Die Wahlen zur tschechischen Abgeordnetenkammer, die am 8. und 9. Oktober 2021 stattfanden, endeten mit einem Sieg der rechten Mitte. Das konservativ-liberale Bündnis Spolu erhielt zusammen mit der Allianz, die die Bürgermeisterpartei STAN und die Piratenpartei gebildet haben, eine Mehrheit in der unteren Kammer des tschechischen Parlaments. Der bisherige Premierminister Andrej Babiš scheint sich mit der Niederlage abgefunden zu haben. Trotz großer Ungewissheit über den Gesundheitszustand des Staatspräsidenten könnte die Regierungsbildung relativ glatt verlaufen. Babiš und seine Partei ANO bleiben aber weiter ein ernstzunehmender Faktor in der Innenpolitik. Die Tschechische Republik wird in der Europäischen Union in vielerlei Hinsicht weiterhin pragmatisch agieren. Die integrationsfreundlichen Kräfte im prospektiven Regierungslager werden durch die moderat europaskeptische Strömung in der größten Regierungspartei, der ODS, gebremst. In der Außenpolitik werden »Werte« und Menschenrechte stärker betont werden.
Bei den Wahlen zur tschechischen Abgeordnetenkammer obsiegten die Gruppierungen der rechten Mitte. Am meisten Stimmen (27,8%) erhielt das Bündnis Spolu, dem die liberalkonservative und moderat europaskeptische Demokratische Bürgerpartei (ODS), die christdemokratische KDU-ČSL und die europafreundliche liberalkonservative TOP 09 angehören. Spolu landete damit knapp vor der Bewegung ANO des bisherigen Regierungschefs Andrej Babiš (27,1%), die aber aufgrund des Wahlsystems im Parlament einen Sitz mehr haben wird. Zusammen mit der progressiv-zentristischen Wahlallianz aus Piratenpartei und der Bürgermeisterpartei STAN wird Spolu in der Abgeordnetenkammer über eine Mehrheit von 108 der 200 Mandate verfügen. Im Parlament wird auch die nationalistische Partei »Freiheit und direkte Demokratie« (SPD) vertreten sein. Sowohl die tschechischen Sozialdemokraten als auch die kommunistische Partei verfehlten den Einzug ins Parlament.
Erfolg des Anti-Babiš-Lagers
Im Mittelpunkt der Wahlen stand die Person des umstrittenen Regierungschefs. In vielerlei Hinsicht trug die Abstimmung Zeichen eines Plebiszits für oder gegen Andrej Babiš. Die beiden Pole dieser Auseinandersetzung waren Babiš und die ANO auf der einen und die zwei Wahlbündnisse Spolu und PirStan auf der anderen Seite. Während noch im Frühjahr PirStan und vor allem die Piratenpartei mit ihrem Frontmann Ivan Bartoš als wichtigste Herausforderer des Premierministers galten, verschoben sich die Gewichte im Anti-Babiš-Lager bis zum Herbst spürbar. Zum einen richtete sich die Kampagne von ANO insbesondere gegen die Piratenpartei, die von Babiš als neomarxistisch und übermäßig offen für die Aufnahme von Flüchtlingen dargestellt wurde. Die Piraten bemühten sich daraufhin, gemäßigter zu erscheinen, womit sie näher an die Parteien der rechten Mitte heranrückten. Dadurch dürfte Teilen ihrer Wählerschaft der Wechsel zum Spolu-Bündnis leichter gefallen sein. Spolu profitierte also von der Zuspitzung des Wahlkampfs auf die Konfrontation Babiš vs. Bartoš und konnte sich stärker in den Vordergrund schieben. Mit seinem ruhigen, staatsmännisch wirkenden und sachlich auftretenden Spitzenkandidaten, dem Parteichef der ODS, Petr Fiala, wurde Spolu so zum eigentlichen Herausforderer der ANO.
Die Parteien des Dreierbündnisses konnten sich überdies auf die bewährten Milieus der tschechischen rechten Mitte stützen: die großstädtischen Mittelschichten, vor allem in der Hauptstadt Prag, auf Unternehmer und Gewerbetreibende (also die Kernwählerschaft von ODS und TOP 09) sowie auf die katholisch-konservativen Regionen in Südmähren, die seit jeher Hochburgen der Christdemokratie sind.
