Die Indische Union ist ein zentraler Partner der deutschen und europäischen Außenpolitik im Indo-Pazifik. Die Leitlinien der Bundesregierung aus dem Herbst 2020 und der Koalitionsvertrag vom November 2021 betonen die Wichtigkeit eines Ausbaus der Beziehungen zu Indien. Um das gemeinsame Anliegen einer multilateralen und regelbasierten Ordnung im Indo-Pazifik voranzutreiben, sollten beide Seiten – neben der Vertiefung ihrer bilateralen Beziehungen – ihre Zusammenarbeit auf Drittstaaten ausweiten. Solche Dreieckskooperationen könnten auch eine qualitativ neue Phase in der strategischen Partnerschaft zwischen Deutschland und Indien einläuten.
Indien nimmt im Rahmen der systemischen Rivalität zwischen China und den USA eine zentrale Rolle in den geopolitischen Erwägungen Washingtons und Brüssels ein. Es gilt als einziges Land, das demographisch und ökonomisch langfristig ein Gegengewicht zu China im Indo-Pazifik bilden kann. Die USA verstärken seit Jahren ihre politischen, militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit der Indischen Union. Die 2020 vereinbarte EU India Roadmap 2025, die Konnektivitätspartnerschaft vom Mai 2021 und die Indo-Pazifik-Strategie vom Herbst 2021 bezeugen die Bedeutung Indiens für die künftige europäische Außenpolitik in der Region.
Die deutsch-indischen Beziehungen: Chancen und Herausforderungen
Vor dem Hintergrund der geopolitischen und wirtschaftlichen Veränderungen im Indo-Pazifik wird auch Deutschland seine Beziehungen mit Indien intensivieren. Die Ampelkoalition muss dabei eine Balance finden zwischen ihren normativen Ansprüchen und den geopolitischen Interessen Deutschlands. Vergleichsweise einfach ist dies im politischen Bereich: Bereits im Mai 2000 vereinbarten Deutschland und Indien eine »Agenda für die Deutsch-Indische Partnerschaft im 21. Jahrhundert«. Seit 2011 finden alle zwei Jahre Regierungskonsultationen statt. Beide Staaten teilen Grundüberzeugungen hinsichtlich der künftigen Struktur des internationalen Systems. Sie bekennen sich unter anderem zum Multilateralismus und streben eine Reform der Vereinten Nationen (VN) und des Sicherheitsrats an. Zudem sprechen sie sich für eine regelbasierte Ordnung im Indo-Pazifik aus.
Das Potential der politischen Beziehungen mit Indien ist aber bei weitem noch nicht ausgeschöpft. So fanden in den vergangenen Jahren beispielsweise wesentlich weniger hochrangige politische Gespräche zwischen Deutschland und Indien statt. Eine Ursache hierfür ist unter anderem das im Vergleich zu China weiterhin geringe Handelsvolumen mit Indien, das 2020 bei weniger als zehn Prozent des Handels mit China lag. Ein intensiverer Dialog zwischen Regierungsvertretern auf Bundes- und Länderebene könnte die politischen Gemeinsamkeiten weiter vertiefen.
Wirtschaftlich ist Deutschland Indiens wichtigster Handelspartner in Europa. Umgekehrt ist die Indische Union wiederum mittlerweile der viertgrößte Handelspartner Deutschlands in der Indo-Pazifik-Region. In den letzten Jahren war nur Indien zwei Mal Partnerland der Hannover-Messe. Die wirtschaftliche Verflechtung hat in jüngerer Zeit zugenommen: 2020 hielten mehr als 1.700 deutsche Firmen über 400.000 Arbeitsplätze in Indien bereit. Zugleich hatten auch über 200 indische Unternehmen einen Sitz in Deutschland und investierten hier mehr als 6,5 Milliarden Euro. Der indische Markt bietet trotz seiner Probleme weiterhin große Wachstums- und Kooperationsperspektiven für die deutsche Wirtschaft, unter anderem in den Bereichen Infrastruktur, Energie, Umwelt und Hochtechnologie. Allerdings droht von zwei Seiten Ungemach: Einerseits könnte die deutsche Gesetzgebung zu nachhaltigen Lieferketten auch Auswirkungen auf deutsche Unternehmen und ihre Partner in Indien haben. Andererseits hat die indische Regierung 2020 als Reaktion auf die Pandemie eine stärker eigenständige Wirtschaftspolitik angekündigt. Dazu soll auch die Förderung nationaler Unternehmen gehören. Damit könnte der Marktzugang für kleine und mittlere Firmen aus dem Ausland erschwert werden.
