russland noch einmal deutlich gesteigert. In den Tagen vor dem Überfall wurde vermehrt behauptet, die »faschistische Junta in Kyjiw« verübe Genozid an der russischstämmigen und russischsprachigen Bevölkerung im Donbas. Außerdem drehte die russische Propaganda ein Argument zu ihren Gunsten, das bis dato eher im ukrainischen und im westlichen Diskurs zu finden war: Krieg und Leid im Donbas dauerten schon acht Jahre – deshalb sei die Zeit gekommen, die Menschen dort endlich von der Bedrohung durch »Faschisten in Kyjiw« zu befreien.
Der Faschismusbezug macht die russische »Spezialoperation« anschlussfähig an andere Stränge der staatlichen Propaganda. Der sowjetische Sieg gegen den Faschismus im »Großen Vaterländischen Krieg« (die russische Bezeichnung für den Zweiten Weltkrieg) ist spätestens seit 2014 eine zentrale Säule der staatlichen Legitimitätserzählung. Seit 2020 hat seine Bedeutung weiter zugenommen. Die propagandistische Aufbereitung des 75. Jahrestages des Kriegsendes verschwamm nicht nur mit der Verfassungsreform (Putin müsse Präsident bleiben, weil nur er Russland vor einer feindlichen Umwelt schützen könne), sondern auch mit dem Kampf gegen die Covid-19-Pandemie, den Putin im Sommer 2020 anlässlich der Registrierung des russischen Impfstoffs Sputnik V für erfolgreich beendet erklärte. Martialische Darstellungen sowjetischer Heldentaten finden sich überall im öffentlichen Raum, nationalistisch-militaristische Inhalte sind in den vergangenen Jahren immer weiter in das Bildungssystem und andere Lebensbereiche eingedrungen.
Die zweite Säule, auf der diese propagandistische Erzählung aufruht, ist die von der Verteidigung gegen die umfassende antirussische Aggression des Westens. In diesem Kontext erscheint die Ukraine nicht als eigenständiger Akteur, sondern als Instrument Washingtons, das eingesetzt wird, um Russland in die Knie zu zwingen. Demnach »verteidigt« Russland in der Ukraine nicht nur seine »Landsleute« gegen die »faschistische Clique« in Kyjiw, sondern auch sich selbst gegen die aggressive Politik der USA und des »kollektiven Westens«.
Dieses Grundgerüst der russischen Propagandaerzählung, aus der sich die russischen Kriegsziele »Entnazifizierung« und Entmilitarisierung der Ukraine ableiten lassen, findet sich in den Reden, die Wladimir Putin seit Februar 2022 gehalten hat. Die staatlich kontrollierten Medien gehen darüber teilweise noch hinaus, indem sie dazu aufrufen, die »Entnazifizierung« auf die gesamte ukrainische Gesellschaft auszudehnen. Putin droht Gegnerinnen und Gegnern des Krieges in Russland immer unverhohlener. Diese »fünfte Kolonne« von »Verrätern« müsse »ausgespuckt werden wie eine Fliege«. Die russische Propagandasprache wird immer stärker von faschistoid anmutenden Wendungen über Reinheit und Säuberung von »schädlichen Elementen« durchzogen. Das »Z«-Symbol (»Za pobedu!« – »Für den Sieg!«), das wenige Tage nach Kriegsbeginn zum Hauptsymbol für die Unterstützung der »Spezialoperation« wurde, erscheint überall im öffentlichen Raum.
Seit Beginn des Angriffs ist die Kriegspropaganda allgegenwärtig. Die staatlich kontrollierten Fernsehsender strahlen keine Unterhaltungssendungen mehr aus. Stattdessen ist das gesamte Programm bestimmt von der Berichterstattung über den Fortgang der »Spezialoperation« und politisch-propagandistischen Talkshows. Nach der Zerschlagung der unabhängigen Medien sind sie der einzig verbliebene Informationsraum, der russischen Bürgerinnen und Bürgern leicht zugänglich ist. Schulen erhielten bereits in den ersten Tagen des Krieges Anweisungen des Bildungsministeriums, wie Lehrstunden über die »Spezialoperation« in ihre Lehrpläne einzubauen seien. Auch Universitäten und andere Einrichtungen des Bildungsbereichs sind angehalten, »patriotische Aktionen« zu unterstützen. Staatsangestellte werden aufgefordert, das »Z«-Symbol aktiv einzusetzen. Die Massenveranstaltung zum achten Jahrestag der Krim-Annexion am 18. März 2022 im Moskauer Luschniki-Stadion steht für einen Personenkult, der um den russischen Präsidenten aufgebaut wird.