Das PirStan-Bündnis schnitt ebenfalls in Prag überdurchschnittlich stark ab. Die guten Ergebnisse in Städten mit einem hohen Anteil an Studierenden deuten auf die Popularität der Allianz bei jüngeren Altersgruppen hin. Der Plan einer »Arbeitsteilung« zwischen der in Prag und einigen Großstädten verankerten Piratenpartei und der in der Fläche präsenten Bürgermeisterpartei STAN ist für das Bündnis insgesamt aufgegangen. Aufgrund ihrer Sichtbarkeit und Bekanntheit auf kommunaler Ebene erhielten die Kandidaten der STAN zahlreiche Präferenzstimmen, was dazu führte, dass die eigentlich favorisierte Piratenpartei nur vier Sitze erhielt, wohingegen die STAN 33 Mandate gewinnen konnte – und dadurch nun fast gleichauf mit der ODS liegt, die über 34 Mandate verfügt.
Die Partei von Premierminister Babiš blieb mit einem Stimmenanteil von 27 Prozent recht stabil. Sie büßte gegenüber den letzten Wahlen nur etwa 2,5 Prozentpunkte ein. Die ANO erzielte ihre besten Ergebnisse in Nordböhmen, Nordmähren und Schlesien, mithin in peripheren Regionen, die mit ökonomischen und sozialen Strukturproblemen zu kämpfen haben. ANO wie auch die nationalistische SPD blieben in Prag weit hinter ihren Ergebnissen in Dörfern und kleineren und mittleren Städten zurück. Je höher in den Wahlkreisen die Arbeitslosigkeit ist, desto mehr Zuspruch erzielten diese Gruppierungen hingegen.
Der ANO gelang es nicht, mit der Mobilisierungsfähigkeit der beiden Parteienbündnisse, die Wandel und einen Neuanfang versprachen, mitzuhalten. Zwar konnte sich die Babiš-Partei ab dem Frühjahr in den Umfragen etwas erholen, doch im Spätsommer kam ihre Aufholjagd ins Stocken. Wenngleich die Regierung Fehler beim Krisenmanagement in der Corona-Pandemie überspielen konnte, bestimmten zuletzt Themen den Wahlkampf, mit denen die Babiš-Gegner geschickt punkteten, zum Beispiel die steigenden Preise (von der Opposition als »Babiš-Teuerung« etikettiert). Die wenige Tage vor den Wahlen veröffentlichten Pandora-Papers dürften Babiš direkt wenig geschadet haben, da dessen treue Anhängerschaft weitgehend der Interpretation des Regierungschefs folgte, es handele sich bei dem Leak um eine politische Kampagne, der inkriminierte Erwerb von Auslandsimmobilien sei nicht illegal gewesen und alles habe vor seinem Einstieg in die Politik stattgefunden.
Die Pandora-Papers allerdings könnten indirekt dazu beigetragen haben, dass die konservative und liberale Opposition ihre Sympathisanten leichter an die Wahlurnen bringen konnte. Die Wahlbeteiligung stieg im ganzen Land (um fast fünf Prozentpunkte auf über 65%), war aber in Prag, wo Spolu und PirStan auf zusammen fast 63 Prozent der Stimmen kamen, mit 70 Prozent deutlich höher als in den Regionen Ústí nad Labem oder Karlovy Vary (ca. 58% bzw. 60%), beides Bastionen der ANO. Der Anstieg der Wahlbeteiligung verdankt sich indes vor allem einer höheren Mobilisierung in kleineren Städten, wo in erster Linie Unternehmer und Gewerbetreibende, Lehrer und andere Beschäftigte des öffentlichen Sektors das Vertrauen in Babiš verloren haben dürften. Den beiden Bündnissen gereichte es dabei zum Vorteil, dass sie auf regionaler und lokaler Ebene bekannte Personen mit hoher Glaubwürdigkeit aufstellten.
In Teilen wurde die ANO auch Opfer ihrer eigenen Polarisierungskampagne. Indem sie sich als entschlossene Verfechterin nationaler Interessen in der EU darstellte und gleichzeitig auf soziale Themen setzte, absorbierte sie (potentielle) Wähler der Linken und europaskeptischer Kleinparteien, die den Einzug in die Abgeordnetenkammer letztlich nicht schafften. Der ANO kamen durch diese Strategie mögliche Koalitionspartner abhanden.
