Die Risse in der internationalen Ordnung, mit denen sich Politik und wissenschaftliche Politikberatung seit einigen Jahren konfrontiert sehen, werden durch die Corona-Pandemie und ihre Folgen vertieft. Schon der Ausgang des Brexit-Referendums 2016 und die erratische Amtsführung von US-Präsident Donald Trump zwischen 2017 und 2021 haben langgehegte außenpolitische Annahmen über eine immer weiter fortschreitende Globalisierung und einen regelbasierten Multilateralismus in Frage gestellt. Verunsichert durch diese Entwicklungen, die einhergehen mit wachsendem Populismus und der Ausbreitung von »Fake truths«, hat die Szene der außenpolitischen Think-Tanks darüber zu diskutieren begonnen, welche Auswirkungen auf die wissenschaftliche Politikberatung erkennbar sind. Im Folgenden werden einschlägige Debattenbeiträge der letzten Jahre vorgestellt, die um Leitfragen wie diese kreisen: Welche Herausforderungen sehen Think-Tanks angesichts eines zunehmend polarisierten politischen Umfelds für ihre Beratungsarbeit, und wie sollten sie sich gegenüber Öffentlichkeit und Politik positionieren? Und wie können Think-Tanks in diesen ungewissen Zeiten ihre Unabhängigkeit und wissenschaftliche Integrität bewahren?
Inhaltsverzeichnis
Schon 2016 ließ der britische Politiker Michael Gove im Zuge der Brexit-Kampagne provozierend verlauten: »People in this country have had enough of experts!« Eine Auswahl an Schlagzeilen der internationalen Presse mag ebenfalls illustrieren, welche Richtung die Debatte um Wissenschaft, Expertise und Think-Tanks in den letzten Jahren eingeschlagen hat: »Die irritierten Experten« (Süddeutsche Zeitung, 2017); »Are think tanks doomed?« (Politico, 2017); »Can think tanks survive a post-fact world?« (The Economist, 2019) – und mit Bezug auf die Covid-19-Pandemie: »There’s no such thing as just ›following the science‹ – coronavirus advice is political« (The Guardian, 2020).
Think-Tanks (im Deutschen auch: Denkfabriken), die auf dem Feld der Außenpolitik unabhängige und wissenschaftliche Expertise anbieten, wirken darauf hin, Regierungen und Parlamente bzw. politische Führungskräfte mittels relevanter, multidisziplinärer, anwendungsorientierter und faktensicherer Analysen zu beraten, sei es über Publikationen, Briefings oder andere Formate. Durch die Arbeit solcher Think-Tanks soll die Politik ein besseres Verständnis der internationalen Beziehungen gewinnen und dabei unterstützt werden, informierte Entscheidungen in außen- und sicherheitspolitischen Fragen zu fällen (für weiterführende Definitionen vgl. Lars Brozus und Hanns Maull 2017, siehe empfohlene Literatur). Auf beiden Seiten des Atlantiks haben Außenpolitik-Think-Tanks eine größere Bedeutung in öffentlichen Debatten erlangt, wofür es mehrere Gründe gibt. Treiber der Entwicklung sind zuvorderst eine wachsende politische Polarisierung in westlichen Demokratien, das Aufkommen von Verschwörungsmythen und »postfaktischen« Wahrheiten in politischen Diskursen sowie eine wachsende Skepsis in Teilen der Bevölkerung gegenüber Eliten überhaupt. Damit einhergehend ist auch das Verhältnis zwischen Politik und Politikberatung Veränderungen unterworfen und zusehends von Misstrauen geprägt. Weitere Faktoren kommen hinzu, wie ein zunehmend kompetitiver »Wissensmarkt«, auf den vermehrt nichtwissenschaftliche Anbieter drängen, und die Corona-Pandemie seit 2020, die einen Schock für Politik und Gesellschaften weltweit darstellt. Betroffen von diesen Entwicklungen sind auch etablierte Institute, darunter Denkfabriken angelsächsischer Prägung, von denen die wissenschaftliche Politikberatung in den internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg maßgeblich begründet wurde, so etwa Chatham House in Großbritannien und der Council on Foreign Relations in den USA. Die Szene der Foreign-Policy-Think-Tanks erlebte so während der letzten Jahre einen Diskussionsprozess, der angesichts einer Vielzahl von Unsicherheiten in der internationalen Politik um die eigene Relevanz, das eigene Selbstverständnis und die eigene Zukunft kreiste.
