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Russland auf dem Weg in die Diktatur

Innenpolitische Auswirkungen des Angriffs auf die Ukraine

SWP-Aktuell 2022/A 31, 19.04.2022, 7 Seiten

doi:10.18449/2022A31

Forschungsgebiete

Der Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat Russland von der harten Auto­kratie in die Diktatur katapultiert. Totalitäre Tendenzen im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft nehmen zu. Dies geschah nicht aus heiterem Himmel: Die jetzige Kriegs­zensur und die Repressionen basieren auf Gesetzen, die seit Anfang der 2010er Jahre verabschiedet wurden. Mit der Entscheidung zum Krieg hat Wladimir Putin die rus­sische Machtvertikale verabsolutiert. Die Negation von Recht schreitet noch schneller voran, die Propaganda ist allgegenwärtig und die Unterdrückung von unabhängigen Medien, Opposition, Zivilgesellschaft allumfassend. Während Putins Herrschaft wird sich daran nichts ändern. Doch der immense Druck, der durch den Krieg und die west­lichen Sanktionen entstanden ist, könnte mittelfristig zu innen­politischem Wandel und zum Ende des Putinschen Regimes führen. Die dann denk­baren Szena­rien deuten eher auf Destabilisierung als auf Demokratisierung hin.

Die Sitzung des russischen nationalen Sicherheitsrates am 21. Februar 2022, die den Angriff auf die Ukraine vorbereitete, war eine umfassende Machtdemonstration des russischen Präsidenten: Wladimir Putin saß allein an einem Tisch in einem prunk­vollen Kremlsaal und nahm den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates aus coro­na­sicherer Entfernung reihum das Be­kennt­nis zur Anerkennung der »Volks­republiken Donezk und Luhansk« durch die Russische Föderation ab. Versammelt waren die Spit­zen der russischen Regierung, der beiden Parlamentskammern und der Sicherheitsdienste. Einigen war Unbehagen mit der Entscheidung des Präsidenten an­zumerken, aber alle reihten sich hinter ihm ein und signalisierten so nicht nur die per­sönliche Unterordnung, sondern die der von ihnen vertretenen Institutionen unter Putins Willen. Deutlicher lässt sich das Bild der russischen Machtvertikale kaum zeichnen.

Verabsolutierung der Machtvertikale

Diese Machtvertikale ist das Strukturprinzip des russischen politischen Systems. Ihre Funktionslogik beruht auf der zentralen Aus­richtung aller Institutionen, Strukturen und Akteure in Politik und Wirt­schaft auf die Person des Präsidenten. Der Entstehungs­prozess der Vertikale begann in den frühen 2000er Jahren. Zu Anfang sei­ner Herr­schaft brach Wla­dimir Putin die Macht vieler Gou­verneure und konsolidierte die unein­­geschränkte Vor­herrschaft des födera­len Zentrums. Parallel zur Aushöhlung des Födera­lismus stellte Putin die russi­schen Olig­archen vor die Wahl, sich ent­weder poli­tisch unterzuordnen oder ver­folgt bzw. aus dem Land gedrängt zu werden.

Mit dem Ende des Oligarchentums ver­änder­te sich auch die Medienlandschaft, die in den 1990er Jahren noch von großer Frei­heit gekennzeichnet war. Die Wirtschafts­imperi­en der meisten Oligarchen umfassten einflussreiche Medienanstalten. Ihre Zer­schlagung in den frühen 2000er Jahren be­endete diesen »oligarchischen Medienpluralismus«; der Staat übernahm immer mehr Kontrolle über den russischen Infor­ma­tions­raum.

Hinzu kamen die wach­sende Manipulation und Fälschung von Wahlen, die Be­hinderung der politischen Opposition, die Etablierung von »Einiges Russland« als »Partei der Macht« und die Einengung der Zivilgesellschaft in den folgenden Jah­ren. Der Einfluss der Sicher­heitsdienste dehnte sich aus; immer mehr enge Vertraute Putins besetzten Schaltstellen in Politik und Wirt­schaft. So bildete sich eine neue Schicht poli­tisch-wirtschaftlicher Akteure heraus, die die Gewinne aus den russischen Roh­stoff­exporten abschöpften und enorme Reich­tümer anhäuften.