In der Abgeordnetenkammer wird keine Partei mit nominell linker Identität präsent sein, da die sozialdemokratische ČSSD und die kommunistische KSČM den Sprung über die Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht geschafft haben. Die KSČM hat es nicht vermocht, sich aus ihrem engen und überalterten Wählermilieu zu befreien, und schmolz auf 3,6 Prozent ab. Dass die Kommunisten die Minderheitsregierung Babiš (bis ins Frühjahr des laufenden Jahres) toleriert haben, könnte sie Teilen ihrer Anhängerschaft entfremdet haben. Die ČSSD wiederum war nicht in der Lage, schlüssig zu kommunizieren, in welcher Form sich ihre Regierungsbeteiligung positiv niedergeschlagen hat. Sozialpolitische Maßnahmen der Regierung (Rentenerhöhung, Anhebung des Mindestlohns, Lohnfortzahlung bei Krankheit in den ersten drei Tagen usw.) reklamierte Andrej Babiš für sich und seine Partei.
Die Rolle des Präsidenten
Trotz der Mehrheit für die rechte Mitte gab es nach den Wahlen Ungewissheit, ob sich eine neue Regierung würde formieren können. Hauptgrund dafür war der Gesundheitszustand des Staatspräsidenten Miloš Zeman, dem eine besondere Rolle zukommt. Denn es obliegt dem Staatsoberhaupt, eine Person mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Diese hat dann zwei Versuche, das Vertrauen der Abgeordnetenkammer zu gewinnen (gelingt dies nicht, geht das Recht zur Ernennung eines Kandidaten für die Formierung einer neuen Exekutive auf den Präsidenten der Abgeordnetenkammer über). Zeman wurde am 10. Oktober ins Krankenhaus eingeliefert. Obschon er sich dort unter anderem mit Andrej Babiš traf und eine von Zeman quasi vom Krankenbett aus unterschriebene Verfügung zur Einberufung der konstituierenden Sitzung des Parlaments präsentiert wurde, deren eigenhändige Unterzeichnung später auch per Video bewiesen wurde, mehrten sich die Zweifel, ob der Präsident gesundheitlich in der Lage ist, sein Amt auszuüben. In Anbetracht dessen wollen die Parteien der rechten Mitte den Präsidenten zumindest vorübergehend für amtsunfähig erklären. Hierfür müssten nach Artikel 66 der tschechischen Verfassung beide Parlamentskammern einen entsprechenden Beschluss mit einfacher Mehrheit fassen. Die Kompetenzen des Staatsoberhaupts würden dann auf den Ministerpräsidenten und den Präsidenten des Abgeordnetenhauses verteilt. Letzterem obläge es, einen Kandidaten mit der Regierungsbildung zu beauftragen.
Miloš Zeman hatte angekündigt, dieses Mandat dem Vorsitzenden der stärksten Einzelpartei und nicht dem der stimmenstärksten Wahlallianz zu erteilen. Damit bekäme Andrej Babiš den Auftrag. Dieser erklärte, der Staatspräsident habe ihm signalisiert, dass er ihn mit der Regierungsbildung betrauen wolle. Da es keine Fristen dafür gibt, wie lange ein von der Abgeordnetenkammer abgelehnter Kandidat ohne Vertrauen die Amtsgeschäfte führen darf, könnte Babiš auch ohne Mehrheit für lange Zeit im Amt bleiben. Babiš ließ allerdings verlauten, er werde in der jetzigen Situation keine Regierung bilden wollen. Sollte Zeman indes bald wieder voll handlungsfähig werden, wäre nicht völlig auszuschließen, dass er Babiš doch überredet oder er eine dritte Person mit der Regierungsbildung betraut. Sollte andererseits das Amt des Staatspräsidenten aus irgendeinem Grund (Rücktritt, Ableben) vakant werden, würde es spätestens 90 Tage nach einem vorzeitigen Ende der Amtszeit zu vorgezogenen Präsidentschaftswahlen kommen.