Im sicherheitspolitischen Bereich gibt es zwischen Berlin und Neu-Delhi eine hohe Übereinstimmung hinsichtlich der geostrategischen Herausforderungen, vor allem mit Blick auf die künftige Rolle Chinas in der Region. Der Besuch der Fregatte Bayern im Januar 2022 in Mumbai war ein Signal für die Stärkung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Indien. Allerdings gibt es unterschiedliche Erwartungen, was die weitere Entwicklung in diesem Politikfeld betrifft. So drängt Indien aufgrund seiner territorialen Konflikte mit China und Pakistan auf eine engere rüstungspolitische Kooperation. Die neue Bundesregierung hat indes eine eher restriktive Rüstungsexportpolitik angekündigt. Damit wird für Indien Frankreich der wichtigste Partner in Europa bei der Modernisierung seiner Streitkräfte bleiben.
Für den Ausbau der Beziehungen im gesellschaftspolitischen Bereich gibt es einerseits ein großes Potential, zum Beispiel in Form von neuen Kooperationen zwischen Bundesländern und indischen Bundesstaaten und auf der Ebene der Universitäten, Forschungseinrichtungen und Städtepartnerschaften. Andererseits dürften gerade in dieser Sphäre die Kontroversen eher zu- als abnehmen. Die deutsche Regierung will sich außenpolitisch noch stärker für Demokratie, Menschenrechte und eine lebendige Zivilgesellschaft einsetzen. In Indien verschlechtert sich aber seit einigen Jahren die Qualität der Demokratie, und Grundrechte wie die Meinungsfreiheit geraten zunehmend unter Druck. Davon sind auch zivilgesellschaftliche Organisationen aus Deutschland und ihre indischen Partner betroffen.
Eine Intensivierung des Engagements gegenüber Indien wird von der Ampelkoalition aber auch immer wieder einen Ausgleich zwischen politischen Wertvorstellungen und strategischen Interessen erfordern. Den wachsenden geopolitischen Gemeinsamkeiten und dem wirtschaftlichen Potential stehen zunehmende Kontroversen in gesellschaftspolitischen Fragen gegenüber.
Dreieckskooperation als neue Stufe der Zusammenarbeit
Das gemeinsame Interesse Indiens und der westlichen Staaten ist der Aufbau einer regelbasierten Ordnung im Indo-Pazifik. Die Erweiterung und Vertiefung der bilateralen Beziehungen ist hierfür ein wichtiger Schritt. Eine neue Dimension der Zusammenarbeit könnte das gemeinsame Agieren in Drittstaaten sein. Die Diskussion über Dreieckskooperationen (DEK) kam mit dem Auftreten neuer Geber auf, vor allem in Gestalt der Staaten der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Unter DEK versteht man die Zusammenarbeit zwischen einem traditionellen Geberstaat, meist einem Mitglied des Development Assistance Committee (DAC) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), mit einem oder mehreren Staaten des Globalen Südens in einem dritten Land. Trotz der administrativen Herausforderungen haben sich erste Ansätze zu einer solchen DEK zwischen Deutschland und Ländern wie Brasilien oder Mexiko entwickelt, beispielsweise in Form eines deutsch-brasilianischen Anti-AIDS-Projekts in Lateinamerika. Zudem werden mit den Mitteln des Lateinamerika-und-Karibik-Fonds (LAK-Fonds) gezielt kapazitätsbildende Kurse im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) für die Süd-Partner angeboten, um diese in der Durchführung und Administration von Maßnahmen der DEK zu schulen. Bislang hatte die DEK aber noch keinen großen Stellenwert in der bundesdeutschen EZ. Entsprechende Kooperationen hatten nur einen Anteil von 0,047 Prozent am Gesamthaushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Das BMZ hat in seinen Positionspapieren zu globalen Partnerschaften (2021) und zu Dreieckskooperationen (2022) diese Projektform als ein zentrales Instrument für die zukünftige deutsche Nord-Süd-Zusammenarbeit identifiziert.
Indiens Süd-Süd-Kooperation
Trotz seiner Wachstumserfolge ist Indien weiterhin einer der größten Empfänger deutscher EZ-Mittel. 2019 erhielt Indien über 1,6 Milliarden Euro an Hilfen, über 98 Prozent davon im Rahmen der finanziellen Zusammenarbeit (FZ). Indien wiederum bietet seit Mitte der 1960er im Rahmen seiner Indian Technical and Economic Cooperation (ITEC) Ausbildungs- und Trainingsmaßnahmen sowie Darlehen und Kredite für Länder des Globalen Südens an. Die Vergabe der Mittel orientiert sich nicht an den DAC-Kriterien, sondern folgt den außen‑, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Interessen Indiens. Diese Zusammenarbeit ist ein wichtiges Instrument der indischen Außen- und Sicherheitspolitik und dient auch dazu, die Wirtschaftsinteressen Neu-Delhis im Ausland zu fördern. Der besondere Charakter dieser Kooperation besteht darin, dass die meisten angebotenen Ausbildungsmaßnahmen in Indien stattfinden und dass deren Hauptadressaten politische und administrative Entscheidungsträger aus dem Globalen Süden sind.