Im Folgenden werden einschlägige Beiträge europäischer und angelsächsischer Außenpolitik-Think-Tanks aufgegriffen, die jeweils einen Teil dieser Debatte abbilden. Die Auswahl umfasst Redebeiträge auf Konferenzen (zugänglich als Audio- oder Textdatei), Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften sowie Meinungsstücke, etwa im Blogformat, beginnend 2017 – also im Nachgang zum Brexit-Referendum und zur Amtseinführung von US-Präsident Trump. Die Beiträge unterscheiden sich in Format und Länge, spiegeln insgesamt aber die facettenreich geführte Diskussion in und zwischen außenpolitischen Denkfabriken wider.
Aktuelle Herausforderungen der Think-Tank-Arbeit
Anfang 2021 waren im Transparenzregister des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission 571 Einrichtungen gelistet, die sich selbst der Kategorie »Denkfabriken und Forschungseinrichtungen« zuordnen (Stand 4.2.2021). Der Wissensmarkt, auf dem Politikberatungsangebote an Regierungen und Parlamente herangetragen werden, wird dabei nicht nur durch Think-Tanks geprägt, sondern auch durch viele nichtwissenschaftliche Akteure wie etwa Banken und Beratungsagenturen.
Einen grundlegenden Wandel auf diesem »Marktplatz der Ideen« konstatierte 2019 Thomas Gomart in einer Sonderpublikation zum 40-jährigen Jubiläum des Pariser Institut français des relations internationales (Ifri). Als Triebfeder für die Veränderung der Arbeit von Think-Tanks sieht er weniger technologische Innovationen wie Big Data, sondern eine gewandelte Beziehung von Denkfabriken zu ihren traditionellen Hauptkontaktgruppen – Politik, Wirtschaft, Medien und akademische Wissenschaft. Begünstigt werde dieser in der westlichen Welt zunehmende Trend durch einen Vertrauensverlust der Öffentlichkeit gegenüber Autoritäten und Expertise, durch eine Polarisierung der politischen Landschaft und durch wachsende sozio-ökonomische Ungleichheit, so Gomart unter Berufung auf Daniel Drezner und Tom Nichols, zwei amerikanische Professoren im Bereich der internationalen Beziehungen. Die Folge sei, dass Think-Tanks auf demselben Markt mit anderen »opinion leaders« konkurrierten, wie politischen Bewegungen, Beratungsfirmen und Medien. Diesem Umfeld ist laut Gomart ein Relativismus zu eigen, der »Wahrheit« nurmehr als soziales Konstrukt gelten lasse, was die Verbreitung von Verschwörungstheorien und die Manipulation von Informationen (»fake news«) begünstige. Weiter polarisiert werde der Ideen-Marktplatz durch wirtschaftliche Faktoren, da finanzielle Ressourcen ungleich verteilt würden, wovon eher etablierte Think-Tanks mit internationalem Einfluss profitierten. Zur Polarisierung trage außerdem bei, dass autoritäre Regime gezielt eigene Denkfabriken gründeten und förderten, während deren Pendants in Demokratien allzu oft weniger finanzielle Unterstützung seitens »ihrer« Regierung erhielten. In diesem Zusammenhang sieht der Autor auch den Aufstieg Chinas als große Herausforderung für außenpolitische Think-Tanks. Peking habe in den letzten Jahren enorme Summen in die Schaffung solcher Institute gesteckt und dafür unter anderem auch auswärtige Expertinnen und Experten rekrutiert. Diese Einrichtungen sollen demnach in die Lage versetzt werden, international vor allem mit amerikanischen Think-Tanks zu konkurrieren. Dem Anspruch einer Internationalisierung stehe jedoch das wachsende Bestreben der chinesischen Führung gegenüber, angesichts »gefährlicher« westlicher Werte und Ideen die eigene ideologische Kontrolle weiter zu festigen.