Aufgrund dieser Unklarheiten haben das Spolu-Bündnis und PirStan rasch Geschlossenheit demonstriert. Noch am Wahlabend traten die fünf Parteivorsitzenden gemeinsam mit einem Memorandum an die Öffentlichkeit, in dem sie ihren Willen zur Regierungsbildung kundtaten. Die fünf Parteien traten unmittelbar nach den Wahlen in Sondierungsgespräche ein und verkündeten, bis zur konstituierenden Sitzung der Abgeordnetenkammer am 8. November einen Koalitionsvertrag ausgehandelt zu haben. Die rechte Mitte betreibt somit eine Politik der vollendeten Tatsachen, um alternative Regierungskonstellationen unter der Führung von Andrej Babiš von vornherein auszuschließen.
Prioritäten der rechten Mitte
Sollte eine Koalition der rechten Mitte aus den beiden Bündnissen Spolu und PirStan zustande kommen, so wird die neue Regierung ihren Schwerpunkt auf die Haushalts- und Wirtschaftspolitik legen. Die Spolu-Parteien, aber im Grundsatz auch die STAN möchten das im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie angewachsene Haushaltsdefizit eindämmen und die zunehmende Staatsverschuldung zurückführen. Der Kandidat von Spolu und PirStan für das Amt des Ministerpräsidenten kündigte an, den negativen Budgetsaldo bis zum Ende der Legislaturperiode auf 3 Prozent im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt zu senken (dieser lag 2020 bei 6,2%). Die Haushaltskonsolidierung soll ohne Steuererhöhungen erreicht werden, unter anderem durch Subventionskürzungen. Dieser fiskalkonservative Kurs könnte möglicherweise mit der Rücknahme sozialpolitischer Maßnahmen der Regierung Babiš einhergehen. Vor allem, wenn sich das Wirtschaftswachstum abschwächt (etwa aufgrund von Produktionsausfällen in der Automobilindustrie infolge von Problemen mit der Zulieferung von Halbleitern), wird der Druck zu Kürzungen zunehmen. Die Zinserhöhungen durch die tschechische Notenbank könnten in dieser Hinsicht zusätzlich dämpfend wirken.
Wie die Regierung andere drängende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Baustellen angehen wird, etwa den Arbeitskräftemangel, den Umbau der für das Land wichtigen Automobilindustrie oder die Transformation, die der Klimawandel und die Digitalisierung erfordern, muss sich erst zeigen. Das Thema Zuwanderung im Kontext fehlender Fachkräfte wird etwa im Programm von Spolu nur am Rande erwähnt; man will sich für Verfahrenserleichterungen bei der Beschäftigung von Arbeitskräften aus Drittländern einsetzen. Eine veritable Strategie für Arbeitskräftezuwanderung lässt sich daraus nicht ablesen.
Impulse könnte die neue Regierung im Bereich der Infrastrukturpolitik setzen. Dem von PirStan anvisierten großumfänglichen Investitions- und Innovationsprogramm »Eine Billion (Kronen) für die Zukunft« steht Spolu zwar zurückhaltend gegenüber, doch auch Spolu betont die Notwendigkeit, das Schienen- und Straßennetz und die digitale Infrastruktur zu erneuern.
Kohäsion und Herausforderungen einer Regierung der rechten Mitte
Eine Regierung aus fünf Einzelparteien wird kontinuierlich ihren inneren Zusammenhalt sichern müssen. Gleichzeitig wird sie einem wenig kooperativen politischen Umfeld ausgesetzt sein.
Der ODS-Chef und mögliche künftige Premierminister Petr Fiala hat sich in den vergangenen Jahren als Pragmatiker und Verfechter eines sachlichen Politikstils erwiesen und die ODS zu einer Partei des gemäßigt europaskeptischen, marktorientierten Liberalkonservatismus gemacht. Er hat die Annäherung an die tschechischen EVP-Parteien, die KDU-ČSL und die TOP 09, betrieben, die schließlich in eine Kooperation in Form der Wahlallianz Spolu mündete. Der ODS-Vorsitzende hat sich konsequent gegen eine Koalition seiner Partei mit der ANO (sei es mit oder ohne Andrej Babiš) ausgesprochen. Während Teile des rechten Flügels der ODS diese Option nicht ausschließen wollten, ist Fiala stets für die Zusammenarbeit mit PirStan eingetreten. Nach den Wahlen hielt er daran fest, dass auch die Piratenpartei an Koalitionsverhandlungen beteiligt werden müsse – obwohl sie numerisch für ein Bündnis der Parteien der rechten Mitte nicht erforderlich wäre. Fiala würde im Rahmen einer Koalition von Spolu und PirStan die Aufgabe zukommen, die Brücke zwischen den beiden programmatischen Polen, nämlich den konservativen Segmenten der ODS einerseits und den »progressiven« Piraten andererseits, zu schlagen, was durchaus möglich ist, da die geschwächten Piraten über kein Erpressungspotential verfügen: Auch ohne die vier Mandate der Piraten hätten die anderen Gruppierungen der rechten Mitte eine Stimmenmehrheit.