In Reaktion auf das wachsende Engagement Chinas im Rahmen seiner Seidenstraßeninitiative in Südasien und im Indischen Ozean hat Indien seine Außenpolitik angepasst. Ein Zeichen der verstärkten Zusammenarbeit mit westlichen Staaten sind mittlerweile auch gemeinsame Projekte in Drittstaaten. So gibt es zum Beispiel bereits eine Reihe von Programmen zwischen indischen Einrichtungen und der United States Agency for International Development (USAID). Unter anderem soll mit der South Asia Regional Initiative for Energy Integration (SARI/E) der grenzüberschreitende Elektrizitätshandel und die wirtschaftliche Entwicklung in Südasien gestärkt werden. In Kooperation mit der USAID bietet das indische National Institute of Agricultural Extension Management (MANAGE) Trainingsprogramme für afrikanische und asiatische Akteure an, die in der Landwirtschaft tätig sind. Zudem wird im Rahmen der »Global Research Partnership on Food and Nutrition Security, Health and Women« (GRP) der Aufbau einer britisch-indischen Wissenschaftspartnerschaft mit Forschern und Forscherinnen des Globalen Südens unter anderem in Nepal und Malawi vorangetrieben. Das Team arbeitet vorrangig an der Entwicklung evidenzbasierter Lösungen in den Bereichen Gesundheit und Ernährung.
Bereiche und Probleme der Dreieckskooperation
Für eine deutsch-indische DEK lassen sich eine Reihe von Themenfeldern identifizieren. Vor zehn Jahren gab es erste Ansätze, ein indisches Krankenversicherungssystem, das mit Hilfe der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) entwickelt worden war, auch international zu vermarkten. Indien hat in den letzten Jahren seine Kapazitäten im Bereich der digitalen Verwaltung deutlich ausgebaut. Solche Instrumente sind für viele Staaten des Globalen Südens von Interesse. Hierzu zählen zum Beispiel elektronische Identitätsdokumente wie die Aadhaar-Karte oder das Unified Payments Interface (UPI), das sämtliche Online-Banking-Systeme in einer mobilen App integriert und mit dem sich Geldtransfers in Echtzeit durchführen lassen. Des Weiteren betreibt Indien Projekte zum Kapazitätsaufbau, zum Beispiel mit Staaten im Indischen Ozean oder in Ostafrika, die darauf abzielen, die maritime Wirtschaft zu fördern, den ökologischen Küstenschutz zu verbessern oder der zunehmenden illegalen Fischerei zu begegnen.
Bei der Umsetzung der DEK stellen sich jedoch mehrere Probleme. Erstens gilt es politische und bürokratische Hürden zu überwinden. So ist Indien als Empfängerland in der EZ zwar Mitglied des DAC, zeigte sich jedoch bisher nicht bereit, die für die Vergabe erforderlichen DAC-Kriterien von Geberländern zu erfüllen. Zweitens verfügen Kooperationspartner im Globalen Süden, darunter auch Indien, nur selten über eine konkrete DEK-Strategie. Drittens erschweren auch Unterschiede bei den Vergaberichtlinien oder der Prüfung und Umsetzung von Umwelt- und Sozialstandards die Zusammenarbeit und erfordern einen größeren Koordinationsaufwand zwischen den beteiligten Parteien. Dieser kann jedoch, trotz struktureller Verbesserungen der indischen Institutionen und eines kontinuierlichen Anstiegs der finanziellen Mittel im Bereich der EZ, wegen mangelnder Kapazitäten insbesondere auf indischer Seite nur langsam bewältigt werden. Schließlich gibt es kaum Informationen über die Effektivität von laufenden und abgeschlossenen trilateralen Projekten. Lernen aus Erfahrung und entsprechende Umstrukturierungen sind daher fast gar nicht möglich.
Ausblick
Die geopolitischen Gemeinsamkeiten bilden das Fundament für den Ausbau der Beziehungen zu Indien. Wirtschaftlich bietet das Land weiterhin ein großes Wachstumspotential für deutsche Unternehmen. Indien hat wiederum ein überragendes Interesse am Ausbau der Beziehungen zu Deutschland und ist dabei vor allem auf den Technologietransfer fokussiert. In einigen Bereichen, wie zum Beispiel in Fragen der Gesellschaftspolitik, wird es dagegen schwieriger sein, die eigenen Wertvorstellungen mit den strategischen Interessen zu vereinbaren.
Mit Blick auf die strategischen Interessen im Indo-Pazifik sollten die bilateralen Beziehungen um Dreieckskooperationen erweitert werden. Dies wäre ein qualitativ neuer Schritt und würde die strategische Partnerschaft auf die nächste Stufe heben. Die Zusammenarbeit in Drittstaaten, zum Beispiel im Bereich der e-Governance oder beim Kapazitätsaufbau in den Staaten im Indischen Ozean oder in Ostafrika, kann einen wichtigen Beitrag zur Ausgestaltung einer regelbasierten Ordnung im Indo-Pazifik leisten, an der Indien und Deutschland ein gemeinsames Interesse haben.
Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien. Jana Lemke war 2021 Praktikantin in der Forschungsgruppe Asien. Tobias Scholz ist Promotionsstudent am King’s College London und der National University of Singapore.
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