Die Präsidentschaft Dmitrij Medwedews 2008–2012 simulierte zum letzten Mal eine Phase größerer politischer Vielfalt. Spätestens mit der Rückkehr Wladimir Putins in den Kreml 2012, die von Massenprotesten gegen die gefälschte Dumawahl im Dezem­ber 2011 und einer Welle harter Repressionen begleitet wurde, war die Machtvertikale jedoch endgültig etabliert. Die autokratische Zentralisierung und Personalisierung des politischen Systems schritt nun unauf­haltsam voran. Als Legi­timationsquelle wurden zunehmend so­genannte konservative Werte sowie natio­na­listische Inhalte herangezogen. Versuche der Opposition, allen voran Alexej Nawalnys und seine Anhänger, politische Alter­nativen zur herrschenden Elite zu schaffen, wurden immer rigoroser unterdrückt.

Seit 2020 erlebte Russland mit der neuen russischen Verfassung und der beispiel­losen Repressionswelle vor und nach den Staats­dumawahlen im September 2021 einen wei­teren drastischen Autokratisierungsschub. Die Verfassungsreform ermög­lichte es Putin, weit über die nächste Präsi­dentschaftswahl 2024 hinaus an der Macht zu bleiben. Diese Gewissheit allein stärkte seine ohnehin übermächtige Posi­tion noch einmal erheb­lich. Gewaltenteilung und unabhängige Justiz finden nicht statt. Die Wirtschaftselite, seit Jahren aufs engste mit dem Staat ver­flochten, stellt schon lange kein Gegen­gewicht mehr dar. Horizontale Strukturen zwischen Staat und Gesellschaft, wie Par­teien und Nichtregierungsorganisationen, sind systematisch vernichtet wor­den. Alexej Nawalny wäre im August 2020 fast einem Mordanschlag zum Opfer gefallen und sitzt seit Januar 2021 in Haft. Seine politischen Organisationen sind zerschlagen.

Wladimir Putin hat sich in den Jahren der Corona-Pandemie immer weiter von den übrigen Institutionen und Akteuren des politischen Systems entfernt. Distanz und Isolation tru­gen dazu bei, die Hier­archie der Machtverti­kale zu zementieren. Die Entscheidung zum Angriff auf die Ukraine ist in dieser Isolation gefallen und muss nun von den untergeordneten Instan­zen des Systems mit allen Konsequenzen um­gesetzt werden.

Negation von Recht

Lange hat die russische Autokratie mit Hilfe von »Rechtsakten« die Freiheitsrechte und das Recht auf politische Partizi­pation immer weiter eingeschränkt. Parla­ment und Staat haben über ein Jahrzehnt hinweg einen umfassenden Korpus repres­siver Gesetze geschaffen. Dazu zählen das »Aus­ländische Agenten«-Gesetz und Gesetze zur Einschrän­kung von Versammlungs- und Informa­tionsfreiheit sowie zu »extre­mistischen« und »unerwünschten« Organi­sationen. Schon vor dem Angriff waren also reichlich Instrumente vorhanden, um Opposition gegen den Krieg im Keim zu ersticken.

Viel war deshalb nicht mehr nötig, um die jetzt herrschende Kriegszensur ein­zu­führen. Bereits am ersten Kriegstag, dem 24. Februar 2022, ver­pflichtete die Medien­aufsichtsbehörde (Ros­komnadzor) die russischen Massen­medien, ausschließlich offi­­zielle russische Quellen für die Bericht­erstattung über die »militärische Spezial­operation« in der Ukraine zu nutzen. Die Verwendung der Begriffe »Krieg«, »Angriff« und »Invasion« wurde verboten.

Am 4. März beschloss die Staatsduma im Eilverfahren drastische Verschärfungen der Strafen für drei Ver­gehen: Die Verbreitung von Falschinformationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte kann nun mit Geldstrafen bis zu 700.000 Rubel (ungefähr 8.100 Euro) und Freiheitsstrafen von bis zu 15 Jahren (bei »besonders schweren Folgen«) geahndet werden. Für die öffent­liche Dis­kreditierung der russischen Streitkräfte (einschließlich des Aufrufs zu nicht geneh­migten öffentlichen Maßnahmen) können Geldstrafen von bis zu einer Million Rubel (rund 11.600 Euro) und Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren ver­hängt werden. Die glei­chen Strafen drohen für den Aufruf zu Sanktionen gegen Russ­land.

