Die breite Solidarisierung mit Polen, die innerhalb der EU aufgrund der Krise an der Grenze zu Belarus aktuell zu beobachten ist, ändert nichts am Grundsatzkonflikt in der Frage der Rechtsstaatlichkeit. In den vergangenen Monaten hat Polen Rechtsprinzipien der Union offen in Zweifel gezogen. Es ist nicht zu erwarten, dass die amtierende polnische Regierung effektive Maßnahmen zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz ergreifen wird. Wenn es dabei bleibt, wird die EU ihre Finanztransfers an Polen wie an Ungarn substantiell einschränken müssen. Auch die horizontale Anwendung von EU-Recht wird gegenüber Polen auf wachsende Vorbehalte stoßen. Zum Schutz des europäischen Gemeinwesens müssen politisch angespannte Beziehungen zu Polen indes in Kauf genommen werden. Die neue Bundesregierung hat das Ziel, die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit zu priorisieren, in ihrem Koalitionsvertrag niedergelegt. Sie sollte daran festhalten.
Die Gefahr eines Abbaus demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen in einigen Mitgliedsländern belastet die Union seit mindestens zehn Jahren. Ende 2020 kam es zu einer ersten dramatischen Zuspitzung mit Auswirkungen für alle EU-Staaten (SWP-Aktuell 72/2020). Damals standen die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen und zu den außergewöhnlichen Corona-Hilfsgeldern kurz vor dem Scheitern, da Polen und Ungarn den zeitgleich verhandelten Mechanismus zur Einschränkung von EU-Zahlungen im Fall von rechtsstaatlichen Defiziten grundsätzlich ablehnten. Der Kompromiss, die Anwendung dieses Mechanismus auf Fälle zu reduzieren, in denen die »finanziellen Interessen der Union« Schaden nehmen könnten, und zugleich die vertragsrechtliche Zulässigkeit der Regelung vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) prüfen zu lassen, hat lediglich dazu geführt, den Konflikt um einige Monate zu vertagen.
Das Europäische Parlament drängt die EU-Kommission seit Herbst 2021 mittels einer Untätigkeitsklage, den neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus zu aktivieren – ungeachtet der zuvor von Polen und Ungarn eingereichten Nichtigkeitsklage gegen diesen Mechanismus. Angesichts der Positionierung des EuGH in zahlreichen anderen Streitfällen zur Rechtsstaatlichkeit ist anzunehmen, dass mindestens letztere Klage im kommenden Frühjahr abgewiesen wird. Der Generalanwalt am EuGH hat jüngst am 2. Dezember seinen Schlussantrag in diesem Sinne vorlegt
Vor diesem Hintergrund hat die EU-Kommission Polen und Ungarn zu einer schriftlichen Stellungnahme aufgefordert, in der die beiden Staaten darlegen sollen, wie sie systematischen Risiken zulasten der finanziellen Interessen der Union begegnen wollen. Damit hat sie de facto mit der Anwendung der Rechtsstaatlichkeitskonditionalität begonnen. Parallel segnet die EU-Kommission die »Aufbaupläne« Polens und Ungarns noch nicht ab und gibt damit die Auszahlung der gesonderten Corona-Hilfen (»NextGenerationEU«) nicht frei. Für beide Länder geht es dabei um sehr umfangreiche Zuwendungen und Kredite, die Wachstumsimpulse von etwa 4 Prozent ihres jeweiligen nationalen Bruttoinlandsprodukts erzeugen könnten. Die Kommission verlangt zuvor Nachbesserungen mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit. So hat sie Polen angeboten, einen Teil der Corona-Hilfen auszuzahlen, wenn die Regierung in Warschau einen Fahrplan zur Reform des Disziplinarwesens für polnische Richter vorlegt.