Robin Niblett, Direktor von Chatham House, benannte 2018 in der Zeitschrift »International Affairs« drei zentrale Herausforderungen, denen sich Think-Tanks heute stellen müssten. Erstens veränderten neue Kommunikationstechnologien die Art und Weise, wie Politik gemacht und legitimiert werde. In einer Welt des Überflusses an Nachrichten und Meinungen komme Analysen von Think-Tanks mitunter weniger Beachtung zu, wenn sie nicht tagesaktuelle Entwicklungen im Fokus hätten. Die Stärke eines Think-Tanks, durch umfangreiche Forschung größere Zusammenhänge aufzubereiten, sei nicht mehr hinreichend relevant für die Zielgruppe. Zweitens sähen sich Think-Tanks mit einem öffentlichen Klima konfrontiert, das geprägt sei von wachsendem Misstrauen gegenüber einer Globalisierung, die von ihnen in den letzten Jahrzehnten nur selten kritisch hinterfragt worden sei. Als Symptome dieser Eliten-Skepsis wertet Niblett unter anderem das Brexit-Referendum und Trumps Wahlsieg von 2016. Diese Ereignisse seien konträr zu etablierten »internationalistischen« Experten-Meinungen eingetreten. In den USA und Großbritannien ergaben sich politische Mehrheiten, die den jahrzehntealten Konsens über die Grundzüge der westlich geprägten liberalen und regelbasierten Weltordnung in Frage stellten – also die bisherige Arbeitsgrundlage westlicher Außenpolitik-Think-Tanks. Laut Niblett sehen sich Denkfabriken nun viel stärker auch im eigenen Land mit den gesellschaftlichen Auswirkungen einer globalisierten Politik konfrontiert; dabei gehe es um soziale Teilhabe, kulturelle Identität und die tatsächlichen Vorteile der Globalisierung. Drittens weist Niblett auf die Reputationsrisiken für Think-Tanks hin, die von ihren jeweiligen Finanzierungsmodellen ausgehen. Dabei unterscheidet er nicht zwingend zwischen öffentlichen und privaten Geldgebern. Vielmehr bestehe die Gefahr darin, dass Denkfabriken weniger kritisch und innovativ arbeiteten, wenn ihre Geldgeber Institutionen (und damit deren Werte) repräsentierten, die für den Status quo der internationalen Beziehungen einträten. Darüber hinaus könnten Think-Tanks in den Verdacht geraten, inhaltlich beeinflussbar zu sein. Denn generell sei der Trend wahrzunehmen, dass neben privaten Unternehmen und Stiftungen zunehmend auch ausländische Regierungen in Think-Tanks investierten – vor allem solche mit Sitz in Washington, Brüssel und London –, um auf diese Weise die eigene »soft power« zu stärken.
Auf einer Paneldiskussion 2019 zum 100‑jährigen Bestehen des Council on Foreign Relations (CFR) sprach dessen Präsident Richard N. Haass über die Herausforderungen, denen sich Think-Tanks auf dem Feld der internationalen Beziehungen angesichts ihrer veränderten Rollenfunktion stellen müssten. Demnach ist es für Think-Tanks heutzutage schwierig, bei den außenpolitischen Eliten weiterhin Gehör zu finden und gleichzeitig den eigenen Wirkungskreis im Rahmen einer zu beobachtenden »Popularisierung« der außenpolitischen Debatten auszuweiten. Bei vielen Think-Tanks sei problematisch, dass sie durch vorherrschende Grundannahmen zur internationalen Ordnung die eigene Forschungsarbeit ebenso eingrenzten wie die Rekrutierung neuer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Bevor bestimmte Empfehlungen erarbeitet und nach außen hin vertreten werden könnten, müssten Think-Tankerinnen und Think-Tanker ihre außenpolitischen Prämissen – etwa dass die Nato oder der freie Handel »etwas Gutes« seien – hinterfragen und stets neu begründen, um mehr Akzeptanz beim Adressatenkreis zu erlangen. Forscherinnen und Forscher in Think-Tanks sind Haass zufolge allzu oft intellektuell voreingenommen. Sie müssten bestimmten vorgegebenen Linien folgen, um publizieren zu können, was eine weitere Politisierung der Debatte über die internationalen Beziehungen befördere. Dadurch kämen Think-Tanks in eine Position, in der sie bei einem unregulierten Meinungswettbewerb, wie er vor allem im Internet stattfinde, weniger gut bestehen könnten.