In der Zwischenzeit sind landesweit über 180 Medien blockiert worden, unter ihnen die Flaggschiffe des russischen unabhängigen Journalismus, Radio Echo Moskwy und der Fernsehkanal TV Rain. Die Frequenz von Echo Moskwy wurde dem Propagandasender Russia Today zugeschlagen. TV Rain hatte seine Fernsehlizenz bereits 2014 wegen der kritischen Berichterstattung über die Krim-Annexion und den Krieg im Donbas ver­lo­ren und arbeitete internetbasiert. Die tradi­tionsreiche Nowaja Gazeta, deren Chef­redakteur Dmitrij Muratow 2021 mit dem Frie­densnobelpreis ausgezeichnet worden war, stellte wegen zweifacher Verwarnung durch Roskomnadzor ihre Arbeit für die Dauer der »Spezialoperation« ein. Darüber hinaus wurden westliche soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram und Twitter ge­sperrt, der Facebook-Konzern Meta wurde als extre­mistische Organisation eingestuft. Youtube, das viele heimat­los gewordene unabhängige Journalistin­nen und Journalisten inten­siv als Ausweichmedium nutzen, ist un­mittelbar von der Blockade bedroht. Ohne Hilfsmittel wie VPN gibt es in Russland keinen Zugang mehr zu Informationen, die von der staat­lichen Propaganda abweichen.

Das Ergebnis dieses Prozesses ist die voll­ständige Zerschlagung der unabhängigen Medien in Russland. Dutzende unabhängige Journalistinnen und Journalisten flohen ins Aus­land. Dabei geht es nicht nur um die Vernichtung von Inter­netmedien, Zei­tungen sowie Radio- und Fernseh­stationen durch Blockade und Verbot. Unter den gegenwärtigen Bedingungen in Russland birgt jeder Versuch, professionellen und unabhängigen Journalismus zu betreiben, ein existentielles Risiko.

Das Ende der russischen Mitgliedschaft im Europarat ist ein weiterer Schritt in Rich­tung Rechtlosigkeit. Bereits am 25. Feb­ruar hatte das Ministerkomitee des Euro­parats beschlossen, der Russischen Föde­ra­tion das Recht auf Vertretung zu ent­ziehen. Das war 2014 nach der russischen Annexion der Krim schon einmal geschehen. 2019 wurde Russlands Stimmrecht restituiert. Nun voll­zogen beide Seiten die endgültige Trennung. Am 15. März erklär­ten Ministerrat und Par­lamentarische Ver­sammlung des Europarats, Russland könne angesichts seines fun­damentalen Bruchs mit der europäischen Friedensordnung kein Mitglied der Organi­sation mehr sein, und Russland verkündete seinerseits den Aus­tritt aus der Organisation.

Damit verlieren russische Bürgerinnen und Bürger nach einer Übergangsfrist von sechs Mona­ten, also ab dem 16. September 2022, die Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anzurufen. Derzeit sind noch rund 18.000 Beschwerden aus Russland beim EGMR an­hängig, dar­unter mehrere Eingaben von Alexej Nawalny. Es ist frag­lich, ob in der kurzen verbleibenden Frist noch Urteile gefällt und auch von der russischen Regie­rung um­gesetzt werden. Russland ist mit dem Ende seiner Europarats-Mitgliedschaft nicht mehr an die europäische Menschenrechtskonvention gebunden.

Schließlich eröffnet der Ausstieg dem rus­sischen Staat die Möglichkeit, zur Todes­strafe zurückzukehren. Sie ist Teil des russi­schen Rechtssystems, war aber wegen des Beitritts zum Europarat 1996 und im Zu­sammenhang mit dem Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU seit den 1990er Jahren ausgesetzt. Je nach­dem, wie sich die innenpolitische Situation ent­wickelt, kann die Rückkehr zur Todes­strafe in Russland nicht ausgeschlossen werden.

Allgegenwart von Propaganda und Geschichtsideologie

Mit dem Krieg hat sich die antiukrainische Propaganda in Russland noch einmal deut­lich gesteigert. In den Tagen vor dem Über­fall wurde vermehrt behauptet, die »faschi­stische Junta in Kyjiw« verübe Genozid an der russischstämmigen und russischsprachi­gen Bevölkerung im Donbas. Außerdem drehte die russische Propaganda ein Argu­ment zu ihren Gun­sten, das bis dato eher im ukrainischen und im westlichen Diskurs zu finden war: Krieg und Leid im Donbas dauerten schon acht Jahre – deshalb sei die Zeit gekommen, die Menschen dort end­lich von der Bedrohung durch »Faschisten in Kyjiw« zu befreien.

