Im Oktober 2020 hat Russland eine Roadmap für die Wasserstoffentwicklung verabschiedet, ein umfassendes Konzept wird in Kürze erwartet. Auch wenn Russland dem vielgepriesenen Wasserstoff (H2) nach wie vor skeptisch gegenübersteht, will es seinen Erdgasreichtum nutzen, um ein führender Exporteur auch von H2 zu werden. Dabei sieht es Deutschland als wichtigen potentiellen Partner. Da Russland bisher keine ambitionierte Dekarbonisierungsagenda hat, ist die große Herausforderung, die Wasserstoffproduktion in erster Linie für den Export und ohne nennenswerte Binnennachfrage zu stimulieren. Obwohl sich Russlands politische Beziehungen zum Westen stetig verschlechtern, bleibt die Kooperation bei erneuerbaren Energien und bei H2 einer der wenigen vielversprechenden Bereiche. Diese Zusammenarbeit könnte signifikant zur Entwicklung der H2-Wertschöpfungsketten in beiden Ländern beitragen.
Angesichts des rasant wachsenden globalen Interesses an H2 wird der Export in Russland heiß diskutiert. Das von der Regierung finanzierte EnergyNet Infrastructure Centre, das die technologische Führungsrolle russischer Unternehmen auf dem Energiemarkt fördern soll, veröffentlichte Ende 2018 einen Bericht. Darin wird Russland aufgefordert, schnell zu handeln, um seinen Anteil am zukünftigen globalen Wasserstoffmarkt zu sichern. In mehreren Pilotprojekten sollen die vorhandenen freien Kapazitäten des russischen Stromerzeugungssystem genutzt werden, um aus Kern- oder Wasserenergie zu wettbewerbsfähigen Kosten sauberen Wasserstoff für den Export zu produzieren. Im Jahr 2019 verfasste das Skolkovo Energy Centre eine detaillierte Studie, in der es die neuesten internationalen Entwicklungen und Russlands Potential in diesem Sektor erläuterte. Seitdem ist Wasserstoff zum Thema hochrangiger Konferenzen und Foren, runder Tische in der Duma und unzähliger Medienartikel geworden. Laut Deutschlands Nationaler Wasserstoffstrategie vom Juni 2020 wird es große Mengen importieren müssen. Das verlieh Russlands Ambitionen noch mehr Auftrieb, Wasserstoffexporteur zu werden und damit seine Position als Energielieferant auch in Zeiten der Energietransformation zu erhalten.
Wasserstoffpolitik in Russland
Im Jahr 2020 verabschiedete Russland zwei politische Dokumente, in denen es seine Wasserstoff-Pläne umreißt. Das erste ist die Energiestrategie vom Juni 2020 für den Zeitraum bis 2035. Darin erklärt die russische Führung, dass Kohlenwasserstoffe wichtig bleiben, setzt sich aber auch zum Ziel, Russland zu einem der weltweit führenden Produzenten und Exporteure von Wasserstoff zu machen. Die Exportziele liegen bei 200 000 Tonnen bis 2024 und 2 Millionen Tonnen bis 2035. Zwar heißt es in der Strategie auch, die Inlandsnachfrage nach Wasserstoff müsse stimuliert werden, etwa im Transportsektor und für die Energiespeicherung. Trotzdem ist eine klare Exportorientierung unverkennbar.
Das zweite Dokument, die Roadmap für die Wasserstoffentwicklung bis 2024, wurde im Oktober 2020 verabschiedet. Die Konzerne Gazprom und Rosatom sollen die Hauptrolle dabei spielen, die Ziele der Energiestrategie zu erfüllen. Laut Roadmap verfügt Russland über Wettbewerbsvorteile bei Wasserstoff in den Bereichen technologisches Know-how, Forschung und Entwicklung (F&E) sowie bei der vorhandenen Ressourcenbasis, Überkapazitäten im Energieerzeugungssystem, einer ausgebauten Transportinfrastruktur und der geographischen Nähe zu Großverbrauchern. Zudem werden in der Roadmap erste Schritte für die Wasserstoffentwicklung skizziert.
Ein detailliertes H2-Konzept ist in Arbeit, aber Berichten zufolge wird darin eine strategische Zusammenarbeit mit Deutschland, Frankreich, Japan und Südkorea angepeilt. Laut Konzeptentwurf wird Russland bis 2050 schätzungsweise 7,9 bis 33,4 Millionen Tonnen Wasserstoff jährlich exportieren und damit bis zu 100 Milliarden Dollar einnehmen. Russische Experten diskutieren lebhaft über den Kurs der Wasserstoffpolitik und die richtige Balance zwischen Exporten, Inlandsnachfrage und Entwicklung der Wasserstofftechnologie. Viele mahnen, der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft im eigenen Land sei unerlässlich, um ein führender Exporteur zu werden.