Rosa Balfour befasste sich 2017 – als Senior Transatlantic Fellow beim German Marshall Fund of the United States – ebenfalls mit den Reputationsrisiken, die Think-Tanks durch ihre Finanzierungsmodelle erwachsen können. Wie sie in einem »Strategic Update« für den IDEAS-Think-Tank der London School of Economics (LSE) ausführte, sei das Feld der Außenpolitik kein »elite’s business« mehr, das sich getrennt von innenpolitischen Erwägungen betreiben ließe. Dies zeige sich etwa an migrationsbezogenen Themen. Angesichts aktueller Trends wie Fake News und Populismus sei die Frage brisanter geworden, woher einzelne Denkfabriken ihre Mittel beziehen. Als intransparent empfundene Finanzierungswege könnten die Integrität eines Think-Tanks rasch in Zweifel ziehen. Des Weiteren sieht Balfour ebenfalls eine erhöhte Konkurrenz auf dem »market for ideas«, wo sich zunehmend auch universitäre Denkfabriken um die Aufmerksamkeit des politischen Kundenkreises bemühten. Vor allem seien es jedoch nichtwissenschaftliche Mitbewerber, die davon profitierten, dass die Legitimität des »Establishments« in Politik und Wissenschaft erodiere. So entstehe ein Umfeld, in dem bewusst Argumente eingesetzt würden, die nicht auf Fakten beruhen müssten. Da Think-Tanks laut Balfour keine eigene politisch-gesellschaftliche »constituency« besitzen, die ihnen eine grundlegende Legitimität verleihen könnte, liefen sie Gefahr, schutzlos zu sein gegenüber der Kritik von populistischer Seite. Dort würden Think-Tanks als geschlossene Echokammern dargestellt, die dazu beitrügen, dass Politik eine reine Elitenangelegenheit bleibe.
Vorwärtsstrategien für Think-Tanks in Krisenzeiten
In der Debatte über die Herausforderungen, denen sich Think-Tanks dieser Tage stellen müssen, spielen auch Erwägungen über die längerfristige Zukunft der Branche eine Rolle. Dazu gehören vor allem Vorschläge, wie sich das angespannte Verhältnis zu Öffentlichkeit und Politik verbessern ließe, in welcher Weise sich Think-Tanks intern verändern sollten und wie sie ihre (wissenschaftliche) Unabhängigkeit und Integrität wahren könnten.
In einem Beitrag für die Zeitschrift »Internationale Politik« von 2017 stellen Sarah Brockmeier (vom Berliner Global Public Policy Institute) und Heiko Nitzschke (Forschungsbeauftragter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt, mit privater Meinung) eine verbesserte Kommunikation und Außenwirkung der Politikberatung in den Mittelpunkt möglicher Lösungsstrategien. Demnach kann der Kontakt mit Bürgerinnen und Bürgern den Think-Tanks grundsätzlich dabei helfen, sich zielorientierter in einem schwierigen politisch-gesellschaftlichen Umfeld zu positionieren und sich aus den als geschlossen wahrgenommenen »Experten-Echokammern« hinauszubewegen. In dem Aufsatz wird dafür plädiert, die allgemeine Bürgerschaft, deren außenpolitisches Interesse laut Umfragen zunehme, stärker als eigene Zielgruppe von Think-Tank-Arbeit zu betrachten. Für die wissenschaftliche Politikberatung könne sich ein Mehrwert ergeben, wenn in Bürgergesprächen über reale außenpolitische Zielkonflikte und normativen Dissens zu internationalen Fragen debattiert würde. Am Ende stünden möglicherweise andere Ergebnisse als beim Austausch in etablierten Außenpolitik-Kreisen. Neben dem Gebrauch von einfacherer und klarer Sprache wird auch vorgeschlagen, außenpolitische Diskussionsformate vermehrt aus den Hauptstädten hinauszuverlagern und neuartige Verbreitungswege für Forschungsergebnisse zu erproben. Wäre die Rolle von Think-Tanks nicht mehr nur die eines »Meinungsgebers«, sondern verstärkt auch jene eines »Facilitators« notwendiger gesellschaftlicher Debatten, müssten sie intensiver über ihr eigenes Aufgabenprofil nachdenken, wie Brockmeier und Nitzschke schlussfolgern. Eine solche Entwicklung könne Denkfabriken eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz verschaffen.