Spiel auf Zeit
Die europarechtliche Grundlage für dieses Vorgehen ist stark umstritten. Die regulären Fristen zur Bewertung der nationalen Aufbaupläne wurden bereits überschritten. Bei der Prüfung der Pläne soll sich die Kommission unter anderem an den Empfehlungen orientieren, die 2020 im Rahmen der wirtschafts- und fiskalpolitischen Koordinierung (Europäisches Semester) erarbeitet wurden. Themen der Rechtsstaatlichkeit können dabei eine Rolle spielen. Ein Beispiel dafür ist der bewilligte Aufbauplan Maltas, mit dem unter anderem die Justiz modernisiert werden soll. Kern der länderspezifischen Empfehlungen (LSE), die die Kommission im Zuge dieses Verfahrens zusammenstellt, bleiben jedoch die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit, die Sicherung der Beschäftigung und eine nachhaltige Haushaltsführung. Zudem handelt es sich lediglich um Empfehlungen, die von den Mitgliedstaaten erfahrungsgemäß häufig nur selektiv umgesetzt werden.
Im Fall Polens thematisieren die LSE den Bereich der Rechtsstaatlichkeit jedenfalls nur nachrangig, während mit Blick auf Ungarn der pandemiebedingt besonders weitreichende Ausnahmezustand moniert wird. Eine klare Verpflichtung zur umfassenden Reform des Justizwesens ist aus diesen Empfehlungen nicht abzuleiten.
Die Durchführungsverordnung zu den Corona-Hilfen verweist zusätzlich auf die Notwendigkeit, die finanziellen Interessen der Union zu schützen, was insbesondere im Fall Ungarn als nicht gesichert gelten kann. Die Verpflichtung zum rechtsstaatskonformen Einsatz der Mittel betrifft jedoch den Verwendungsnachweis und nicht den Aufbauplan. Insofern ist davon auszugehen, dass die EU-Kommission die Corona-Hilfen für Polen und Ungarn aus rechtlichen Gründen nicht dauerhaft zurückhalten kann.
Einige kritische Mitgliedstaaten wie die Niederlande könnten die Auszahlung allerdings auch verzögern. Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag ebenfalls ihre Unterstützung für das aktuelle Vorgehen der Kommission bekundet. Grundsätzlich kann jeder Mitgliedstaat bei starken Vorbehalten eine Anrufung des Europäischen Rats erwirken mit dem Ziel, dass der nationale Aufbauplan eines anderen Mitgliedstaats erneut überprüft wird. Dabei gelten jedoch die gleichen rechtlichen Rahmenbedingungen wie bei den LSE: Prüfgegenstand sind primär die ökonomische Effektivität und Effizienz des Plans.
Trotz dieser ungesicherten Handlungsgrundlage könnte so die Zeit bis zur Aktivierung des neuen Rechtstaatlichkeitsmechanismus überbrückt werden. Danach könnten die Organe der Union Zahlungen aus dem EU-Budget an Polen und Ungarn auf einer europarechtlich gesicherten Basis einschränken. Es ist denkbar, dass der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus auch bei den gesonderten Corona-Hilfen angewendet wird, selbst wenn weitere Anfechtungsklagen zu erwarten wären. Mindestens würde es für die im April oder Mai 2022 anstehenden Wahlen in Ungarn nicht mehr möglich sein, dass die Fidesz-Regierung neue EU-Mittel dazu einsetzt, ihre Popularität zu erhöhen.
Konsequente Linie des EuGH
Der seit langem ausgetragene Streit über die Konditionierung von EU-Finanzmitteln wird mittlerweile durch noch grundsätzlichere Konflikte überschattet. Ab 2019 fällte der EuGH mehrere kritische Entscheidungen zu den Justizreformen, die die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) seit ihrer Regierungsübernahme in Polen durchgeführt hatte. Die Neuerungen betrafen unter anderem Pensionsregelungen und weitere Verfahrensänderungen bei der Ernennung von Richtern auf allen Ebenen. Im März 2021 urteilte der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren, das etablierte Richter am obersten polnischen Verwaltungsgerichtshof beantragt hatten, dass die richterliche Unabhängigkeit in Polen substantiell gefährdet sei. In seiner Begründung betonte der EuGH, dass alle Verfahren zur Ernennung von Richtern einen effektiven Rechtsbehelf einschließen müssen und diesbezügliche Vorlagen zur Vorabentscheidung durch den EuGH nicht durch nationale Gesetzgebung eingeschränkt werden dürfen.
