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Russlands nukleare Drohgebärden im Krieg gegen die Ukraine

Folgen für die internationale Ordnung, die Nato und Deutschland

SWP-Aktuell 2022/A 28, 08.04.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A28

Forschungsgebiete

Jeder Konflikt mit einer Atommacht wie Russland birgt die Gefahr, dass Kernwaffen tatsächlich eingesetzt werden. Sorgen um dieses Risiko macht sich Präsident Wladimir Putin offensiv zunutze. Mit seinen nuklearen Drohungen rückt der Kreml von Russlands bisheriger Doktrin ab, die dem eigenen Atomarsenal eine Schutzrolle zu­schreibt. Moskau will auf diese Weise nicht nur westliche Regierungen davor ab­schre­cken, die Ukraine noch substantieller zu unterstützen, sondern auch die Öffent­lich­keit des Westens einschüchtern. Solange aber die Nato nicht direkt in der Ukraine interveniert und sich das russische Regime nicht existentiell bedroht sieht, bleibt ein beabsichtigter ebenso wie ein unbeabsichtigter Nukleareinsatz extrem unwahrscheinlich. Dessen ungeachtet haben Moskaus Drohmanöver erhebliche Negativfolgen. Ge­lingt es Russland, unter dem Schild nuklearer Abschreckung erfolgreich einen kon­ventionellen Krieg zu führen, könnte dies Europa und die globale Sicherheitsordnung weiter destabilisieren.

Mit verschiedenen Maßnahmen und Erklä­rungen hat der Kreml dafür gesorgt, dass der Krieg in der Ukraine eine explizite nuk­leare Dimension erhielt. Zunächst führte Russland Mitte Februar, kurz vor dem Über­fall auf das Nachbarland, ein Manöver mit seinen Atomstreitkräften durch. Dass die Übung Anfang 2022 stattfinden sollte, war zwar schon seit ein paar Monaten bekannt, doch schien die Wahl des Zeitpunkts mit der Krise um die Ukraine verbunden. Denn normalerweise findet die alljährliche Übung der russischen Nuklearstreitmacht im Herbst statt. Zudem lenkte Moskau durch massive Berichterstattung bewusst die Aufmerksamkeit auf dieses Ereignis. Am 24. Februar, dem Tag der russischen Invasion in der Ukraine, warnte Putin dann in einer Rede, sollten außenstehende Staaten versuchen, Russland zu »behindern«, würde dies nie dagewesene Konsequenzen nach sich ziehen. Eine solche Formulierung gilt traditionell als Hinweis auf Atomwaffen. Noch einen Schritt weiter ging er am 27. Februar, als er ankündigte, die russischen Abschreckungskräfte, die auch Nuklearwaffen umfassen, in ein »be­sonderes Regime der Alarmbereitschaft« versetzen zu lassen.

Dies war das erste Mal seit den 1960er Jahren, dass Moskau eine solche öffentliche Verlautbarung machte. Dabei war zunächst unklar, was dieser Vorgang genau bedeutete. Denn ein Teil der strategischen Nuklear­waffen des Landes befindet sich immer in höchster Einsatzbereitschaft und kann somit jederzeit eingesetzt werden. Zudem gibt es mehrere Ebenen der Alarmbereitschaft. Wird sie erhöht, kann dies von rein administrativen bis zu sehr substantiellen Schritten, etwa der Beladung schwerer Bomber mit Kernwaffen, reichen. Eine Er­klärung von Verteidigungsminister Sergei Schoigu am nächsten Tag deutete jedoch darauf hin, dass lediglich Personal an eini­gen Kommandozentralen aufgestockt wurde, es sich also um eine wenig gravierende Maßnahme handelte. Nichtsdesto­trotz fanden kurz danach russische Militär­übungen mit Atom-U-Booten in der Barents­see und mit mobilen Interkontinental­raketen-Systemen in Sibirien statt. Anfang März äußerte dann Außenminister Sergei Lawrow etwas vage, dass ein dritter Welt­krieg nur ein nuklearer sein könne. In den darauffolgenden Wochen versuchten aber einige offizielle Vertreter Russlands, die Äußerungen von Putin und Lawrow zu ent­schärfen und einzugrenzen.