Andere Beiträge konzentrieren sich auf die Frage, wie Think-Tanks sich personell, organisatorisch und in ihrer Außenkommunikation neu aufstellen können. Shada Islam, damals Direktorin für Europa und Geopolitik bei Friends of Europe in Brüssel, verlangte 2018 auf einer Veranstaltung des ebenfalls in Brüssel ansässigen Think-Tanks Bruegel, dass Denkfabriken vor allem in kommunikativer Hinsicht ihre wissenschaftliche Expertise verständlicher und mit mehr Überzeugungskraft transportieren müssten, um im Aufmerksamkeitswettbewerb mit anderen Akteuren bestehen zu können. Das Feld der sozialen Medien dürfe nicht denjenigen überlassen werden, die mit unwahren Behauptungen und illiberalen Diskursen die Öffentlichkeit und Politik zu beeinflussen suchten. Personell müssten sich Think-Tanks diverser aufstellen, um responsiver gegenüber ihrer Umwelt werden zu können.
Ein Mehr an Innovationen sowie ethnischer, geschlechtlicher und sozialer Diversität im Forschungsbereich von Think-Tanks fordert auch Rosa Balfour in dem bereits erwähnten Beitrag für die LSE. Des Weiteren wirbt sie für bessere Aufstiegschancen junger Kolleginnen und Kollegen. Gleichzeitig müssten Forschungsmethoden durch kollaborative und interdisziplinäre Ansätze weiterentwickelt werden. Think-Tanks sollten ferner ihre bisherigen Zielgruppen erweitern, um gesellschaftlich relevante Entwicklungen besser erfassen und in die eigene Arbeit einbeziehen zu können.
Andere Autoren rücken den Austausch zwischen Think-Tanks und Politik in den Fokus ihrer Überlegungen. Angesichts der Corona-Krise müssten Denkfabriken ihr Verhältnis zur Politik verbessern, schreibt Oliver Thränert, Leiter des Think-Tanks am Center for Security Studies der ETH Zürich, in einem Beitrag für die Reihe »Policy Perspectives« von April 2020. Zwar seien Think-Tanks selbst nicht demokratisch legitimiert, doch bedürften demokratisch legitimierte Entscheidungsprozesse in der Politik einer wissenschaftsbasierten, interdisziplinären Beratung. Damit Denkfabriken dieser Verantwortung während der Pandemie und darüber hinaus gerecht werden können, ist laut Thränert eine stärkere Vermischung von Regierungs- und Think-Tank-Personal notwendig, wie es sie in den USA traditionell gegeben habe (»Drehtür-Kultur«). Expertinnen und Experten könnten so auf beiden Seiten mehr Erfahrung sammeln, Think-Tanks wiederum ihr Wissen zielgerichteter in die ministerielle Verwaltung einspeisen. Thränert plädiert dafür, die wissenschaftliche Politikberatung durch eine Reihe von Elementen relevanter zu machen: durch mehr Berührung mit politischen Prozessen, durch eine praxisnähere Ausbildung von Think-Tank-Forscherinnen und ‑Forschern, politikaffinere Beratungsformate und eine Stärkung der Interdisziplinarität zwischen Natur-, Sozial- und Politikwissenschaften. So sei aktuell der Anteil an politikberatenden Naturwissenschaftlerinnen und ‑wissenschaftlern noch zu gering. Vor allem während der Pandemie hätten Think-Tanks deshalb das Bild vermittelt, nur eingeschränkt reaktionsfähig und somit für die Politik begrenzt hilfreich zu sein.