Der Faschismusbezug macht die russische »Spezialoperation« anschlussfähig an andere Stränge der staatlichen Propaganda. Der sowjetische Sieg gegen den Faschismus im »Großen Vaterländischen Krieg« (die rus­sische Bezeichnung für den Zweiten Welt­krieg) ist spätestens seit 2014 eine zentrale Säule der staatlichen Legitimitätserzählung. Seit 2020 hat seine Bedeutung weiter zu­ge­nommen. Die propagandistische Auf­berei­tung des 75. Jahrestages des Kriegsendes verschwamm nicht nur mit der Verfassungs­reform (Putin müsse Präsident bleiben, weil nur er Russland vor einer feind­lichen Um­welt schützen könne), son­dern auch mit dem Kampf gegen die Covid-19-Pandemie, den Putin im Sommer 2020 anlässlich der Registrierung des rus­sischen Impfstoffs Sputnik V für erfolgreich been­det erklärte. Martialische Darstellungen sowjetischer Heldentaten finden sich über­all im öffent­lichen Raum, natio­nalistisch-militaristische Inhalte sind in den vergangenen Jahren immer weiter in das Bildungs­system und andere Lebensbereiche eingedrungen.

Die zweite Säule, auf der diese propagan­distische Erzäh­lung aufruht, ist die von der Verteidigung gegen die umfassende anti­russische Aggression des Westens. In diesem Kontext erscheint die Ukraine nicht als eigen­ständiger Akteur, sondern als Instru­ment Washingtons, das eingesetzt wird, um Russland in die Knie zu zwingen. Dem­nach »verteidigt« Russland in der Ukraine nicht nur seine »Landsleute« gegen die »faschistische Clique« in Kyjiw, sondern auch sich selbst gegen die aggressive Politik der USA und des »kollektiven Westens«.

Dieses Grundgerüst der russischen Propa­gandaerzählung, aus der sich die russischen Kriegsziele »Entnazifizierung« und Entmili­tarisierung der Ukraine ablei­ten lassen, fin­det sich in den Reden, die Wladimir Putin seit Februar 2022 gehalten hat. Die staatlich kontrollierten Medien gehen darüber teil­weise noch hinaus, indem sie dazu auf­rufen, die »Entnazifizierung« auf die gesamte ukrainische Gesellschaft auszudehnen. Putin droht Gegnerinnen und Gegnern des Krieges in Russland immer unverhohlener. Diese »fünfte Kolonne« von »Verrätern« müsse »ausgespuckt werden wie eine Fliege«. Die russische Propagandasprache wird immer stärker von faschis­toid anmutenden Wendungen über Rein­heit und Säuberung von »schädlichen Elementen« durchzogen. Das »Z«-Symbol (»Za pobedu!« – »Für den Sieg!«), das wenige Tage nach Kriegsbeginn zum Hauptsymbol für die Unterstützung der »Spezialoperation« wurde, erscheint überall im öffentlichen Raum.

Seit Beginn des Angriffs ist die Kriegspropaganda allgegenwärtig. Die staatlich kontrollierten Fernsehsender strahlen keine Unterhaltungssendungen mehr aus. Statt­dessen ist das gesamte Programm bestimmt von der Berichterstattung über den Fort­gang der »Spezialoperation« und politisch-propagandistischen Talkshows. Nach der Zerschlagung der unabhängigen Medien sind sie der einzig verbliebene Informations­raum, der russischen Bür­gerinnen und Bür­gern leicht zugänglich ist. Schulen erhiel­ten bereits in den ersten Tagen des Krieges Anweisungen des Bildungsministeriums, wie Lehrstunden über die »Spezialopera­tion« in ihre Lehr­pläne einzubauen seien. Auch Universitäten und andere Einrichtungen des Bildungs­bereichs sind angehalten, »patriotische Aktionen« zu unterstützen. Staatsangestellte werden aufgefordert, das »Z«-Symbol aktiv einzusetzen. Die Massenveranstaltung zum achten Jahrestag der Krim-Annexion am 18. März 2022 im Mos­kauer Luschniki-Stadion steht für einen Personenkult, der um den russischen Präsi­denten auf­gebaut wird.