Blickt man auf mögliche thematische Unterschiede zwischen den prospektiven Regierungsparteien, so erscheinen diese überschaubar. Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik müssen keine Bruchstelle darstellen, da im Regierungslager ein weitgehender Konsens für eine strikte Haushaltsführung und einen markt- und unternehmensfreundlichen Ansatz besteht. Die christdemokratische KDU-ČSL reklamiert für sich die Rolle des »sozialen Gewissens« von Spolu und wird sich in einem Regierungsbündnis daher wohl auch um soziale und familienpolitische Angelegenheiten wie Mindestrente oder Unterstützung für Eltern kümmern wollen. Hier geht es aber nicht um einen Grundsatzkonflikt.
Auch europapolitische Themen mit innenpolitischer Relevanz, etwa die Migrations- oder die Klimapolitik und das Verhältnis zum Euro, werden keine Stolpersteine sein. In diesen Fragen steht die EU-kritische Strömung in der ODS zweifelsohne der ANO näher als den übrigen Parteien von Spolu oder PirStan. Doch die Einführung des Euro wird nicht auf der Tagesordnung stehen (obschon PirStan oder TOP 09 dafür offen sind). Man wird diesen Punkt ausklammern, wie dies bereits im Programm des Spolu-Bündnisses geschehen ist. Auch bei der Migrationspolitik besteht weitgehend Einvernehmen in Form einer Ablehnung von verbindlichen EU-weiten Verteilquoten für Flüchtlinge. Die randständige Piratenpartei, die hier am ehesten eine gewisse Flexibilität zeigen könnte, wird in dieser Frage keinen prägenden Einfluss ausüben können.
In der Klimapolitik sind im konservativen Bereich des wahrscheinlichen neuen Regierungslagers Stimmen zu hören, die einen »realistischen« Ansatz fordern, bei dem wirtschaftliche Interessen berücksichtigt werden. Diese Kräfte treten weniger kämpferisch auf als Andrej Babiš, der gerne von Öko-Fanatikern in der EU spricht, sind aber in der Sache ähnlich entschlossen. Schwung in die tschechische Dekarbonisierungspolitik könnten aber Marktsignale bringen: Wenn die CO2-Preise weiter deutlich steigen, könnte die Regierung sich für einen früheren Kohleausstieg (schon 2033 statt 2038) aussprechen.
Derlei Differenzen zwischen den Parteien der beiden siegreichen Bündnisse werden die Kohäsion einer möglichen rechtszentristischen Regierung zunächst nicht gefährden. Sollte sich indes gesellschaftlicher Unmut über Kürzungen im Bereich des Wohlfahrtsstaats einstellen, sollten Inflation und insbesondere Energiepreise weiter in die Höhe schießen und sich die tschechische Wirtschaft langsamer als geplant erholen, wird die Regierung in schwieriges Fahrwasser geraten.
ANO in der Opposition
Mit der ANO und der SPD werden zwei Gruppierungen im Parlament vertreten sein, die eine rechtszentristische Regierung hart angehen werden. Sollte es zu einer Koalition aus Spolu und PirStan kommen, wird diese nicht mit einer konstruktiven Opposition rechnen können. Falls sich der Gesundheitszustand des Präsidenten stabilisiert und dieser wieder sein Amt ausüben kann, werden auch vom Staatsoberhaupt politische Querschüsse zu erwarten sein. ANO und SPD werden überdies versuchen, durch eine harte Gangart Wähler der nationalistischen oder konservativen Kleinparteien, aber auch der Sozialdemokratie und der Kommunistischen Partei hinter sich zu vereinen, die nicht über die Fünf-Prozent-Hürde gekommen sind. Andrej Babiš hat bereits explizit angekündigt, die Interessen all der Menschen vertreten zu wollen, deren Parteien nicht im neuen Abgeordnetenhaus repräsentiert sind. Babiš könnte in seinem politischen Wirken allerdings durch Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen Korruption (seine Immunität als neugewählter Abgeordneter muss dafür abermals aufgehoben werden) gehemmt werden.