Lars Brozus, Senior Fellow an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), warnt in einem Meinungsbeitrag von September 2020 vor den möglichen Nachteilen einer Lösungsstrategie, die in der Hauptsache auf einen intensivierten Austausch von Think-Tanks mit der Gesellschaft und politischen Führungskräften setzt. Vorschläge wie jene, den Bürgerkontakt zu verstärken oder eine europäische »Drehtür-Kultur« zu etablieren, erscheinen ihm angesichts der gegenwärtigen Polarisierung wie aus der Zeit gefallen. So habe auch die Corona-Krise die Akzeptanz einer wissenschaftlichen Politikberatung nicht erhöht. Brozus verweist auf die Lage in den USA, wo die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Expertise in politischen Auseinandersetzungen angezweifelt werde und wissenschaftliche Positionen im Meinungskampf gezielt vereinnahmt würden (»weaponizing science«). Vor diesem Hintergrund müssten sich Denkfabriken vor allem über ihre eigene politische Rolle im Klaren sein. Sie hätten einerseits Transparenz zu gewähren, auch bei der eigenen Finanzierung, rigide Standards der Qualitätssicherung einzuhalten und Multiperspektivität in Forschungsfragen zu schaffen. Andererseits sollten sie sich auch ihrer eigenen Unzulänglichkeiten bewusst sein; dazu zählten »(scheinbare) Fehlschläge« ebenso wie »tatsächliche Irrtümer«, mit denen offen umzugehen sei. Der Autor schließt mit der Feststellung, dass durch eine angemessene Distanz zur Politik und durch Selbstaufklärung eine politische Vereinnahmung verhindert werde und die eigene Unabhängigkeit, Glaubwürdigkeit und Relevanz gewahrt bleiben könne.
Für Distanz zu politischen Prozessen plädierte auch Richard N. Haass auf der erwähnten Diskussionsveranstaltung des CFR im Jahr 2019. Think-Tanks sollten mehr konzeptionelle Forschungs- und Beratungsarbeit leisten, die nicht bloß »day-to-day« angelegt sei. Regierungsgeschäfte sind laut Haass zu sehr von tagesaktuellen Entwicklungen bestimmt, als dass Analysen von Denkfabriken dort adäquat in Entscheidungsprozesse einbezogen werden könnten. Think-Tanks sollten in langfristigen Bahnen denken, um die nächste Generation an politischen Führungskräften zu erreichen. Auf diese Weise könnten sie größeren Einfluss auf die Zukunft der außenpolitischen Debatten nehmen.
Einen ethischen Rahmen für Think-Tanks fordert Fabian Zuleeg, Chief Executive am Brüsseler European Policy Centre (EPC), in einem Diskussionspapier von September 2020. Wenn Think-Tanks demokratisch legitimierte Entscheidungsprozesse weiterhin direkt beeinflussen wollten, müssten sie den Anspruch entwickeln, klar definierten ethischen Grundsätzen zu folgen. Unethisch handelnde Denkfabriken, die ihre Arbeit manipulativ für politische Zwecke einsetzten, betrachtet Zuleeg als Gefahr für demokratische Prozesse im Allgemeinen. Da missbräuchliches bzw. unethisches Verhalten eines Mitbewerbers bislang nur schwer erfasst und nicht geahndet werden könne, sei es geboten, einen ethischen Handlungs- und Orientierungsrahmen für Think-Tanks zu schaffen. Anders als bei der traditionellen akademischen Forschung existierten in der Politikberatung keine einheitliche Definition und keine Standards für ethische Regeln, denen eine normative Kraft innewohnt. Dem Autor zufolge müssten ethisch handelnde Think-Tanks die Prinzipien der Unabhängigkeit, des Multi-Stakeholder-Ansatzes, der Transparenz und der eigenen Good Governance erfüllen. Ein entsprechender Rahmen wäre laut Zuleeg gemeinschaftlich und »bottom-up« zu entwickeln; unterstützen ließe er sich durch finanzielle Anreize einer möglichen »Allianz europäischer Think-Tanks«. Unethisches Verhalten könnte dadurch sanktioniert werden, dass man von dem Verbund ausgeschlossen bliebe. Negative finanzielle Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Think-Tanks könnten einen solchen Zusammenschluss umso dringlicher machen.