Umfassende Unterdrückung von gesellschaftlichem Widerstand

Während der ersten Tage nach Beginn des An­griffs auf die Ukraine regte sich in der russischen Gesellschaft breiter Widerstand gegen den Krieg. In den sozialen Netz­werken wurde das Hashtag #нетвойне (#nein­zumkrieg) im ganzen Land tausendfach geteilt. Internet-Petitionen und andere Initiativen sammelten Hunderttausende Unterschriften.

Demonstrationen sind wegen der repressiven Gesetzgebung in Russland kaum noch möglich. Öffentliche Kundgebungen müs­sen genehmigt werden – was dem Staat die Möglichkeit gibt, sie von vornherein zu unterbinden. Aufruf zu und Teilnahme an nicht genehmigten »öffentlichen Maß­nahmen« kann Ordnungs- und (im Wieder­holungsfall) Haftstrafen von mittlerweile bis zu 15 Jahren nach sich ziehen. Bereits 2021 wurden Tausende Russinnen und Russen wegen ihrer Beteiligung an Pro-Nawal­ny-Protesten belangt. Viele Menschen dürf­ten schon allein deshalb kaum noch Motivation verspüren, auf die Straße zu gehen. Den­noch kam es in den ersten Kriegs­tagen in vielen Städten Russlands zu öffent­lichen Protesten. Dafür stehen auch die über 15.400 Festnahmen, die die Menschenrechts­organisation OVD-Info seit dem 24. Februar 2022 zählte.

Viele Menschen, die an Protesten teilnahmen, sich im Internet, in Petitionen oder auf andere Weise kritisch zum Krieg äußerten oder sich an Universitäten, Schu­len, Kultureinrichtungen oder in anderen Kontexten den neuen Sprachregelungen und Vorgaben zu entziehen versuchten, bekamen umgehend Konsequenzen zu spüren. Sie wurden von Sicherheitskräften aufgesucht, von Arbeitgebern abgemahnt, bedroht, manche wurden tätlich angegriffen. Kultur­schaffende, Lehrende an Uni­versitäten und Schulen, Journalistinnen und Journalisten der staatlich kontrollierten Medien und andere wurden entlassen oder kündigten von sich aus. Die Gesetze gegen »Falsch­informationen über den Krieg« und »Dis­kreditierung der Streitkräfte« taten das ihre, um andersdenkende Men­schen zum Schweigen zu bringen.

Schock, Repressionen, Zensur, aber auch die unmittelbaren wirtschaftlichen Aus­wirkungen der westlichen Sanktionen ver­anlassten Tausende von Russinnen und Russen, sich in den ersten Kriegswochen außer Landes zu begeben. Diese Flucht­bewegung sucht in der postsowjetischen Geschichte des Landes ihresgleichen. Sie umfasst bislang vor allem politische und zivilgesellschaftliche Ak­teure, unabhängige Journa­listinnen und Journalisten, aber auch viele politisch nicht organisierte Men­schen, die für sich keinerlei Zukunft mehr in Russland sehen und es sich leisten kön­nen, ins Ausland zu gehen. Junge Män­ner flie­hen, um dem Militärdienst zu entrinnen. Jüdische Menschen nutzen die Möglichkeit, nach Israel aus­zuwandern. Bereits in den vergangenen Jahren hat die Zahl der An­träge auf israelische Staatsbürgerschaft kon­tinuierlich zugenommen.

Es ist davon auszugehen, dass noch weit mehr Menschen Russland den Rücken kehren werden, wenn sie die Chance dazu haben. Der ins Totalitäre kippende Staat hat end­gültig die Grenze zwischen öffent­lich und privat überschritten. Auch poli­tisch nicht aktive Menschen mit abweichen­der Mei­nung sehen sich massiven Anfeindungen, Verleumdungen und Denunzie­rungen ausgesetzt. Sie können sich nicht mehr wie bisher in ihre privaten Nischen zu­rück­ziehen. Daher werden viele von ihnen versuchen, das Land zu verlassen. Immer mehr Berufsgruppen werden betrof­fen sein. Die Emigrations­welle im Gefolge des russischen Angriffs auf die Ukraine hat erst begonnen. Sie könnte ähnliche Aus­maße annehmen wie der Exodus, der zwi­schen 1917 und 1922 durch Revolution und Bürgerkrieg aus­gelöst wurde.