Umfassende Unterdrückung von gesellschaftlichem Widerstand
Während der ersten Tage nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine regte sich in der russischen Gesellschaft breiter Widerstand gegen den Krieg. In den sozialen Netzwerken wurde das Hashtag #нетвойне (#neinzumkrieg) im ganzen Land tausendfach geteilt. Internet-Petitionen und andere Initiativen sammelten Hunderttausende Unterschriften.
Demonstrationen sind wegen der repressiven Gesetzgebung in Russland kaum noch möglich. Öffentliche Kundgebungen müssen genehmigt werden – was dem Staat die Möglichkeit gibt, sie von vornherein zu unterbinden. Aufruf zu und Teilnahme an nicht genehmigten »öffentlichen Maßnahmen« kann Ordnungs- und (im Wiederholungsfall) Haftstrafen von mittlerweile bis zu 15 Jahren nach sich ziehen. Bereits 2021 wurden Tausende Russinnen und Russen wegen ihrer Beteiligung an Pro-Nawalny-Protesten belangt. Viele Menschen dürften schon allein deshalb kaum noch Motivation verspüren, auf die Straße zu gehen. Dennoch kam es in den ersten Kriegstagen in vielen Städten Russlands zu öffentlichen Protesten. Dafür stehen auch die über 15.400 Festnahmen, die die Menschenrechtsorganisation OVD-Info seit dem 24. Februar 2022 zählte.
Viele Menschen, die an Protesten teilnahmen, sich im Internet, in Petitionen oder auf andere Weise kritisch zum Krieg äußerten oder sich an Universitäten, Schulen, Kultureinrichtungen oder in anderen Kontexten den neuen Sprachregelungen und Vorgaben zu entziehen versuchten, bekamen umgehend Konsequenzen zu spüren. Sie wurden von Sicherheitskräften aufgesucht, von Arbeitgebern abgemahnt, bedroht, manche wurden tätlich angegriffen. Kulturschaffende, Lehrende an Universitäten und Schulen, Journalistinnen und Journalisten der staatlich kontrollierten Medien und andere wurden entlassen oder kündigten von sich aus. Die Gesetze gegen »Falschinformationen über den Krieg« und »Diskreditierung der Streitkräfte« taten das ihre, um andersdenkende Menschen zum Schweigen zu bringen.
Schock, Repressionen, Zensur, aber auch die unmittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen der westlichen Sanktionen veranlassten Tausende von Russinnen und Russen, sich in den ersten Kriegswochen außer Landes zu begeben. Diese Fluchtbewegung sucht in der postsowjetischen Geschichte des Landes ihresgleichen. Sie umfasst bislang vor allem politische und zivilgesellschaftliche Akteure, unabhängige Journalistinnen und Journalisten, aber auch viele politisch nicht organisierte Menschen, die für sich keinerlei Zukunft mehr in Russland sehen und es sich leisten können, ins Ausland zu gehen. Junge Männer fliehen, um dem Militärdienst zu entrinnen. Jüdische Menschen nutzen die Möglichkeit, nach Israel auszuwandern. Bereits in den vergangenen Jahren hat die Zahl der Anträge auf israelische Staatsbürgerschaft kontinuierlich zugenommen.
Es ist davon auszugehen, dass noch weit mehr Menschen Russland den Rücken kehren werden, wenn sie die Chance dazu haben. Der ins Totalitäre kippende Staat hat endgültig die Grenze zwischen öffentlich und privat überschritten. Auch politisch nicht aktive Menschen mit abweichender Meinung sehen sich massiven Anfeindungen, Verleumdungen und Denunzierungen ausgesetzt. Sie können sich nicht mehr wie bisher in ihre privaten Nischen zurückziehen. Daher werden viele von ihnen versuchen, das Land zu verlassen. Immer mehr Berufsgruppen werden betroffen sein. Die Emigrationswelle im Gefolge des russischen Angriffs auf die Ukraine hat erst begonnen. Sie könnte ähnliche Ausmaße annehmen wie der Exodus, der zwischen 1917 und 1922 durch Revolution und Bürgerkrieg ausgelöst wurde.