Allerdings ist die Wasserstoffentwicklung in Russland (noch) nicht Teil einer wirklichen Dekarbonisierungspolitik. Russland hat keine CO2-Regulierung eingeführt. Seine Verpflichtungen gemäß dem Pariser Abkommen sind halbherzig und laufen darauf hinaus, dass die Emissionen bis 2030 um 30% gegenüber 1990 reduziert werden. Da sie nach Auflösung der UdSSR 1991 stark gesunken sind, wurde dieses Ziel bereits erreicht. 2018 betrugen sie nur noch 52% des Niveaus von 1990. Selbst das klimafreundlichste Szenario im Entwurf der Strategie für eine CO2-arme Entwicklung hätte zur Folge, dass die Emissionen gegenüber heute in absoluten Zahlen wieder steigen.
In Russlands aktuellen politischen Dokumenten fehlt grüner, also aus erneuerbaren Energien erzeugter Wasserstoff, obwohl er im neuen Konzept wahrscheinlich erwähnt werden wird. Russland verfügt derzeit über begrenzte Wind- und Solarinstallationen mit insgesamt unter 3 GW Leistung, die weniger als 1% des gesamten Stroms erzeugen. Untersucht wird, inwieweit große Wasserkraft (die installierte Kapazität liegt bei 49 GW) für die Produktion erneuerbaren Wasserstoffs geeignet ist. Zwar gibt es zurzeit keine grünen Wasserstoffprojekte in Russland, aber einige Unternehmen haben Interesse bekundet. Enel Russia baut derzeit einen 201-MW-Windpark auf der Kola-Halbinsel im Gebiet Murmansk, der im Dezember 2021 fertiggestellt sein soll. Zusammen mit Rusnano, Russlands großer Institution für Innovationsentwicklung, will Enel Russia in diesem Windpark jährlich 12 000 Tonnen grünen Wasserstoff für den Export in die EU produzieren. Allerdings gibt es bei diesem Pilotprojekt viele Unwägbarkeiten, von den Kosten für diesen Wasserstoff bis hin zu den verfügbaren Transportwegen, denn in der Oblast Murmansk existieren keine Gaspipelines.
Schlüsselakteure in Russlands Wasserstoff-Entwicklungsplänen
Gazprom
Weil die Nachfrage nach Erdgas in der EU wohl sinken wird, könnte der Export von CO2-armem Wasserstoff, hergestellt aus Erdgas, ein neues Geschäftsmodell für Gazprom sein. Der Konzern ist schon ein bedeutender Produzent solchen »grauen« Wasserstoffs. Mit Dampf-Methan-Reformierung (SMR) erzeugt Gazprom rund 360 000 Tonnen pro Jahr. Bei diesem Prozess gelangen große Mengen CO2 in die Atmosphäre. Das Unternehmen hat begonnen, bei der EU aktiv für einen technologieoffenen Ansatz für Wasserstoff zu werben, der sich auf die gesamten CO2-Emissionen konzentriert, anstatt nur auf erneuerbaren Wasserstoff zu setzen.
Eine Herausforderung für Gazprom wird sein, skalierbare und wirtschaftliche Wege zu finden, um den CO2-Fußabdruck seiner Wasserstoffproduktion zu reduzieren – sei es durch Abscheidung, Nutzung und Speicherung von Kohlenstoff (CCUS) oder durch Methanpyrolyse. Gazprom kooperiert mit der Polytechnischen Universität Tomsk bei der Weiterentwicklung der letztgenannten Technologie, doch bis zur Marktreife ist es noch ein langer Weg. International werden jedoch mehrere Formen der Methanpyrolyse entwickelt, zum Beispiel vom Karlsruher Institut für Technologie in Zusammenarbeit mit Wintershall Dea.