Die nuklearen Drohgebärden führten zu viel Kritik von westlicher Seite. Dem Kreml wurde vorgeworfen, er fabriziere künstli­che Bedrohungen für Russland, um wei­tere aggressive Handlungen zu rechtfertigen. Washington warnte Moskau vor dem Ein­satz atomarer Waffen in der Ukraine, sah aber davon ab, ähnliche öffentliche Dro­hungen gegenüber Russland auszusprechen oder die eigene nukleare Alarmbereitschaft zu erhöhen. Außerdem verschoben die USA einen geplanten Raketentest, um nicht zu riskieren, dass sich die Eskalationsrhetorik weiter verschärfen würde.

Moskau weitet die Funktion von Nuklearwaffen aus

Gemäß Russlands offizieller Doktrin gelten Atomwaffen vor allem als Garantie für die Souveränität und territoriale Integrität des Landes. Daran orientieren sich auch die 2020 veröffentlichten Einsatzprinzipien. Demnach würde Moskau das eigene Nuk­learpotential sowohl im Falle eines atoma­ren Angriffs auf Russland einsetzen als auch dann, wenn die Existenz des Staates durch eine konventionelle Aggression be­droht wäre.

Putins Ansagen im Krieg gegen die Ukra­ine legen jedoch nahe, dass für Russlands Führung die Funktion ihres Atomwaffen­arsenals über die enge Schutzrolle hinaus­geht, wie sie in der offiziellen Doktrin fest­gelegt wurde. Vielmehr bringt der Kreml offenkundig Atomwaffen ins Spiel, um expansive politische Ziele durchzusetzen. Putins Absicht scheint zu sein, den kon­ventionellen Angriffskrieg nuklear abzu­schirmen. Entsprechende Drohgesten sollen außenstehende Akteure vor einer Ein­mi­schung abschrecken und den Konflikt auf dem Niveau eines nach russischem Ver­ständnis »lokalen Krieges« halten. Nuk­lear­waffen dienen also der Einschüchterung und dem Eskalationsmanagement.

Insofern deutet Moskaus Rhetorik dar­auf hin, dass es die eigene Nukleardoktrin breiter fasst. So rechtfertigte Putin seinen Angriffskrieg unter anderem damit, dass die USA ein feindliches »Anti-Russland« in der Ukraine errichteten, was wiederum eine Frage von Leben und Tod für Russland dar­stelle. Nichts Geringeres als Existenz und Souveränität des eigenen Landes seien da­durch bedroht – eine Formulierung, die klare Parallelen zur russischen Nuklear­doktrin aufweist. Zudem warf Putin einige Tage später der Ukraine vor, Atomwaffen und andere Massenvernichtungswaffen zu entwickeln, was ein russisches Einschreiten erforderlich mache. Diese faktische Aus­weitung der Doktrin in Kombination mit den eigenen Narrativen scheint Putin als Vorwand zu dienen, um mit Nuklearwaffen zu drohen, auch wenn die Existenz Russ­lands offensichtlich nicht durch eine äußere militärische Aggression gefährdet ist.

Ein beabsichtigter Nukleareinsatz bleibt extrem unwahrscheinlich

In der aktuellen Kriegssituation ist eine absichtliche oder auch unbeabsichtigte nukleare Eskalation wieder in den Bereich des Möglichen gerückt, wie VN-General­sekretär António Guterres am 14. März warnte. Je stärker man dabei an der Ratio­nalität Putins zweifelt, desto größer kom­men einem diese Risiken vor. Doch scheint die russische Entscheidung zum Angriffskrieg nicht auf Irrationalität basiert zu haben, sondern auf fehlerhaften Annahmen, was die eigenen Fähigkeiten, die Situation in der Ukraine und das Maß an westlicher Solidarität mit Kiew angeht. Da­her ist es auch analytisch wenig sinnvoll, Szenarien zu erörtern, die auf der Prämisse von Putins Irrationalität beruhen, zumal sie kaum Spielraum für praktikable Politik­maßnahmen belassen. Trotz der Droh­gebärden aus Moskau legen sowohl theore­tische Überlegungen zur Nuklearstrategie als auch historische Erfahrungen nahe, dass in der heutigen Lage die Wahrscheinlichkeit eines gezielten Einsatzes von Atom­waffen extrem gering ist.