Auswege & Ausblick
Alle hier behandelten Stellungnahmen – ob kürzere Rede- und Meinungsbeiträge oder umfassendere Zeitschriftenaufsätze – thematisieren die Polarisierung und Politisierung des wissenschaftlich-politischen Diskurses und das Misstrauen von Teilen der Gesellschaft gegenüber Eliten in Wissenschaft und Politik. In der Frage, welche Auswege sich Think-Tanks bieten, um mit dieser schwierigen Gesamtlage umzugehen, werden sehr unterschiedliche Lösungsansätze sichtbar. Sie reichen von der Empfehlung, den Austausch mit gesellschaftlichen und politischen Akteuren zu intensivieren, bis hin zu Appellen, die wissenschaftliche Politikberatung solle hier eher eine gewisse Distanz wahren. Allerdings ist sämtlichen Beiträgen das Bestreben gemein, Ansätze zu finden, mit denen sich Glaubwürdigkeit und Relevanz der Politikberatung in Zeiten der Polarisierung auf ein solides bzw. breiteres Fundament stellen lassen. Als zentral gilt dabei vor allem, die wissenschaftliche Unabhängigkeit zu wahren, Transparenz zu pflegen, unter anderem bei den eigenen Finanzen, und offen zu sein gegenüber Diversität und innovativer Forschung.
Erwähnenswert ist jedoch auch, was die behandelten Beiträge unerwähnt lassen. Sie gehen alle davon aus, dass die Think-Tank-Branche heute mit einem schwierigen bzw. sich verschlechternden (außen-)politischen Umfeld konfrontiert sei. Welche Maßstäbe dabei jedoch an den Zustand der internationalen Beziehungen angelegt werden, wie sich auf dieser Basis der Schwierigkeitsgrad für die Think-Tank-Arbeit ermitteln lässt und wo eine tiefergehende Diskussion über die aktuellen Herausforderungen beginnen könnte, wird in den Stellungnahmen nicht näher beleuchtet. Grund dafür könnte unter anderem sein, dass ein Unbehagen besteht, die eigenen weltanschaulichen Grundsätze und Erwartungen (persönlicher oder institutioneller Art) offenlegen und zur Diskussion stellen zu müssen.
Dessen ungeachtet müssen außenpolitische Think-Tanks davon ausgehen, dass sich die Rahmenbedingungen in den internationalen Beziehungen weiter verändern werden. Übungen in »strategischer Vorausschau« (SWP-Aktuell 42/2020) können ihnen wie auch der Politik dabei helfen, auf »denkbare Überraschungen« besser gefasst zu sein. Grundsätzlich sollten Denkfabriken auf dem schwierigen Feld der Außenpolitik nicht nur im Blick haben, wie auf die nächste Krise zu reagieren ist, sondern auch was die wissenschaftliche Politikberatung während solcher Phasen und darüber hinaus überhaupt leisten soll und kann. Soll sie sich in erster Linie an den Kreis der politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger richten? Soll Außenpolitik also weiterhin eher ein »elite’s business« bleiben? Oder sollen Think-Tanks vielmehr zu einer »Popularisierung« des außenpolitischen Diskurses beitragen, indem sie ihren Adressatenkreis erweitern? Werden sie auf einem ohnehin gedrängten Wissensmarkt dann noch als relevante Akteure wahrgenommen? Einheitliche Antworten lassen sich hierzu ob der Heterogenität der außenpolitischen Think-Tank-Landschaft und der Vielzahl an verschiedenen Organisations- und Finanzierungsmodellen nicht einfach geben. Die Debatten innerhalb politikberatender Institute und zwischen ihnen sollten jedoch Fragen nach der eigenen Legitimität und wissenschaftlichen Integrität im Fokus behalten.