Im Juli dieses Jahres gab der EuGH in einem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission umfänglich Recht und forderte eine Abwicklung der neu eingeführten Disziplinarordnung für polnische Richter. Denn diese erlaube eine zu weitreichende politische Einflussnahme. Eine entsprechende einstweilige Verfügung, die der EuGH bereits im April 2020 ausgesprochen hatte, wurde von der polnischen Regierung ignoriert. Diese kündigte jedoch an, die erst 2017 geschaffene und besonders umstrittene Disziplinarkammer am obersten Gerichtshof abzuschaffen.
Dieser Schritt, sofern er tatsächlich umgesetzt wird, reicht allerdings nicht aus. Gemäß dem EuGH sind vielmehr alle Disziplinarmaßnahmen, die auf rein inhaltliche Aspekte von richterlichen Entscheidungen abstellen, einzustellen und alle diesbezüglich suspendierten Richter wieder einzusetzen. Das strukturelle Problem – die mit den Justizreformen verknüpfte politische Einschüchterung polnischer Richter – veranlasste die EU-Kommission denn auch zu einem weiteren Vertragsverletzungsverfahren. Dabei ging es um das sogenannte »Maulkorbgesetz«, das polnischen Richtern untersagt, in Vorabentscheidungsverfahren zu Fragen der Rechtsstaatlichkeit den EuGH einzuschalten. Auch hier erließ der Gerichtshof im Sommer noch vor seiner Hauptentscheidung eine einstweilige Verfügung und verhängte zur Durchsetzung Ende Oktober ein tägliches Zwangsgeld von 1 Million Euro pro Tag.
Eskalation seitens der polnischen Regierung
Die Festsetzung dieser Rekordsumme wurde unter anderem dadurch motiviert, dass die polnische Regierung den Konflikt in Sachen Rechtsstaatlichkeit in der Zwischenzeit weiter massiv verschärft hatte. Vertreter der PiS warfen der EU wiederholt vor, sie wolle Polen erpressen oder gar unterwerfen, mutmaßlich von Deutschland angetrieben. Der nationale Widerstand gegen ein vermeintliches Diktat aus Brüssel wird – vergleichbar zum Vorgehen Victor Orbans – auf identitätspolitischen Themenfeldern weiterbefeuert, sei es in der Frage des Umgangs mit sexuellen Minderheiten, mit Abtreibungen oder mit irregulären Zuwanderern.
Die aktuelle Krise an der Grenze zu Belarus zeigt zwar, dass gemeinsame Sicherheitsinteressen aller Mitgliedstaaten derartige Differenzen rasch in den Hintergrund treten lassen. Die Strategie Polens, den Vorrang des EU-Rechts grundsätzlich anzufechten, kann jedoch seitens der EU nicht unbeantwortet bleiben. So folgte das polnische Verfassungstribunal Anfang Oktober einer Beschwerde von Premierminister Morawiecki, die dieser als Reaktion auf das kritische EuGH-Urteil beim obersten polnischen Gerichtshof eingebracht hatte. Dieses konstruierte in seinem Beschluss eine Unvereinbarkeit zwischen zentralen Bestimmungen der europäischen Verträge und der polnischen Souveränität und wies eine Einmischung des EuGH kategorisch zurück. Wenn das Leitbild einer »immer engeren Union« (Art. 1 EU-Vertrag, EUV), der Rechtsstaatlichkeit (Art. 2 EUV) und die Garantie eines Rechtsbehelfs in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen (Art. 19 EUV) von supranationalen EU-Organen dahingehend interpretiert würden, die EU-rechtliche Konformität der polnischen Justizreformen anzuzweifeln, stelle dies eine so weitreichende Verletzung der polnischen Verfassung und Demokratie dar, dass schlicht alle weiteren EU-Entscheide hierzu nichtig seien.
Entgegen ihrer Rhetorik kann die polnische Regierung das kontroverse Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom Mai 2020 nicht als ähnlich gelagerten Präzedenzfall geltend machen. Die Argumentation des BVerfG zielte vielmehr auf eine Schärfung der Aufsichtsrolle, die der EuGH gegenüber der Europäischen Zentralbank ausübt.