Brüchige gesellschaftliche Konsolidierung

Der russische Staat hat in etwas mehr als einer Woche, zwischen dem 24. Februar und dem 4. März 2022, die Antikriegs­stim­mung in Teilen der Gesellschaft unter­drückt und Hunderttausende ins Ausland gedrängt. Auch wenn allem Anschein nach eine Mehrheit der rus­sischen Bevölkerung den Krieg gutheißt, wirft dies doch ein ande­res Licht auf die Umfrageergebnisse, die seit Ende Februar den kontinuierlich wachsenden Rückhalt für den Krieg und für die rus­sische politische Führung belegen. Laut den staats­nahen Meinungsforschungsinstituten VZIOM und FOM nahm der Anteil der Befür­worter und Befürworterinnen der »Spezialoperation« zwischen dem 27. Febru­ar und Ende März von 65 auf 73 Prozent zu. Im etwa glei­chen Zeitraum stieg die Unter­stüt­zung für den russischen Präsidenten von 62 Prozent vor Kriegsausbruch auf 82 Pro­zent Anfang April. Das unabhängige Lewa­da-Institut kommt zu noch eindeutigeren Ergebnissen: Laut einer am 31. März 2022 veröffentlichten Umfrage sprachen sich 81 Prozent der Befragten für den Einsatz der russi­schen Streitkräfte in der Ukraine aus und 83 Pro­zent für die Poli­tik des russischen Präsidenten. In diesen Zahlen zeich­net sich eine gesell­schaftliche Konsolidierung ab, die jener nach der Anne­xion der Krim ähnelt.

Drei Faktoren verstärken diesen Effekt: Viele Menschen glauben der offiziellen Behauptung, die westlichen Sanktionen seien mutwillige Strafaktionen des ohnehin russlandfeindlichen Westens, gegen die Russland sich verteidigen müsse. Außerdem steigt der Anteil der Befragten, die sich von den westlichen Sanktionen betroffen sehen. Und gleichzeitig hat sich seit Kriegsbeginn die Haltung zum Westen noch einmal drastisch verschlechtert.

Große Teile der russischen Gesellschaft wenden sich derzeit also noch weiter vom Westen ab und machen die westlichen Sanktionen für ihre sich verschlechternden Lebensverhältnisse ver­antwortlich. Das be­trifft auch Menschen, die zuvor eine nicht unkritische Position gegenüber der politi­schen Führung hatten. Die offensichtliche Isolation von der west­lichen Welt dürfte außerdem den Konformismus innerhalb Russlands weiter verstär­ken. Schließlich dürfte das durch die Brutalität des Krieges ausgelöste Trauma der russischen Gesellschaft bei vielen Menschen zur reflexhaften Weigerung führen, die Schuld anzuerkennen, die Russland mit dem Angriff auf die Ukraine auf sich geladen hat.

Trotzdem sollten die Umfrageergebnisse mit Vorsicht behandelt werden. Diktatorisches politisches Umfeld und allgegenwärtige Propaganda schränken die Aussagekraft von Umfragen von vornherein ein. Mei­nungsforscher und ‑forscherinnen können in diesem Umfeld nicht mit direkten Fragen zum Krieg arbeiten, was die Ergebnisse verzerrt. Einschüchterung und Angst vor direkten Repressionen fördern affirmative Antworten und senken die Bereitschaft der Menschen, sich überhaupt an Umfragen zu beteiligen oder gar kritische Meinungen offen zu äußern. Unabhängige Soziologen und Soziologinnen weisen deshalb darauf hin, dass große Teile der russischen Bevöl­kerung in erster Linie politisch apathisch sind und Konflikten mit dem Staat aus­weichen möchten. Die vordergründige Kon­solidierung der russischen Gesellschaft um Putin und seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit brüchiger, als die zitierten Umfrage­ergebnisse suggerieren.

Politischer Wandel in Russland – wann und in welche Richtung?