Oft wird argumentiert, Russlands riesiges, von Gazprom kontrolliertes Netz an Gaspipelines verschaffe dem Land einen Vorteil als potentieller Wasserstoffexporteur. Im Oktober 2019 sagte James Watson, Generalsekretär des europäischen Branchenverbands Eurogas, dass die Gaspipeline Nord Stream 2 nach ihrer Fertigstellung potentiell bis zu 80% Wasserstoff transportieren könne. Doch Vertreter von Gazprom äußerten sich offen skeptisch über den Transport von Wasserstoff oder Wasserstoff-Methan-Gemischen durch ihre Gaspipelines. Laut dem Konzern wurden keine Studien durchgeführt, um festzustellen, in welchem Umfang und zu welchen Kosten die Infrastruktur für den Transport von Wasserstoff genutzt werden könnte und welcher Anteil der Beimischung möglich ist, ohne eine Versprödung zu riskieren. Zwar schlug das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung im April 2021 vor, allen unabhängigen Wasserstoffproduzenten Zugang zum Gastransportsystem zu gewähren. Dieser Vorschlag wird aber wohl auf heftigen Widerstand stoßen.
Stattdessen hat die Gazprom-Führung ihre klare Präferenz geäußert, Wasserstoff vor Ort in Europa in der Nähe großer industrieller Verbraucher zu erzeugen. Beim Deutsch-Russischen Rohstoff-Forum im Dezember 2020 schlug Alexander Ishkov von Gazprom vor, eine Wasserstoffproduktionsanlage in Norddeutschland zu bauen, an der Anlandungsstelle von Nord Stream 1 und Nord Stream 2, wo Wasserstoff aus russischem Gas entweder mittels SMR mit CCUS oder Methanpyrolyse hergestellt werden würde. Ende 2020 kündigte Gazprom die Gründung eines neuen Unternehmens (Gazprom Hydrogen) an, das für die Weiterentwicklung des Wasserstoffgeschäfts verantwortlich sein wird. Nun muss Gazprom seinen Worten auch Taten folgen lassen.
Rosatom
Rosatoms Wasserstoff-Pläne genießen in Europa bisher nur wenig Aufmerksamkeit, obwohl das Unternehmen die Wasserstoffentwicklung 2018 als Priorität in seine F&E-Politik aufgenommen hat und mehrere Pilotprojekte durchführt. Als staatlicher russischer Atomkonzern ist es an der gesamten Wasserstoff-Lieferkette interessiert. In den nächsten Jahren will Rosatom Wasserstofftechnologien anbieten und auch Elektrolyseure, die Russland vorerst importiert, selbst produzieren. Im April 2021 unterzeichnete Rosatom eine Vereinbarung mit dem französischen Stromgiganten Électricité de France (EDF) über die Zusammenarbeit bei CO2-armen Wasserstoffprojekten in den Bereichen Verkehr und industrielle Dekarbonisierung in Russland und Europa.
Rosatoms Vorschlag, H2 mit Kernenergie zu erzeugen, baut auf der bisherigen jährlichen Herstellung von 4 200 Tonnen auf. Rosatom könnte den Auslastungsgrad seiner Kernkraftwerke erhöhen, von denen einige unter ihrer Kapazität arbeiten, zum Beispiel das Kernkraftwerk Kola im Gebiet Murmansk. Wichtig ist jedoch, dass Rosatom Technologieoffenheit beibehält: Sein F&E-Programm umfasst ein breites Spektrum an Methoden zur Wasserstofferzeugung, einschließlich Elektrolyse, SMR mit CCUS und gasgekühlte Hochtemperaturreaktoren (HTGR). Rosatom ist außerdem ein bedeutender Akteur auf dem russischen Windmarkt, verfügt über 360 MW Kapazitäten zur Stromerzeugung und könnte damit zukünftig auch grünen Wasserstoff herstellen.
Gegenwärtig erstellt Rosatom Machbarkeitsstudien für zwei H2-Projekte auf der fernöstlichen Insel Sachalin, die zum ersten Wasserstoff-Cluster in Russland werden soll. Das erste Projekt zum Einsatz von Wasserstoff im Schienenverkehr wird in Zusammenarbeit mit den Russischen Eisenbahnen (RZD), Transmashholding (einer Maschinenbauholding) und der Regionalregierung der Oblast Sachalin durchgeführt. Bis 2025 sollen sieben Vorort-Wasserstoffzüge in Betrieb genommen werden, bis 2030 dann 13 weitere. Rosatom soll hierfür Wasserstoff produzieren und eine Infrastruktur für die Wasserstoffbetankung auf der Insel schaffen. Das zweite Projekt hat zum Ziel, CO2-armen Wasserstoff nach Japan zu exportieren. Im September 2019 unterzeichnete Rusatom Overseas, eine Tochtergesellschaft von Rosatom, ein Kooperationsabkommen mit dem japanischen Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie. Gegenstand des Abkommens ist eine Machbarkeitsstudie zum Export von verflüssigtem Wasserstoff aus Russland nach Japan. Die Ergebnisse der Studie sollen bis Sommer 2021 vorliegen. Zusätzlich einigte sich Rosatom im April 2021 mit dem führenden französischen Industriegasunternehmen Air Liquide und der Regionalregierung von Sachalin auf ein Memorandum of Understanding (MoU). Auch darin wurde eine Machbarkeitsstudie vereinbart, diesmal über die großtechnische Produktion (jährlich 30- bis 100 000 Tonnen) von blauem Wasserstoff, der erzeugt wird wie der graue, aber ohne das meiste CO2 in die Atmosphäre gelangen zu lassen. Dies wäre das größte CO2-arme Wasserstoffproduktionsprojekt in Russland.