Vorrang des EU-Rechts
Die ungarische Regierung unterstützt die radikale Linie Polens und hat ihrerseits die Rechtmäßigkeit eines kritischen EuGH-Urteils zu ihrer Asylpolitik vor dem ungarischen Verfassungsgericht in Frage gestellt. Populistische, aber auch traditionelle konservative Kräfte in Frankreich signalisieren Interesse an einer vergleichbaren Neubestimmung der nationalen Souveränität. Wenn also der Ansatz Polens Schule machen sollte, dass nationale Regierungen und Verfassungsgerichte die Grenzen des EU-Rechts einseitig neu ziehen könnten, ohne dabei den Ausgleich mit den bestehenden Verträgen und dem EuGH zu suchen, droht eine schwerwiegende Erosion der Union.
Der Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts geht zwar auf die Rechtsprechung des EuGH selbst zurück und ist erst nachträglich in einer angehängten Erklärung (Punkt 17) zum Lissabonner Vertrag offiziell abgesegnet worden. Mit wenigen Ausnahmen, die essentielle Bestimmungen nationaler Verfassungen betreffen – und nicht Fragen der einfachen Gesetzgebung, wie im Fall der polnischen Justizreformen –, gilt dieser Vorrang aber als unerlässlicher Bestandteil einer funktionierenden Rechtsgemeinschaft. Eine scharfe Abgrenzung der nationalen gegenüber der europäischen Rechtsordnung ist angesichts des erreichten Grads der Integration weder sinnvoll noch möglich.
Reichweite des EU-Rechts
Gleichwohl kann man die Frage stellen, ob der EuGH mit seinen Urteilen zu nationalen Justizreformen seine Kompetenzen überschreitet. Der vom Europäischen Gerichtshof hierfür bemühte Artikel 19 EUV ist im Wortlaut nur für die »in den vom Unionsrecht erfassten Bereiche« gültig. Die nachvollziehbare Argumentation des EuGH besteht hingegen darin, dass nationale Gerichte auf allen Ebenen regelmäßig für die Auslegung von EU-rechtlichen Bestimmungen zuständig sind. Insofern ist es hinfällig, auf struktureller Ebene für die Gewährleistung eines effektiven Rechtsbehelfs zwischen nationalem und europäischem Recht zu unterscheiden. Alle nationalen Gerichte sind also zugleich Gerichte für EU‑Recht und fallen somit teilweise unter die Aufsicht des EuGH. Diese Aufsicht beschränkt sich auf die Garantie der Unabhängigkeit und die rechtsstaatliche Arbeitsweise der Justiz, nicht auf die genaue Ausprägung ihrer nationalen Organisation. Zwar kann der Anlass für eine entsprechende Befassung des EuGH kleinteiliger erscheinen, wie die erste wegweisende Entscheidung zu Einschränkungen der Bezüge portugiesischer Richter gezeigt hat. In einer beträchtlichen Zahl von Beschlüssen beschränkt sich der EuGH aber letztlich darauf, dass keine begründeten Zweifel an der Unabhängigkeit der Richter bestehen dürfen. Die Mitgliedstaaten gestalten dann die Reform der jeweils umstrittenen Regelungen in Eigenverantwortung.