Erstens hätte Russland potentiell existentielle Kosten zu erwarten, sollte es Nato-Staaten atomar angreifen. Seit Jahrzehnten befinden sich Russland und die USA in einem sogenannten Gleichgewicht des Schreckens. Beide Staaten verfügen über Tausende von Atomwaffen für unterschiedliche Trägersysteme. Damit wollen sie sicherstellen, dass sie selbst nach einem massiven Erstschlag der Gegenseite noch in der Lage wären, einen vergeltenden Zweit­schlag durchzuführen. Das Gleichgewicht bleibt erhalten, solange keiner es wagen kann, einen entwaffnenden Angriff auf den anderen zu starten. Dies bedeutet aber auch, dass selbst ein relativ begrenzter Ein­satz von Nuklearwaffen die Gefahr einer massiven Eskalation birgt. Die Folge wäre eine extreme Verwüstung mit globalen Konsequenzen, die in keinem Verhältnis zu Putins politischen Zielen im Krieg gegen die Ukraine stünden.

Zweitens würde auch ein limitierter Atomwaffeneinsatz in der Ukraine die Qualität des Konflikts und die damit ver­bundene Interessenlage fundamental verändern. Auch wenn die USA ein Ende des Krieges anstreben, handelt es sich für Washington derzeit doch um einen Regio­nalkonflikt, der amerikanische Sicherheitsinteressen im engeren Sinne nur bedingt bedroht. Anders läge der Fall, sollte Russ­land nuklear gegen die Ukraine vorgehen. Denn käme Moskau hier ohne massive Konsequenzen davon, hätte dies auch Aus­wirkungen darauf, wie andere atomar gerüstete Staaten – etwa China oder Nord­korea – einen möglichen Einsatz von Nuklearwaffen und dessen Folgen bewerten. Auch würde ein solches Szenario das amerikanische Allianzsystem stark unter Druck setzen, da sich die Bedrohungsperzeption von Ländern wie Japan oder Polen verschärfen müsste. Somit würden sich auch die ordnungspolitischen Inter­essen der USA – und damit ihr militärisches Engagement – im Ukraine-Konflikt grundlegend verändern. Hinzu kommt, dass selbst russlandfreundliche Akteure wie Indien oder China ihr Interesse an einem relativ stabilen internationalen System be­droht sähen und ihre Haltung gegenüber Moskau zu überdenken hätten.

Drittens würde Russlands Reputation unter einem Atomschlag enorm leiden. Es wäre das erste Land seit 1945, das Nuklearwaffen einsetzt. Dies liefe nicht nur Mos­kaus langjährigen Interessen an Nicht­verbreitung zuwider. Russland würde auch endgültig zum Pariastaat, statt den selbst­erklärten Status als Garant globaler Stabi­lität wahren zu können. Wie hoch der Kreml die Gefahr eines solchen Ansehensverlustes bewertet, bleibt ungewiss. Zu bedenken hat er wohl, dass auch die Unter­stützung der eigenen Bevölkerung für den Krieg unterminiert werden könnte.

Ein unbeabsichtigter Nuklear­einsatz ist kaum wahrscheinlicher

Selbst wenn keine Anreize für einen ge­zielten Nukleareinsatz existieren, besteht noch die Möglichkeit einer unbeabsichtigten Eskalation. Ein solches Szenario könnte etwa entstehen, wenn eine Konfliktpartei riskante Schritte der anderen Seite miss­versteht und dadurch eine gefährliche Dynamik in Gang gesetzt wird. So könnte etwa der Abschuss eines russischen Kampf­flugzeugs, das den Luftraum eines Nato-Mitgliedstaates verletzt, oder die Lieferung wichtiger Militärgüter an die Ukraine den konventionellen Konflikt eskalieren lassen, was wiederum die Gefahr eines Kernwaffen­einsatzes erhöhen würde. Auch könnten technische Probleme, beispielsweise fehler­hafte Radarsignale, rein irrtümlich für eine Zuspitzung sorgen.