Ungeachtet dessen kann Babiš auch aus der Opposition heraus seine Präsidentschaftskandidatur vorbereiten. Schon vor den Parlamentswahlen wurden ihm Ambitionen auf das Amt des Staatsoberhaupts nachgesagt. Zemans zweite Amtsperiode endet regulär im Frühjahr 2023. Die Präsidentschaftswahlen würden Anfang 2023 abgehalten werden. Unabhängig vom Zeitpunkt der Wahlen muss mit Babiš gerechnet werden. Denn er würde gleichsam als Kandidat antreten, der das politische Erbe Zemans repräsentiert. Zwar folgen Wahlen zur Legislative einer anderen Logik als Präsidentschaftswahlen, doch hält man den Stimmenanteil der rechten Mitte dem aller anderen Parteien entgegen, so hätte Babiš zumindest eine gute Ausgangsbasis, um Staatsoberhaupt zu werden.
Außen- und europapolitische Folgen
Sollte es zur Bildung einer Koalition der rechten Mitte kommen, wird dies keinen europapolitischen Aufbruch, sondern in vielerlei Hinsicht die Fortsetzung eines pragmatischen Kurses bedeuten, wie ihn die tschechische Führung ungeachtet der stellenweise EU-kritischen Töne Andrej Babiš’ in den vergangen Jahren stabil verfolgt hat. Die grundlegende europapolitische Trennlinie verliefe nicht zwischen Regierung und Opposition, sondern zwischen den integrationsfreundlichen Parteien der künftigen Regierungsseite (TOP 09, KDU-ČSL, STAN, Piratenpartei) einerseits und der »eurorealistischen« ODS sowie Teilen der ANO andererseits. Die nationalistische SPD mit ihrer Anti-EU-Haltung und ihrem Ruf nach einem Austrittsreferendum steht hierbei abseits. Sie ist aber ein Resonanzkörper für die in der Gesellschaft präsente explizite EU-Aversion.
Auch wenn die ODS gerade unter der Führung Petr Fialas viele ihrer europaskeptischen Kanten abgeschliffen hat und der harte EU-kritische Flügel geschrumpft ist, so ist der Kern der Partei weiterhin kritisch gegenüber der Idee einer sich stetig fortentwickelnden europäischen Integration. In ihren 2017 verfassten europapolitischen Leitlinien (zu deren Autoren auch Fiala gehörte) fordert die Partei unter anderem die Aufgabe des Prinzips der »immer engeren Union«, die Möglichkeit der Rückführung von Kompetenzen zu den Mitgliedstaaten auf Initiative der nationalen Parlamente (sogenannte »Rückfahrkarten«), die Umwandlung der Eurozone in einen freiwilligen »Überbau der Integration« und generell eine Erweiterung der Bereiche der flexiblen Integration mit der Gewährung von generösen Opt-Out-Rechten. Auch wenn derlei Ziele nicht die Regierungspraxis der ODS und vermutlich noch weniger die einer Koalitionsregierung unter ihrer Beteiligung prägen werden, so verraten sie doch, in welche Richtung die Partei die EU bewegen würde, wenn sie dies könnte.