Die Spaltung der polnischen Justiz
Diese EU-rechtlichen Fragestellungen treffen ohnehin nicht den eigentlichen Kern des aktuellen Konflikts zur Rechtsstaatlichkeit. Dieser besteht seit Machtübernahme der PiS darin, dass bei der Besetzung von Richterpositionen verstärkt parteipolitische Überlegungen angelegt und geltendes polnisches Recht zur Organisation der Justiz verletzt oder systematisch geändert wurden. Diese Tendenzen zeigen sich insbesondere in der regelwidrigen Benennung mehrerer Mitglieder des polnischen Verfassungstribunals und in der Neukonstituierung des für Richterernennungen zuständigen Landesjustizrats, dessen personelle Besetzung seither mutmaßlich zu stark durch die Mehrheitsverhältnisse im polnischen Parlament geprägt wird. Durch diese Maßnahmen ist eine tiefgreifende Spaltung in der polnischen Richterschaft entstanden, nämlich zwischen Richtern, die bereits vor 2016 im Amt waren, und seither ernannten Amtsträgern, die mutmaßlich von der PiS-Regierung abhängen. Dieser strukturelle und klar innerstaatliche Konflikt hat zu zahlreichen Klagen beim EuGH geführt, mit denen die Legalität verschiedener polnischer Kammern oder richterliche Ernennungsprozesse angefochten werden. Polnische Richter mobilisieren im Übrigen alle weiteren noch verfügbaren Rechtsmittel gegen die Justizreformen der eigenen Regierung, insbesondere vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
Wie die Parlamentarische Versammlung und die Venedig-Kommission des Europarats übt auch der EGMR scharfe Kritik an Polen. Das Gericht konstatiert systematische Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Im jüngsten Urteil von Anfang November 2021 spricht das Gericht von einer »offenen Missachtung der Rechtsstaatlichkeit« durch den polnischen Präsidenten, da dieser die Berufung unrechtmäßig bestellter Richter bestätigt habe.
Ungeachtet dessen, dass sich Polen 1993 an die EMRK gebunden hat, reagierten das polnische Justizministerium und das Verfassungstribunal ebenso hart wie gegenüber dem EuGH. Als der EGMR im Mai 2021 die aktuelle Zusammensetzung des polnischen Verfassungstribunals für unrechtmäßig befand mit der Folge, dass dieses nicht mehr als ein »auf Gesetz beruhende(s) Gericht« gelten könne, erklärte selbiges Verfassungstribunal diese Entscheidung für schlicht nicht existent. In einem weiteren Beschluss von Ende November, der auf eine Vorlage des polnischen Justizministers zurückgeht, sprach das Verfassungstribunal dem EGMR grundsätzlich die Kompetenz ab, das Recht auf ein faires Verfahren als Prüfmaßstab für seine Arbeit anzuwenden. Die Option, eine Große Kammer des EGMR zur Überprüfung umstrittener Entscheidungen anzurufen, wurde hingegen bewusst nicht genutzt. Selbst wenn die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention und Umsetzung von Urteilen des EGMR in vielen anderen EU-Staaten defizitär ist, stellt dieses Vorgehen Polens eine besonders radikale Gangart dar und provoziert damit Vergleiche mit der Position Russlands im Europarat.
Kein Kompromiss in Sicht
Ein klarer Kurswechsel, um sowohl den Urteilen des EuGH als auch des EGMR gerecht zu werden, ist von der amtierenden PiS und ihrem Koalitionspartner Solidarna Polska, die rhetorisch vielfach noch unnachgiebiger auftritt, kaum zu erwarten. So müssten substantielle Teile der Richterschaft wegen der kompromittierten Ernennungsverfahren neu besetzt werden. Dabei wäre zwar nicht auszuschließen, dass nach einer unabhängigen fachlichen Prüfung einige der in den letzten Jahren berufenen Amtsinhaber validiert werden. Mindestens im Fall des Verfassungstribunals wäre jedoch damit zu rechnen, dass nicht alle der zuletzt ernannten und der PiS nahestehenden Mitglieder bestätigt würden. Der Vorsitzende der PiS Jarosław Kaczyński verfolgt den Plan einer nationalkonservativen Revolution, die aus seiner Sicht eine »Säuberung« der Justiz einschließen muss, und will dieses Ziel gegen alle etwaigen Hindernisse absichern.
Bereits die von der EU geforderte Rückabwicklung des aktuellen polnischen Disziplinarregimes wird von der polnischen Regierung nicht eingeleitet. Justizminister Ziobro arbeitet vielmehr auf eine weitere Reform des gesamten Justizwesens hin, die seine politischen Zugriffsmöglichkeiten noch ausweiten würde. Zwar ist es denkbar, dass in diesem Zug die umstrittene Disziplinarkammer am obersten Gerichtshof abgeschafft oder grundlegend umstrukturiert wird. Gleichzeitig sollen aber unter dem Etikett der Effizienzsteigerung einige reguläre Gerichte aufgelöst und Instanzenwege verkürzt werden und zahlreiche Richter neue Funktionen zugewiesen bekommen. Schließlich wird unbestätigten Berichten zufolge erwogen, das gesamte polnische Oberste Gericht neu aufzustellen. Alle dort seit langen Jahren arbeitenden Richter sollen sich einem Bewertungsverfahren durch den parteipolitisch kontrollierten Landesjustizrat unterziehen und anschließend in den meisten Fällen versetzt oder frühverrentet werden. Sofern diese Pläne tatsächlich vorangetrieben würden, gäbe es weiteren Anlass zu EU-Vertragsverletzungsverfahren.