Allerdings bleibt auch bei diesen Szenarien das Risiko von Atomschlägen gering. Dass es dazu käme, wäre selbst im Falle einer direkten Konfrontation zwischen Nato und Russland kein Automatismus, denn beide Seiten hätten weiterhin großes Inter­esse daran, dies zu vermeiden. Solange weder Washington noch Moskau sich vor­stellen können, wie die andere Seite ihre Lage durch einen Atomwaffeneinsatz ver­bessern könnte, bleibt eine irrtümliche Eskalation unwahrscheinlich.

Auch sind historische Vergleiche, etwa mit der Kuba-Krise, nur bedingt ergiebig. 1962 waren die USA erheblich stärker in das – geographisch nähergelegene – Geschehen involviert, nicht nur mit Blick auf ihre macht- und sicherheitspolitischen Interessen, sondern auch was die Bereitschaft angeht, mit eigenen Maßnahmen die Lage potentiell zu verschärfen. Im Fall des Krieges gegen die Ukraine vermeidet es Washington hingegen, Putins nukleare Drohgebärden durch eigene Schritte dieser Art zu erwidern.

Zudem waren viele Krisen des frühen Kalten Krieges davon geprägt, dass ein kon­ventioneller Angriff zwangsläufig entweder eine nukleare Antwort oder den Verlust kritischer Gebiete nach sich gezogen hätte. Angesichts Moskaus konventioneller Über­legenheit in Europa drohten die USA damit, dass jede konventionelle Aggression zu einer vernichtenden atomaren Erwiderung führen könne. Die Nato-Beistandsklausel, die Vorausstationierung von US-Nuklear­waffen und die Tatsache, dass Europa als eines der drei wichtigsten Industriezentren der Welt entscheidend für die amerikanische Ordnung war, verliehen Washingtons Position zudem Glaubwürdigkeit.

Des Weiteren unterscheidet sich die heutige Lage insofern von früheren Fällen, als besonders in der ersten Phase des Kalten Krieges die amerikanisch-sowjetische Krisen­kommunikation technisch beschränkt und die zentrale Kontrolle über einen Nuklearwaffeneinsatz hier wie dort lücken­haft war. Tatsächlich legen historische Bei­spiele nahe, dass konventionelle Ausein­ander­set­zungen zwar außer Kontrolle gera­ten könn­ten, für das Überschreiten der nuklearen Schwelle jedoch weitere eskalie­rende Schritte – auf beiden Seiten – not­wendig wären, von denen wir derzeit noch weit entfernt sind.

Putins Einschüchterungstaktik

Russlands Verweise auf Atomwaffen schei­nen vor allem auf Einschüchterung und Erpressung abzuzielen. Durch die Androhung massiver Gewalt versucht Putin, seine politischen Forderungen durchzusetzen. Dabei stellt sich allerdings die Frage, an wen sich diese Taktik richtet.

Russland führt Krieg gegen die Ukraine, doch scheint sie derzeit nicht der Haupt­adressat von Putins Nukleardrohungen zu sein. Zwar wäre Moskau in der Lage, das Land atomar zu vernichten. Doch kann der Kreml seine mutmaßlichen langfristigen Ziele auch mit konventioneller Gewalt­anwendung erreichen – nämlich Kontrolle über die Ukraine zu erlangen, ihre Souve­ränität zu beschränken und ihr einen neu­tralen Status aufzunötigen, der eine Annä­herung an EU und Nato verhindert. Die extreme Zerstörungskraft von Kernwaffen ist dafür nicht nötig.

Selbst im Falle einer sich abzeichnenden Niederlage Russlands in der Ukraine wären nukleare Drohungen nicht glaubwürdig und nukleare Demonstrationsschläge höchstwahrscheinlich wirkungslos. Denn Moskau müsste überzeugend signalisieren, dass es bereit wäre, entweder mehrere Atomschläge gegen das ukrainische Militär zu führen oder Städte mit Kernwaffen zu zerstören. Russland müsste somit seinen Willen vermitteln, weitere unverhältnismäßig hohe Kosten zu akzeptieren, um die Ukraine zu bezwingen. Eine schwer kon­trollierbare nukleare Eskalation wäre die Folge. Die anderen Atommächte müssten auf einen solchen Bruch mit der globalen Sicherheitsordnung reagieren, und die internationale Ausgrenzung Russlands wür­de eine neue Dimension erreichen. Putins Reden suggerieren zwar, dass die Ukraine eine große Rolle in seinen imperialen Vor­stellungen spielt. Doch deutet wenig darauf hin, dass er für die Kontrolle über das Land einen solchen Preis bezahlen würde.