Brüchige gesellschaftliche Konsolidierung
Der russische Staat hat in etwas mehr als einer Woche, zwischen dem 24. Februar und dem 4. März 2022, die Antikriegsstimmung in Teilen der Gesellschaft unterdrückt und Hunderttausende ins Ausland gedrängt. Auch wenn allem Anschein nach eine Mehrheit der russischen Bevölkerung den Krieg gutheißt, wirft dies doch ein anderes Licht auf die Umfrageergebnisse, die seit Ende Februar den kontinuierlich wachsenden Rückhalt für den Krieg und für die russische politische Führung belegen. Laut den staatsnahen Meinungsforschungsinstituten VZIOM und FOM nahm der Anteil der Befürworter und Befürworterinnen der »Spezialoperation« zwischen dem 27. Februar und Ende März von 65 auf 73 Prozent zu. Im etwa gleichen Zeitraum stieg die Unterstützung für den russischen Präsidenten von 62 Prozent vor Kriegsausbruch auf 82 Prozent Anfang April. Das unabhängige Lewada-Institut kommt zu noch eindeutigeren Ergebnissen: Laut einer am 31. März 2022 veröffentlichten Umfrage sprachen sich 81 Prozent der Befragten für den Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine aus und 83 Prozent für die Politik des russischen Präsidenten. In diesen Zahlen zeichnet sich eine gesellschaftliche Konsolidierung ab, die jener nach der Annexion der Krim ähnelt.
Drei Faktoren verstärken diesen Effekt: Viele Menschen glauben der offiziellen Behauptung, die westlichen Sanktionen seien mutwillige Strafaktionen des ohnehin russlandfeindlichen Westens, gegen die Russland sich verteidigen müsse. Außerdem steigt der Anteil der Befragten, die sich von den westlichen Sanktionen betroffen sehen. Und gleichzeitig hat sich seit Kriegsbeginn die Haltung zum Westen noch einmal drastisch verschlechtert.
Große Teile der russischen Gesellschaft wenden sich derzeit also noch weiter vom Westen ab und machen die westlichen Sanktionen für ihre sich verschlechternden Lebensverhältnisse verantwortlich. Das betrifft auch Menschen, die zuvor eine nicht unkritische Position gegenüber der politischen Führung hatten. Die offensichtliche Isolation von der westlichen Welt dürfte außerdem den Konformismus innerhalb Russlands weiter verstärken. Schließlich dürfte das durch die Brutalität des Krieges ausgelöste Trauma der russischen Gesellschaft bei vielen Menschen zur reflexhaften Weigerung führen, die Schuld anzuerkennen, die Russland mit dem Angriff auf die Ukraine auf sich geladen hat.
Trotzdem sollten die Umfrageergebnisse mit Vorsicht behandelt werden. Diktatorisches politisches Umfeld und allgegenwärtige Propaganda schränken die Aussagekraft von Umfragen von vornherein ein. Meinungsforscher und ‑forscherinnen können in diesem Umfeld nicht mit direkten Fragen zum Krieg arbeiten, was die Ergebnisse verzerrt. Einschüchterung und Angst vor direkten Repressionen fördern affirmative Antworten und senken die Bereitschaft der Menschen, sich überhaupt an Umfragen zu beteiligen oder gar kritische Meinungen offen zu äußern. Unabhängige Soziologen und Soziologinnen weisen deshalb darauf hin, dass große Teile der russischen Bevölkerung in erster Linie politisch apathisch sind und Konflikten mit dem Staat ausweichen möchten. Die vordergründige Konsolidierung der russischen Gesellschaft um Putin und seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit brüchiger, als die zitierten Umfrageergebnisse suggerieren.
Politischer Wandel in Russland – wann und in welche Richtung?