Nicht nur wegen der Haltung der ODS, sondern auch, weil bei wichtigen europäischen Politikfeldern Einvernehmen in weiten Teilen der rechten Mitte herrscht, wird daher etwa in der Migrations- oder der Klimapolitik keine Neuorientierung zu erwarten sein. Die Tschechische Republik wird weiterhin gegen die obligatorische Verteilung von Flüchtlingen votieren. In Energie- und Klimafragen könnte die Rhetorik Prags weniger scharf ausfallen als bislang, in der Sache wird man aber für einen Kurs eintreten, der stärker an wirtschaftlichen und industriepolitischen Belangen ausgerichtet ist. Darüber hinaus wird das Land auf Atomkraft (Bau eines neuen Blocks im Kraftwerk Dukovany) setzen und die sich abzeichnende Allianz mit Frankreich und andern ostmittel- und südosteuropäischen Mitgliedstaaten vertiefen, die ebenfalls auf eine Anerkennung der Kernenergie als klimafreundliche Energiequelle hinarbeiten. Parallel dazu wird die neue Koalition aber den Ausbau Erneuerbarer Energien stärker als bislang betreiben. Aus den Reihen der Bürgermeisterpartei und der »progressiven« Piraten wird vor allem versucht werden, die Dezentralisierung der Energieversorgung zu forcieren. Gerade die für ökologische Themen offene Piratenpartei (ihre Abgeordneten gehören im Europäischen Parlament zur Fraktion Die Grünen/ Europäische Freie Allianz) wird aber nicht in der Lage sein, eine ambitioniertere Klimapolitik durchzusetzen. Spolu wird beim Green Deal der EU vor allem auf die Wahrung wirtschaftlicher und industrieller Interessen bedacht sein.
Einen Schwerpunkt der neuen Regierung wird die Vorbereitung der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2021 bilden. Auch vor diesem Hintergrund ist die Ankündigung Fialas zu sehen, intern die europapolitische Koordination zu verbessern und eine mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattete Regierungsposition zu schaffen (z.B. die eines Europaministers oder eines stellvertretenden Premierministers für Europaangelegenheiten). Eine rasche Regierungsbildung noch vor Jahresende würde die Vorbereitung auf den Vorsitz erleichtern.
Auch eine Mitte-Rechts-Regierung wird weiterhin an der Zusammenarbeit in der Visegrád-Gruppe festhalten. Obschon sich die integrationsfreundlichen Parteien des Quintetts von Polen und Ungarn abgrenzen wollen, wird die ODS sich nicht auf eine Abkehr von Visegrád einlassen. Allerdings müssen die Beziehungen zu Warschau und Budapest neu justiert werden. Der Streit um den Braunkohlebergbau im polnischen Turów, gegen den Tschechien erfolgreich geklagt hat und für dessen Weiterbetrieb die polnische Regierung mit Zwangsgeldern belegt werden kann, wird sich hinziehen und muss in voraussichtlich mühseligen Gesprächen beigelegt werden, bevor sich die bilateralen Beziehungen wieder normalisieren. Auch wird die enge Sonderbeziehung der Regierungschefs, wie sie zwischen Andrej Babiš und Viktor Orbán bestand, nicht mehr existieren. Babiš ist während des Wahlkampfs nach Ungarn gereist, Orbán wiederum hat den tschechischen Premier unterstützt, als er diesen in dessen Wahlbezirk Ústí nad Labem besuchte. Teile der ODS stehen nicht nur dem Kurs der ungarischen Regierung in der Flüchtlingspolitik nahe, sondern sympathisieren generell mit Orbáns Vorstellung einer EU unbeschränkt souveräner Nationalstaaten. Auch Petr Fiala hat sich zum Beispiel dagegen ausgesprochen, Ungarn wegen eines umstrittenen Gesetzes zu LGBT-Fragen zu belehren. Allerdings kostete Orbán die Schützenhilfe für Babiš in der ODS viele Sympathien. Noch nicht geklärt ist, wo sich die ODS künftig in das europäische Parteiengefüge einreihen wird. Bislang ist die voraussichtlich stärkste Regierungspartei Mitglied bei den Europäischen Konservativen und Reformern (EKR), also dort, wo sich zum Beispiel die polnische PiS befindet. Nach seinem Ausstieg aus der Europäischen Volkspartei (EVP) hat der ungarische Fidesz versucht, mit der PiS und nationalkonservativen Parteien aus Süd- und Westeuropa eine neue Gruppierung zu etablieren. Die ODS beteiligte sich aber weder an einem Gipfeltreffen von Fidesz, PiS und der italienischen Lega Anfang April dieses Jahres in Budapest noch unterzeichnete sie eine Erklärung, die 16 nationalkonservative Parteien Anfang Juli veröffentlichten.