Diese Logik passt auch zu den Aussagen und dem Verhalten Moskaus in der gegen­wärtigen Krise. Denn Putin hat seine nuk­learen Drohungen nicht mit der Ukraine, sondern stets mit dem Westen verbunden. Zugleich hatten sie öffentlichen Charakter, was vermuten lässt, dass sie die russische und die westliche Bevölkerung ansprechen sollen. Ersterer gegenüber muss der Kreml das eigene Narrativ vom russlandfeind­lichen Westen aufrechterhalten und die hohen Sanktionskosten rechtfertigen. Die westliche Bevölkerung sucht Moskau wohl zu verängstigen, damit sie harte Maßnahmen gegen Russland ablehnt und entsprechenden Druck auf ihre eigenen Regierungen ausübt. Dabei kann sich der Kreml einen gewissen Erfolg ausrechnen, wie rege Diskussionen in westlichen Medien über die angemessene Reaktion auf den Krieg, die spürbare Sorge vieler Menschen vor einem Atomschlag sowie eine Welle an Vorbereitungsmaßnahmen, etwa der Kauf von Jodtabletten, nahelegen.

Mögliche Eskalationsszenarien

In erster Linie scheinen sich die Drohungen aber an westliche Regierungen zu richten. Angesichts der unerwarteten Entschlossenheit Europas und der USA dürfte Moskau sich gefragt haben, welche weiteren Maß­nahmen der Westen ergreifen könnte. Auf ökonomischem Gebiet richten die Sanktio­nen in Russland zwar großen Schaden an, doch könnten Europäer und Amerikaner die russische Wirtschaft noch wesentlich härter treffen, etwa mit einem Energie­embargo – falls sie bereit wären, die damit verbundenen Kosten zu tragen. Im militä­rischen Bereich besitzen die Nato-Staaten theoretisch die Fähigkeit, den Konflikt rein konventionell zu entscheiden. Jedoch haben sie sich bisher trotz spürbaren Drucks gegen eine Intervention ausgesprochen. Für einen Großteil der westlichen Politik- und Expertencommunity scheinen derzeit die Kosten und Risiken eines west­lichen Eingreifens nicht gerechtfertigt. Doch die Folgen, die eine etwaige Ausweitung der westlichen Hilfe für Kiew hätte, betrachtet der Kreml offenbar als so dra­ma­tisch, dass er die Notwendigkeit sieht, rote Linien zu ziehen. So will er augenscheinlich signalisieren, dass eine direkte Ein­mischung extreme – also nukleare – Maßnahmen nach sich ziehen könnte.

Putins rote Linien sind aber mit Absicht nur vage umschrieben; damit sollen west­liche Aktivitäten soweit wie nur möglich abgeschreckt werden. Diese Art der strate­gischen Ambiguität erzeugt jedoch auch Risiken. Denn es ist für den Westen schwer abzuschätzen, welcher Grad des Engagements im weiteren Verlauf des Konflikts eine atomare Eskalation auslösen könnte.

Erstens wäre die Gefahr einer solchen Zuspitzung groß – auch ohne Putins expli­zite Nukleardrohungen –, sollte es zum direkten Kriegseintritt der Nato kommen. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass Russlands konventionelle Unterlegenheit gegenüber den USA die Situation durchaus eskalieren lassen könnte, auch wenn beide Seiten daran interessiert sein müssten, den Konflikt begrenzt zu halten. Würde sich Washington etwa entschließen, den Krieg durch umfassende konventionelle Angriffe auf Russland auszuweiten, die für den Kreml systemgefährdend wären, könnte Moskau dem keine ebenbürtigen nicht­nuklearen Fähigkeiten entgegensetzen – und daher limitierte Nuklearschläge erwä­gen. Vor dieser Möglichkeit eines erweiterten Konflikts mit potentiell atomaren Impli­kationen schrecken westliche Regierungen zurück, da konventionelle und nukleare Eskalationsrisiken schwer voneinander zu trennen sind. Bei militärischen Planungen und Hilfeleistungen für die Ukraine dürfte deshalb stets die Frage eine Rolle spielen, inwiefern damit die Gefahr eines Kernwaffeneinsatzes verbunden ist.