Eiszeit der EU-Mitgliedschaft
Die EU muss sich zwangsläufig darauf einstellen, einen anhaltenden und sehr harten Konflikt mit Polen auszufechten. Sofern Victor Orban im Frühjahr 2022 wiedergewählt wird, gilt dies ebenso für Ungarn. Ein EU-Austritt wird von allen Beteiligten nicht ernsthaft erwogen und kann auch nicht durch nationale Verfassungsgerichte ausgelöst werden. Ein politischer Entschluss gemäß dem Verfahren nach Artikel 50 EUV bliebe dafür zwingend Voraussetzung. Desgleichen ist eine Suspendierung der Stimmrechte eines Mitgliedstaats gemäß der zweiten Stufe des Artikel-7-Verfahrens wegen der dafür erforderlichen Einstimmigkeit außer Reichweite.
Unterhalb dieser Schwellen gibt es aber Spielräume und Szenarien, die ausgeleuchtet werden müssen. Mindestens zwei weitere Dimensionen des Konflikts sind in den Blick zu nehmen: erstens eine mögliche europapolitische Blockade durch Polen und zweitens die Suspendierung der horizontalen justiziellen Zusammenarbeit aufgrund einer weiteren Erosion des gegenseitigen Vertrauens. Zusammengenommen könnte, was Polens EU-Mitgliedschaft betrifft, eine politische und rechtliche Eiszeit anbrechen.
Politische Isolierung
Vertreter der polnischen Regierung haben angedeutet, dass sie im Fall eines fortgesetzten Zurückhaltens der Corona-Hilfen dazu übergehen könnten, im Rat und innerhalb der Kommission systematisch Widerstand zu leisten. Ebenso steht die Befürchtung im Raum, dass Polen seine Anstrengungen für den Grenzschutz einstellen und irreguläre Zuwanderer systematisch nach Deutschland weiterleiten könnte.
Beides wäre jedoch für die polnische Regierung mit sehr hohen Kosten und nur geringen Erfolgsaussichten verbunden. So hängt die innenpolitische Legitimität der polnischen und der ungarischen Regierung mehr denn je an dem Narrativ einer konsequenten Abwehr irregulärer Zuwanderer. Eine Instrumentalisierung der sekundären Migration als Druckmittel in der Rechtsstaatlichkeitskrise könnte Polen im europäischen Diskurs in die Nähe des belarussischen Regimes rücken.
Derweil bietet sich im weiteren Verlauf der EU-Legislaturperiode für Polen und Ungarn kein entscheidender Hebel, um einzelstaatliche Interessen mit aller Härte zu vertreten. Die Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen und zum Rechtsstaatlichkeitsmechanismus Ende 2020 haben gezeigt, dass Warschau und Budapest letztlich ihr Veto nicht aufrechterhalten konnten. Zudem verlieren Polen und Ungarn an potenziellen Unterstützern im Rat, wie etwa durch den Regierungswechsel in Tschechien (SWP-Aktuell 68/2021).
Es wäre zwar möglich, dass Polen die EU beim Verfolgen ihrer klimapolitischen Ziele bremst. Es ist aber nur im Fall einer hart rechtskonservativen Wende in Frankreich denkbar, dass die EU-Ebene ihr Vorgehen gegen den Abbau von Rechtsstaatlichkeit wegen einer grundsätzlichen Verschiebung der Machtverhältnisse stoppen muss.