Fundierte Bestandsaufnahmen zur Think-Tank-Szene können dazu beitragen, die genannten Fragen zu beantworten. In diese Richtung zielt eine Studie, die Christoph Bertram, früherer Direktor der SWP, und Christiane Hoffmann vom Magazin »Spiegel« im September 2020 zur deutschen Think-Tank-Landschaft in der Außen- und Sicherheitspolitik herausgegeben haben. Auch Ansätze, die Arbeit der wissenschaftlichen Politikberatung etwa durch neue Theoriemodelle zu bereichern (z.B. um die Science and Technology Studies, wie Felix Schenuit in einem SWP-Arbeitspapier von 2017 darlegt), können die Debatte in außenpolitischen Think-Tanks sinnvoll ergänzen.
Besprochene Publikationen
Balfour, Rosa, What Are Think Tanks for? Policy Research in the Age of Anti-expertise. What Role Can and Should Think Tanks Play in a ›Post-truth‹ World?, London: London School of Economics and Political Science (LSE), Dezember 2017 (Strategic Update, Nr. 17.7)
Brockmeier, Sarah/Heiko Nitzschke, »Mehr Marktplatz, weniger Papier. Think Tanks sollten stärker den Dialog mit der breiteren Öffentlichkeit suchen«, in: Internationale Politik, (2017) 6, S. 30–35
Brozus, Lars, Politikberatung: nicht unpolitisch, aber distanziert, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 7.9.2020 (Kurz gesagt)
Gomart, Thomas, »Changes in the Think Tank Industry«, in: Thierry de Montbrial/Thomas Gomart, What Is a Think Tank? A French Perspective, Paris: French Institute of International Relations (Ifri), November 2019, S. 55–61
Haass, Richard N., A Century of Think Tanks, New York: Council on Foreign Relations (CFR), 6.5.2019
Islam, Shada, Why Think Tanks Matter in the Era of Digital and Political Disruptions, Brüssel: Bruegel, 30.01.2018
Niblett, Robin, »Rediscovering a Sense of Purpose. The Challenge for Western Think-Tanks«, in: International Affairs, 94 (2018) 6, S. 1409–1429
Thränert, Oliver, Politikberatung in Corona-Zeiten, Zürich: CSS ETH, April 2020 (Policy Perspectives, Bd. 8/2)
Zuleeg, Fabian, An Ethical Framework for Think Tanks: Easier Drafted Than Done?, Brüssel: European Policy Centre, 21.9.2020 (Discussion Paper, Europe’s Political Economy Programme)
Empfohlene Literatur
Bertram, Christoph/Christine Hoffmann, Forschen und Beraten in der Außen- und Sicherheitspolitik. Eine Analyse der deutschen Think-Tank-Landschaft, Berlin: Robert Bosch Stiftung und Stiftung Mercator, 2020
Brozus, Lars/Hanns W. Maull, »Think Tanks and Foreign Policy«, in: Oxford Research Encyclopedia of Politics, Oxford: Oxford University Press, 2017
Perthes, Volker, »Scientific Policy Advice and Foreign Policymaking – Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), the German Institute for International and Security Affairs«, in: Justus Lentsch/Peter Weingart (Hg.), The Politics of Scientific Advice. Institutional Design for Quality Assurance, Cambridge: Cambridge University Press, 2011, S. 286–294
Schenuit, Felix, Modelle wissenschaftlicher Politikberatung auf dem Prüfstand. Impulse für die Politikwissenschaft aus den Science and Technology Studies, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 2017 (Arbeitspapier FG EU/Europa, Nr. 03)
Nicolas Lux ist Programm-Manager im Brüsseler Büro der SWP.
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doi: 10.18449/2021ZS01