So wurde etwa über die Lieferung von Kampfflugzeugen an die Ukraine diskutiert. Von einem solchen Schritt erwarteten Ex­pertinnen und Experten nur einen mode­raten Nutzen für Kiew; dagegen standen die damit einhergehenden Eskalationsgefahren. In der Abwägung entschied man letztlich, diese Option zu verwerfen. Manche forder­ten sogar eine Flugverbotszone. Hoch­umstritten ist, wie sie sich umsetzen ließe und wie groß ihre militärische Wirksamkeit wäre, zumal Bodenkämpfe in diesem Krieg bislang eine viel wichtigere Rolle spielen als Luftwaffenoperationen. Der Hauptgrund, aus dem man die Option ab­lehnte, war jedoch der Umstand, dass sie ein militärisches Eingreifen des Westens erfordern würde und einen offenen Krieg zwischen der Nato und Russland auslösen könnte.

Neben einem direkten westlichen Kriegseintritt hätte wohl ein zweites Szenario das Potential, die Lage entscheidend zu ver­schärfen. Für Putin spielt der persönliche Machterhalt offenkundig eine große Rolle. Daraus erwächst die Frage, zu welchen Mitteln er notfalls greifen würde, um seine Position zu sichern. Dies stellt den Westen vor eine doppelte Herausforderung. Auf der einen Seite wollen die westlichen Staaten den wirtschaftlichen und militärischen Druck steigern, um Russlands Kriegsfähigkeit zu beeinträchtigen und so einen Poli­tik­wechsel herbeizuführen. Auf der ande­ren Seite könnte ein drohender Kontrollverlust des Regimes bewirken, dass Putin zu einem begrenzten Nuklearwaffeneinsatz bereit wäre. Er würde dann eher zum Äußersten gehen, als die Macht abzugeben.

Dieses Szenario verdeutlicht, dass sich nur schwer trennen lässt zwischen den Folgen einer militärischen Eskalation des Westens in der Ukraine und den Konsequenzen wirtschaftlichen Drucks auf Russ­land. Auch wenn man einwenden könnte, dass in relativ stabilen Staaten wie Russland eine solche Art der Regimeverteidigung höchst unwahrscheinlich ist, mahnen die Entwicklungen der letzten Wochen zur Vorsicht. Allerdings scheint Putins Macht­apparat von einem Kollaps weit entfernt zu sein. Dies lässt den Schluss zu, dass die Sanktionen noch um einiges gesteigert wer­den können, bevor sich Fragen des Kon­troll­verlusts und einer nuklearen Zuspitzung überhaupt stellen.

Folgen für die internationale Ordnung

Was dieser Krieg für die europäische Sicher­heitsarchitektur und das globale Nuklear­regime bedeuten wird, dürfte stark vom Ausgang des Konflikts abhängen. Doch sind einige Auswirkungen schon jetzt absehbar. Die wohl problematischste Folge betrifft die Rolle von Atomwaffen als Instrument in den internationalen Beziehungen. Denn viele Regierungen werden schlussfolgern, dass ein nukleares Arsenal zwar keinen all­umfassenden Schutz bietet, aber den eige­nen Handlungsspielraum erheblich ver­größern kann. Auf der einen Seite er­lauben Atomwaffen es Russland, einen Krieg am Rande von Nato-Territorium zu führen, ohne fürchten zu müssen, dass die konven­tionell weitaus überlegene Allianz direkt interveniert. Für einen solchen Schritt des Bündnisses böten sich viele Gründe – die möglichen Folgen einer Destabilisierung Europas für die internationale Ordnung, der offensichtliche Völkerrechtsbruch Moskaus und der wachsende Druck in der westlichen Öffentlichkeit zugunsten eines Eingreifens. Bereits jetzt werten viele Fachleute die Zurückhaltung der Nato als Konsequenz einer wirksamen nuklearen Abschreckung Russlands. Auf der anderen Seite kann der Westen in großem Umfang Rüstungsgüter an die Ukraine liefern und der russischen Wirtschaft immensen Scha­den zufügen, ohne sich übermäßig sorgen zu müssen, dass Moskau mit Atomwaffen antworten könnte. Wie der Krieg gegen die Ukraine zeigt, lässt das nukleare Gleich­gewicht zwischen Russland und dem Wes­ten einen lokalen konventionellen Krieg außerhalb der Nato zu – das sogenannte Stabilität-Instabilität-Paradox scheint sich damit zu bestätigen.