Novatek
Obwohl nicht explizit in der Wasserstoff-Roadmap erwähnt, hat Novatek, ein unabhängiges Gasunternehmen und ein führender Hersteller von Flüssigerdgas (LNG), die Absicht signalisiert, sich an der Wasserstoffentwicklung in Russland zu beteiligen. Im Januar 2021 unterzeichneten Novatek und der Energieversorger Uniper eine Absichtserklärung über die Lieferung von blauem und grünem Wasserstoff an Unipers Kraftwerke in Russland und Europa. Außerdem plant Novatek, etwa 2,2 Millionen Tonnen kohlenstoffarmes Ammoniak, der aktuell das wichtigste Derivat von Wasserstoff ist, in seinem LNG-Hafen Sabetta auf der sibirischen Halbinsel Jamal zu produzieren. Darüber hinaus erwägt Novatek, seine geplante LNG-Anlage am Fluss Ob auf die Erzeugung sauberen Ammoniaks umzustellen, das wie LNG per Tanker transportiert werden kann. So wäre Novatek nicht auf Gazproms Pipelinesystem angewiesen.
H2-Technologie-Cluster
Russlands Tradition bei der Wasserstoffforschung reicht bis in die Sowjetzeit zurück. Mehrere Universitäten forschen an Wasserstofftechnologien, die von Energiespeichersystemen über wasserstoffbetriebene Drohnen und Autos bis hin zu neuen Produktionsmethoden wie Methanpyrolyse reichen. Ein Großteil dieser F&E ist jedoch sehr spezialisiert und abgeschottet, der Marktreifegrad ist niedrig, und die Vermarktung bleibt eine Herausforderung.
Im November 2020 schlossen sich, initiiert von der Polytechnischen Universität Tomsk, sechs renommierte technische Universitäten in Russland zusammen, um das sogenannte Technological Hydrogen Valley zu gründen. Dieses Forschungscluster soll Synergien in der Forschung schaffen und Kooperationen mit wichtigen Wirtschaftsakteuren aufbauen, darunter Rosatom, Gazprom, Severstal, Gazprom Neft und Sibur. Auch will das Konsortium die internationale Zusammenarbeit ausweiten.
AFK Sistema, ein führender Privatinvestor in der russischen Wirtschaft, möchte gemeinsam mit dem Institut für Probleme der chemischen Physik in Tschernogolowka dort ein gesamtrussisches Wissenschafts- und Technologiezentrum für H2 gründen. Es würde eine Produktionsstätte für die Entwicklung von Produktprototypen (einschließlich H2-Brennstoffzellen und H2-Speicherlösungen) umfassen und damit auf die Kommerzialisierung der Wasserstoffforschung in Russland hinarbeiten.
Erste Initiativen für eine Wasserstoffwirtschaft in Russland
Regionale Wasserstoff-Cluster
Das EnergyNet-Expertenzentrum hat vorgeschlagen, drei regionale H2-Cluster in Russland zu schaffen: im Fernen Osten (Sachalin), im Nordwesten (St. Petersburg) und in der Arktis.