Wladimir Putin und sein Umfeld haben mit der Entscheidung zum Überfall auf die Ukraine das eigene Land von der Autokratie in die Diktatur und an den Rand des Abgrunds geführt. Russland steht unter enormem Druck, denn die westlichen Sanktionen werden die russische Wirtschaft in den kommenden Monaten in eine tiefe Rezession stürzen. Die Lebensverhältnisse der russischen Bevölkerung befanden sich bereits über zehn Jahre im Sinkflug – sie werden sich im Zuge der Wirtschaftskrise weiter dramatisch verschlechtern. Auch die Gewinne aus den Rohstoffexporten, mit deren informeller Umverteilung die russische Elite bislang zufriedengestellt wurde, werden drastisch schrumpfen. Je länger der Krieg dauert, desto mehr russische Familien werden gefallene Soldaten zu betrauern haben. Bislang gelingt es der politischen Führung in Moskau fast vollständig, den Umgang mit den russischen Kriegstoten an die regionalen und lokalen Ebenen zu delegieren. Die wiederum üben Druck auf die betroffenen Familien aus, damit keine Öffentlichkeit entsteht. Es bleibt abzuwarten, wie lange dies funktionieren kann.
Diese Frage stellt sich auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Staat, Eliten und Gesellschaft insgesamt. Gewalt, Repression und totalitäre Propaganda sind die einzigen Herrschaftsinstrumente, mit denen das russische Regime jetzt noch Stabilität herstellen kann. Der Krieg gegen die Ukraine wird sich aller Voraussicht nach in die Länge ziehen. Die Unterdrückung in Russland wird sich verschärfen. Die vergangenen anderthalb Monate haben gezeigt, dass Moskau damit kurzfristig erfolgreich sein kann. Mittelfristig gerät das russische Regime aber mit jedem Tag, den der Krieg andauert, in immer größere Gefahr.
Käme es infolge des Überfalls auf die Ukraine zu politischem Wandel in Russland, muss man sich auf unterschiedliche Szenarien einstellen – und Positivszenarien sind dabei nicht die plausibelsten. Drei Aspekte sind zu bedenken:
1. Die Machtvertikale ist akut einsturzgefährdet, wenn sie von der Spitze her ins Wanken gerät. Sollte das russische politische System dem Druck nicht mehr standhalten und implodieren, müsste mit einer weitreichenden Destabilisierung des Landes gerechnet werden. Regionale Absetzbewegungen, Gewalt bis hin zu Bürgerkrieg wären nicht auszuschließen. Das größte Risiko in diesem Kontext stellt das Terrorregime Ramsan Kadyrows in Tschetschenien dar.
2. Die überwältigende Mehrheit der russischen politischen Elite teilt das Weltbild Wladimir Putins. Eine von Elitengruppen verhandelte politische Transition wäre deshalb keine Garantie für einen substantiellen Politikwechsel – vor allem im Hinblick auf die Außenpolitik, die Ukraine und die russische Nachbarschaft.
3. Der Übergang zu diktatorischen Verhältnissen hat die Atomisierung der russischen Gesellschaft ins Extreme gesteigert. Es existieren keine horizontalen Strukturen mehr, über die eine abweichende gesellschaftliche Willensbildung stattfinden und politisch wirksam werden könnte. Die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Selbstorganisation hat einen Nullpunkt erreicht. Es gibt deshalb wenig Aussicht auf eine konstruktive Rolle der russischen Gesellschaft in einem politischen Wandlungsprozess – weniger noch als in der späten Sowjetunion.
All das sind keine Argumente gegen Sanktionen. Deutschland und seine Partner müssen alles daran setzen, Russland die Befähigung zum Krieg gegen die Ukraine zu nehmen. Gleichzeitig muss man sich dafür wappnen, dass politischer Wandel in Russland, wenn er denn stattfindet, weitere große Herausforderungen bedeuten wird. Die Arbeit mit aus Russland geflohenen demokratischen Politikern und Politikerinnen, unabhängigen Medien und zivilgesellschaftlichen Akteuren, ihre aktive und unbürokratische Unterstützung beim Aufbau von Exilstrukturen ist ein Weg, sich auf diese Herausforderungen vorzubereiten.
Dr. Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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doi: 10.18449/2022A31