Diese Schlussfolgerungen werden auch eine wichtige Rolle für die künftige Sicher­heitskooperation mit Staaten jenseits der Nato und die Rückversicherung innerhalb der Allianz spielen. Das gilt insbesondere dann, wenn es Moskau gelingen sollte, den Krieg zu seinen Gunsten zu entscheiden. Außerhalb des westlichen Bündnisses sehen sich etwa Georgien oder Moldau, das Schicksal der Ukraine vor Augen, mehr denn je von Russland bedroht. Dies stellt die Nato, aber auch die EU bereits jetzt vor die Frage, wie sich dem Wunsch solcher Staaten nach glaubwürdigen Sicherheits­garantien nachkommen lässt.

Innerhalb der Allianz könnten unter den ost- und mitteleuropäischen Mitgliedstaaten zunehmend Zweifel aufkommen, wie er­strebenswert die strategische Stabilität zwi­schen Moskau und Washington wirklich ist. Denn wie ausgeführt, gelingt es Russland durch die Pattsituation zwischen den Groß­mächten, seine regionale konventionelle Überlegenheit gegenüber der Ukraine aus­zuspielen und eine direkte Intervention von außen abzuschrecken. Auch wenn die östlichen Nato-Mitglieder weiterhin den amerikanischen Sicherheitsgarantien ver­trauen werden, dürfte sich die Befürchtung ausbreiten, dass Russland unter seinem nuklearen Schild einen raschen militärischen Erfolg (»fait accompli«) gegen andere Staaten erreichen könnte.

Diese Sorge hat die Nato bereits Ende März zu dem Beschluss veranlasst, ihre Verteidigungsaufstellung in der Ost- und Südostflanke zu stärken. Ein konventio­neller Fähigkeitsaufwuchs, der ein »fait accompli«-Szenario völlig unmöglich machen würde, wäre allerdings mit enor­men Kosten und längeren Zeitlinien ver­bunden. Sollte die Rüstungskontrolle voll­ständig erodieren, wäre auch denkbar, dass die USA das strategische Atompotential Russlands zu unterminieren suchen, indem sie ihre eigenen nuklearen Fähigkeiten aus­bauen. Doch wäre ein solches Unterfangen mit hohen Eskalationsrisiken verbunden.

Auf internationaler Ebene sorgen der Krieg und Moskaus Drohungen dafür, dass Anstrengungen im Bereich von Nicht­ver­breitung und Rüstungskontrolle unter­graben werden. Erstens ist das Vertrauen in den Wert von Nukleardoktrinen zerrüttet, die unter anderem dazu dienen sollen, Transparenz und Berechenbarkeit zu för­dern. Viele Staaten werden sich künftig auf Zusagen Russlands – aber auch anderer Nuklearmächte – wesentlich weniger ver­lassen. Ein hart erkämpfter Zugewinn an Stabilität ist damit zerstört. Zweitens wer­den auch Fortschritte bei der Nichtverbrei­tung leiden. Der Konflikt scheint derzeit nahezulegen, dass Atomwaffen nicht nur den Fortbestand eines politischen Regimes sichern, sondern auch konventionelle Aus­einandersetzungen gegen fremdes Eingreifen abschirmen können. Regionalakteure mit nuklearen Ambitionen, wie etwa Iran und Saudi-Arabien, könnten daraus Schlüsse für ihr eigenes Handeln ziehen.