Wahrscheinlicher ist, dass angesichts einer Blockadehaltung einzelner Mitgliedstaaten die immer schwerer gewordene Konsenssuche bei der Entscheidungsfindung im Rat aufgegeben wird. Dies könnte sich beispielsweise darin niederschlagen, dass in der EU-Asyl- und Migrationspolitik zu Mehrheitsentscheidungen übergegangen wird.
Alternativ bleibt die Option der flexiblen und differenzierten Integration. Sie eröffnet die Möglichkeit, jenseits von informellen »Koalitionen der Willigen« durch Initiativen zur verstärkten Zusammenarbeit (unter mindestens neun EU-Mitgliedern) die institutionelle und rechtliche Entwicklung der Union voranzutreiben. So sind Polen und Ungarn nicht Teil der Europäischen Staatsanwaltschaft, die aktuell das wichtigste Beispiel einer verstärkten Zusammenarbeit unter 22 EU-Mitgliedern darstellt. Weitere Felder, auf denen nur unter den teilnehmenden Mitgliedstaaten einstimmig entschieden werden müsste, könnten eine gemeinsame Besteuerungs- oder die europäische Außenpolitik sein. Falls wider Erwarten hier eine neue Integrationsdynamik entsteht, sollte sich die EU nicht durch eine Blockade Polens oder Ungarns aufhalten lassen.
Erosion des gegenseitigen Vertrauens
Das grenzüberschreitende Vertrauen zwischen europäischen Gerichten kann insbesondere in grundrechtssensiblen Bereichen nicht mehr vorausgesetzt werden. Bisher vertritt der EuGH die Linie, dass eine grenzüberschreitende Ausführung eines Europäischen Haftbefehls (oder eine damit verbundene Auslieferung) nur aufgrund einer zweistufigen Prüfung verweigert werden kann: Erstens müssen begründete Zweifel an der rechtsstaatlichen Arbeitsweise oder am Grundrechtsschutz im anfordernden Mitgliedstaat vorliegen. Zweitens müssen diese systemischen Defizite auf den vorliegenden Fall übertragen werden. Beispielsweise muss das Recht der beschuldigten Person auf ein faires Verfahren konkret und substantiell gefährdet sein.
Angesichts der Schwierigkeit, diesen Nachweis zu erbringen, wurden Europäische Haftbefehle aus Polen bislang weitgehend vollstreckt. In Norwegen – das aufgrund seiner Schengen-Mitgliedschaft auf separater Rechtsbasis beteiligt ist – hat ein Gericht hingegen jüngst entschieden, eine Auslieferung an Polen mit Blick auf allgemeine Defizite der Rechtsstaatlichkeit zu verweigern. Der EuGH wird in den kommenden Monaten zu weiteren vergleichbaren Vorabentscheidungsverfahren zum Europäischen Haftbefehl Stellung nehmen. Im Fall einer weiteren Eskalation mit Polen könnte der EuGH dem Beispiel Norwegens folgen.
Wenn das gegenseitige Vertrauen in der justiziellen Zusammenarbeit auf systematischer Basis wegfallen sollte, sind die Folgen für das EU-Recht nur schwer abzuschätzen. Zwar lebt die EU bereits seit vielen Jahren damit, dass Überstellungen von Asylsuchenden an die nach dem Dubliner Übereinkommen zuständigen Mitgliedstaaten nicht regelmäßig ausgeführt werden, da in einigen Fällen eine unmenschliche Behandlung der Personen nicht ausgeschlossen werden kann. Diese Suspendierung von EU-Recht ist aber inhaltlich klar umrissen. Eine solche Begrenzbarkeit ist bei strukturellen Defiziten der Rechtsstaatlichkeit nicht gegeben.
Der EGRM hat im Fall einer wirtschaftlichen Schadensersatzklage seine Grundsatzentscheidung gefällt, dass das Recht auf ein faires Verfahren und das Legalitätsprinzip durch das polnische Verfassungstribunal verletzt wurden. Die sich hier andeutende allgemeine Erosion des gegenseitigen Vertrauens könnte also über die EU-Innen- und Justizpolitik hinaus bis zum Binnenmarkt ausstrahlen.