In sicherheits- und außenpolitischen Fragen wird sich die voraussichtliche neue Regierung klar auf transatlantische Zusammenarbeit und eine konsequente Linie gegenüber Russland ausrichten. Das Verhandlungsteam für Außen- und Verteidigungspolitik kündigte an, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato bis 2025 erreichen zu wollen. Auch will man an die Tradition der »Havelschen Außenpolitik« anknüpfen, also eine deutlich wertegebundene Außenpolitik mit Betonung von Menschenrechten und Zivilgesellschaftlichkeit verfolgen. Dieser Kurs dürfte sich außer gegenüber Russland insbesondere im Auftreten gegenüber China niederschlagen. Nicht von ungefähr werden von der Koalition (wie auch schon im Programm von Spolu) neben Israel die ostasiatischen Länder Japan, Südkorea und Taiwan als »Perspektivpartner« (also als Staaten, die jenseits der Partner in der Nato und der EU besonders wichtig sind) der Tschechischen Republik bezeichnet.
Deutsch-Tschechische Beziehungen: Zukunftsplattform
Für Deutschland eröffnen sich mit dem Wahlausgang neue Chancen der Zusammenarbeit. Zwar wird die tschechische Außen- und Europapolitik weiterhin pragmatisch bleiben und der integrationsfreundliche Impetus der Regierung in spe dürfte durch die prominente Präsenz der ODS in der künftigen Koalition gedämpft werden. Doch die Parteien des Mehrheitsbündnisses haben signalisiert, dass Deutschland ein zentraler Partner bleiben wird und sie die Beziehungen mit dem Nachbarn im Westen vertiefen wollen. Berlin kann seine Verbindungen mit Prag – gerade vor dem Hintergrund einiger bilateraler Unstimmigkeiten in der Visegrád-Gruppe – daher weiterhin als einen Faktor zur Differenzierung der deutschen Mitteleuropapolitik nutzen. Teile des künftigen Regierungslagers (KDU-ČSL, TOP 09, STAN, Piraten) fordern ein zumindest symbolisches Abrücken von Polen und Ungarn und (zusammen mit der Slowakei) eine »proeuropäische« Ausrichtung.
Mit Blick auf die anstehende tschechische EU-Ratspräsidentschaft wird Prag offen sein für baldige Konsultationen mit Deutschland. Berlin sollte hier frühzeitig den Austausch gerade auch bei heiklen Dossiers wie Klimapolitik oder Migration anbieten, da sich die Tschechische Republik in diesen Fragen an Frankreich annähert und eng bei den Visegrád-Staaten steht.
Berlin könnte der neuen Regierung in Prag umgehend signalisieren, welch große Bedeutung es den bilateralen Beziehungen und deren Vertiefung beimisst.
Zum einen könnte die Sichtbarkeit und Relevanz des Strategischen Dialogs durch die Einrichtung von High Level Groups für Außen- und Europapolitik sowie für Klimapolitik auf Staatssekretärsebene gesteigert werden. Damit würde man faktisch eine Aufwertung einschlägiger Arbeitsgruppen aus dem Strategischen Dialog vornehmen. Diese würden, wenn noch Fachleute aus Wirtschaft und Wissenschaft mit ins Boot geholt werden, in halbjährlichen Treffen die Relevanz der genannten Themen für beide Länder markieren und Kooperationsvorhaben initiieren.
Zum anderen könnte das Deutsch-Tschechische Gesprächsforum nach einer Revision seines Aide-mémoire und unter Einbeziehung relevanter Stakeholder zu einer »Zukunftsplattform« weiterentwickelt werden, in der sozialökonomische, digitalisierungs- und klimapolitisch induzierte Umwälzungen und gemeinsame außenpolitische Herausforderungen debattiert werden, um die daraus folgenden Überlegungen dann in den Strategischen Dialog hineinzutragen. Eine solche »Zukunftsplattform« könnte sich jedes Jahr ein Oberthema wählen und dazu jeweils ein Impulspapier erstellen.
Sollte die neue tschechische Regierung zumindest in der Rhetorik konsequenter einen normativen außenpolitischen Ansatz verfolgen, ist mit heftiger Kritik nicht zuletzt aus China zu rechnen. Sofern die Bundesregierung Bündnispartner für eine stärker wertegebundene Außenpolitik sucht, wird sie die künftig in Prag finden. Gleichzeitig muss damit gerechnet werden, dass Prag von Berlin weiterhin und in stärkerem Maße diplomatische Solidarität bei Retorsionen von Seiten Russlands oder Chinas erwartet.
Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2021A68