Schließlich hat der Überfall auf die Ukraine auch die für Rüstungskontroll­gespräche notwendige Glaubwürdigkeit Russlands unterminiert. Jegliche Konsultationen zwischen Moskau und Washington wurden Anfang März unterbrochen. Im Rahmen von Verhandlungen über ein Ende des Krieges könnten begrenzte Rüstungskontrollmaßnahmen in die Agenda auf­genommen werden. Weitergehende Schrit­te bleiben auf längere Sicht unwahrscheinlich. Ein anhaltender Krieg und immer wirksamere Sanktionen werden vielmehr Russlands konventionelle Kapazitäten und seine Regenerationsfähigkeit schwächen – weshalb sich Moskau zunehmend auf nukleare Abschreckung verlassen dürfte.

Handlungsempfehlungen

Moskaus nukleare Drohungen müssen ernst genommen werden, doch gibt es bislang keinen Grund zur Panik. Erstens ist wichtig, bei künftigen Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine realistisch einzuschätzen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines russischen Atomwaffeneinsatzes ist. Auf der einen Seite könnte es weitere Risiken auf der nuklearen Eskalationsleiter hervor­rufen, sollte die Nato direkt in den Krieg eingreifen oder aktiv auf einen Regimewechsel in Moskau hinwirken. Von den dafür relevanten Schwellen ist der Westen derzeit jedoch weit entfernt. Auf der ande­ren Seite wird mit wachsender Brutalität des Krieges der öffentliche Druck steigen, Schritte einzuleiten, die näher an die nuk­leare Schwelle heranführen könnten. Dann dürfte es für den Kreml immer schwieriger werden, die Intention hinter dem west­lichen Handeln einzuschätzen. Putin könn­te die Rolle der öffentlichen Meinung in Demokratien unterschätzen und das Ver­halten des Westens als strategisch motiviert deuten. Daher ist es wichtig, dass die Nato-Staaten in enger Absprache die eigenen Handlungen und Absichten klar kommu­nizieren – sowohl Moskau als auch der eigenen Öffentlichkeit gegenüber.

Zweitens sollte Berlin der deutschen Be­völkerung vermitteln, dass der Einsatz von Nuklearwaffen wenig wahrscheinlich ist. Dies ist auch deshalb wichtig, weil ein län­ger andauernder Krieg für Deutschland mit hohen wirtschaftlichen Kosten verbun­den sein wird. Angesichts einer von Atom­kriegs­ängsten erfassten Bevölkerung könnte es für Berlin zusehends schwieriger werden, an Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine festzuhalten. Daher sollte die Bun­desregierung öffentlich besser erläutern, inwiefern Putin eine Destabilisierungs­strategie verfolgt und wo die tatsächlichen Risiken einer direkten Auseinandersetzung zwischen der Nato und Russland liegen. Politische Entscheidungsträger wie auch Experten sollten durch Medienbeiträge versuchen, das komplexe und beunruhigende Thema intensiver zu beleuchten.

Ernst zu nehmen gilt es ebenso für Ber­lin, wie sich Russlands Angriffskrieg und seine Drohgebärden langfristig auswirken werden. Schon der Versuch an sich, den Überfall auf ein Nachbarland durch nuk­leare Abschreckung abzuschirmen, wird negative Folgen haben. Besonders groß werden sie sein, sollte Russland den Krieg gewinnen. Die Bundesregierung hat auch ein strategisches Interesse daran, dies zu verhindern. Zwar sollte Deutschland wei­terhin auf eine Balance von Abschreckung und Dialog setzen, doch scheint es kurz- und mittelfristig erforderlich, Erstere zu priorisieren. Daher sollte Berlin nicht nur bei der Rückversicherung der Nato-Front­staaten und der kürzlich beschlossenen Neuaufstellung des Bündnisses aktiv mit­wirken, sondern auch die Resilienz der Ukraine weiter stärken.

Dr. Liviu Horovitz ist Wissenschaftler, Lydia Wachs ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts »Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order« (STAND).

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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