Strategische Prioritäten und Durchhaltevermögen der EU
Die EU steht vor einer schweren, aber handhabbaren Belastungsprobe. Diejenigen Staaten, die eine europäische Einmischung in Fragen der nationalen Rechtsstaatlichkeit grundsätzlich ablehnen, können nicht mehr auf den Faktor Zeit setzen. Die neue Bundesregierung stellt im Koalitionsvertrag in Aussicht, dass die Rechtsstaatlichkeit ein zentraler Bestandteil der deutschen Europapolitik – wie auch einiger nationaler Reformen – sein soll. Die Krise mit Belarus und die französischen Präsidentschaftswahlen sollten keine weitere bedeutende Verzögerung oder Neubewertung der Lage zur Folge haben. Wenn sich bis Mitte des kommenden Jahres kein politischer Wandel in Polen und Ungarn abzeichnet, ist eine Abstimmung zur ersten Stufe des Artikel-7-Verfahrens überfällig – und sei es nur, damit deutlich wird, dass der Europäische Rat Verantwortung für die Einhaltung der europäischen Grundwerte übernimmt. Die roten Linien im Europarecht sind schon jetzt mehr als deutlich gezogen. Der EuGH kann allein kaum mehr Druck ausüben. Wenn Grundsatzfragen nur über den EuGH gespielt werden, nimmt die Legitimität der gesamten EU nachhaltig Schaden.
Auf Seiten der Kommission wird das aktuelle Spiel auf Zeit jedenfalls zu Ende gehen. Einschnitte bei den Zahlungen an Polen und Ungarn werden aller Voraussicht nach im Frühjahr verstetigt und schmerzhaft werden. Die Kritik des Europäischen Parlaments am vorsichtigen Vorgehen der Kommission wird sich damit weitestgehend erübrigen.
In der Gesamtschau ist der EU zu raten, den eingeschlagenen Kurs beizubehalten, auch gegen harte politische Widerstände. Dies bedeutet nicht, dass neue Dialogangebote und Kompromissvorschläge an Polen von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Es sollte jede Rhetorik und Argumentation zurückgewiesen werden, dass es unter dem Deckmantel der Rechtsstaatlichkeit um eine exemplarische Bestrafung abweichender politischer Meinungen gehe. Deutschland trägt nach wie vor eine besondere Verantwortung dafür, sowohl eine europäische Führungsrolle wahrzunehmen als auch die Positionen seiner Nachbarn mit erhöhter Sensibilität zu behandeln. Die neue Bundesregierung muss zunächst diplomatische Kontakte aufbauen und eingefahrene Handlungspfade überprüfen, etwa im Bereich der Energiepolitik. Grundsätzlich ist es ratsam, nicht jede identitäts- und gesellschaftspolitisch begründete Divergenz als Angriff auf die europäische Wertegemeinschaft darzustellen.
Die EU muss aber nicht nur ihre finanziellen Interessen, sondern auch ihre tieferliegenden vertraglichen Grundlagen schützen. Politisch geht es um die Erhaltung eines handlungsfähigen und glaubwürdigen Gemeinwesens. Ebenso muss der Respekt für die Europäische Menschenrechtskonvention unter allen EU-Mitgliedstaaten unbedingt erhalten und nachdrücklich eingefordert werden. Eine politische Eiszeit in den Beziehungen zu Polen – und womöglich zu Ungarn – sollte zur Verteidigung dieser Prioritäten in Kauf genommen werden.
Das bedeutet konkret, die Rechtsstaatlichkeit aktuellen sicherheits- und geopolitischen Interessen nicht unterzuordnen und im Rat, soweit nötig, zur Wahrung der europäischen Handlungsfähigkeit auf Mehrheitsentscheide zu setzen. Flexible Formate der Integration können flankierend hinzutreten. Bei einer weiteren Verschlechterung des Vertrauens in die horizontale justizielle Kooperation müssen Akteure aus Politik und Exekutive den Richtungsentscheidungen der Justiz folgen. Die EU als Ganzes kann aus dieser Position heraus auf innenpolitische Veränderungsprozesse und bessere Beziehungen zwischen einigen ihrer Mitgliedstaaten warten.
Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
doi: 10.18449/2021A76