Wladimir Putin und sein Umfeld haben mit der Entscheidung zum Überfall auf die Ukraine das eigene Land von der Autokratie in die Diktatur und an den Rand des Ab­grunds geführt. Russland steht unter enor­mem Druck, denn die westlichen Sanktionen werden die russische Wirtschaft in den kommenden Monaten in eine tiefe Rezes­sion stürzen. Die Lebensverhältnisse der russischen Bevölkerung befanden sich be­reits über zehn Jahre im Sinkflug – sie werden sich im Zuge der Wirtschaftskrise weiter dramatisch verschlechtern. Auch die Gewinne aus den Rohstoffexporten, mit deren informeller Umverteilung die rus­si­sche Elite bislang zufriedengestellt wurde, werden drastisch schrumpfen. Je länger der Krieg dauert, desto mehr russi­sche Familien werden gefallene Soldaten zu betrauern haben. Bislang gelingt es der politischen Führung in Moskau fast voll­ständig, den Umgang mit den russischen Kriegstoten an die regionalen und lokalen Ebenen zu dele­gieren. Die wiederum üben Druck auf die betroffenen Familien aus, damit keine Öffentlichkeit entsteht. Es bleibt abzuwarten, wie lange dies funktionieren kann.

Diese Frage stellt sich auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Staat, Eliten und Gesellschaft insgesamt. Gewalt, Repres­sion und totalitäre Propaganda sind die ein­zigen Herrschaftsinstrumente, mit denen das russische Regime jetzt noch Stabilität herstellen kann. Der Krieg gegen die Ukraine wird sich aller Voraussicht nach in die Länge ziehen. Die Unterdrückung in Russland wird sich verschärfen. Die ver­gangenen anderthalb Monate haben gezeigt, dass Moskau damit kurzfristig erfolgreich sein kann. Mittelfristig gerät das russische Regime aber mit jedem Tag, den der Krieg andauert, in immer größere Gefahr.

Käme es infolge des Überfalls auf die Ukraine zu poli­tischem Wandel in Russ­land, muss man sich auf unterschied­liche Szenarien einstellen – und Positivszena­rien sind dabei nicht die plausibel­sten. Drei Aspekte sind zu bedenken:

1. Die Machtvertikale ist akut einsturz­gefährdet, wenn sie von der Spitze her ins Wanken gerät. Sollte das russische poli­ti­sche System dem Druck nicht mehr stand­halten und implodieren, müsste mit einer weitreichenden Destabilisierung des Landes gerechnet werden. Regionale Ab­setz­bewe­gungen, Gewalt bis hin zu Bürger­krieg wären nicht auszuschließen. Das größte Risiko in diesem Kontext stellt das Ter­ror­regime Ramsan Kadyrows in Tschetschenien dar.

2. Die überwältigende Mehrheit der russischen politischen Elite teilt das Welt­bild Wladimir Putins. Eine von Elitengruppen verhandelte politische Transition wäre deshalb keine Garantie für einen substan­tiellen Politikwechsel – vor allem im Hin­blick auf die Außenpolitik, die Ukraine und die russische Nachbarschaft.

3. Der Übergang zu diktatorischen Ver­hältnissen hat die Atomisierung der russi­schen Gesellschaft ins Extreme gesteigert. Es existieren keine horizontalen Strukturen mehr, über die eine abw­eichende gesellschaftliche Willensbildung stattfinden und politisch wirksam werden könnte. Die Fähig­keit zur gesellschaftlichen Selbstorganisation hat einen Nullpunkt erreicht. Es gibt deshalb wenig Aussicht auf eine kon­struktive Rolle der russischen Gesellschaft in einem poli­tischen Wandlungsprozess – weniger noch als in der späten Sowjetunion.

All das sind keine Argumente gegen Sank­tionen. Deutschland und seine Partner müssen alles daran setzen, Russland die Befähigung zum Krieg gegen die Ukraine zu nehmen. Gleichzeitig muss man sich dafür wappnen, dass politischer Wandel in Russ­land, wenn er denn stattfindet, weitere große Herausforderungen bedeuten wird. Die Arbeit mit aus Russland geflohenen demokratischen Politikern und Politikerinnen, unabhängigen Medien und zivilgesellschaftlichen Akteuren, ihre aktive und un­bürokratische Unterstützung beim Aufbau von Exilstrukturen ist ein Weg, sich auf diese Herausforderungen vorzubereiten.

Dr. Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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doi: 10.18449/2022A31