Das Sachalin-Cluster ist am weitesten fortgeschritten. Im April 2021 unterzeichneten Rosatom, die Regierung Sachalins und das russische Föderale Ministerium für die Entwicklung des Fernen Ostens und der Arktis eine offizielle Kooperationsvereinbarung. Sachalin, deren Gouverneur Valery Limarenko hochrangige Positionen bei Rosatom innehatte, soll Standort für Rosatoms Projekte werden, zum Beispiel die Erkundung des Exports von verflüssigtem Wasserstoff nach Japan. Mit ihm sollen bis 2030 maximal 40% des japanischen Bedarfs gedeckt und auch andere asiatisch-pazifische Länder versorgt werden. Auf Sachalin könnte die Verwendung von Wasserstoff und Wasserstoff-Methan-Gemischen getestet werden, etwa bei der schweren Bergbauausrüstung und beim Personentransport. Künftig könnte Sachalin auch grünen Wasserstoff aus Windenergie produzieren. Schließlich ist Sachalin die erste russische Region, die CO2-Neutralität anstrebt (bis 2025). Sie wurde als Testgebiet für CO2-Handelsmechanismen ausgewählt, die in den kommenden Jahren in Russland eingeführt werden könnten.
Das nordwestliche Cluster in St. Petersburg wird auf den Export von Wasserstoff ausgerichtet sein, der durch Elektrolyse im Wasserkraftwerk Leningradskaya erzeugt wird, aber auch auf den Einsatz von Wasserstoff zur Dekarbonisierung bestimmter industrieller Prozesse und des Transports. Dazu gehören die Direktreduktion von Eisenerz in der Stahlindustrie, der Einsatz von H2 in der Zementproduktion und die Verwendung von Methan-Wasserstoff-Gemischen für Fahrzeuge.
Das Arktis-Cluster soll das Potential der Wasserstoffnutzung zur Energiespeicherung in abgelegenen und isolierten Gebieten ausloten. Ein großer Teil des dünn besiedelten arktischen Gebiets ist vom nationalen Stromnetz isoliert und wird mit extrem teurem, umweltschädlichem Diesel versorgt. Diese Region würde am unmittelbarsten vom Wechsel zu sauberer Energie profitieren. Jakutien hat mehrere Hybridkraftwerke (Diesel plus erneuerbare Energien) installiert und arbeitet nun an einem Pilotprojekt mit der Moskauer Technischen Universität Bauman, um erneuerbaren Wasserstoff zur Energiespeicherung zu nutzen. Als weiteres Pilotprojekt ist die kohlenstofffreie internationale arktische Forschungsstation Snezhinka (Schneeflocke) vorgesehen. Sie soll 2023 eröffnet werden und wasserstoffbasierte Lösungen für die Energiespeicherung und den Transport erforschen.
H2 in der Industrie
Wegen der fehlenden nationalen CO2-Regulierung hat sich die Idee, sauberen Wasserstoff zur Dekarbonisierung der Industrie zu verwenden, in Russland noch nicht durchgesetzt. Der zurzeit diskutierte Gesetzesentwurf zur Begrenzung von Treibhausgasemissionen wurde durch den Druck von Industriekonzernen zahnlos gemacht: Er sieht nur die freiwillige Berichterstattung großer Emittenten über CO2-Emissionen vor und enthält keine restriktiven Maßnahmen.
Dennoch wird sich die Verschärfung der internationalen Klimapolitik auf Russlands exportorientierte Firmen auswirken. Einige von ihnen, vor allem in der Metallindustrie, beginnen Schritte zu unternehmen, um ihren CO2-Fußabdruck zu reduzieren. Der russische Aluminiumgigant Rusal hat »Allow« eingeführt, seine eigene Marke von »grünem Aluminium« mit einem Kohlenstoff-Fußabdruck von weniger als 4 Tonnen CO2 pro Tonne. Es wird mit Energie aus großen sibirischen Wasserkraftwerken hergestellt. Die Nachfrage dürfte in den kommenden Jahren steigen. Ein weiteres vielversprechendes Beispiel ist der Stahlproduzent NLMK, der mit Air Liquide zusammenarbeitet, um seine Wasserstoffanlagen zu entwickeln und den CO2-Fußabdruck seines Stahls zu verringern. Im Januar 2021 unterzeichnete NLMK außerdem eine Absichtserklärung mit Novatek, bei kohlenstoffarmen Technologien, CCUS und der Nutzung von Wasserstoff als sauberem Brennstoff in industriellen Prozessen zu kooperieren.
Russische Firmen verfolgen aufmerksam die Entwicklungen rund um den Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) der EU, der darauf abzielt, CO2-Importzölle zu erheben, um unfairen Wettbewerb zu verhindern. In Russland wird er weithin als eine der größten Bedrohungen für seine CO2-intensive Wirtschaft angesehen. Laut einer oft zitierten Prognose der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG wird Russland durch den Mechanismus bis zum Jahr 2030 bis zu 50,6 Milliarden Euro verlieren. Sobald seine endgültige Ausgestaltung feststeht, werden russische Firmen der Chemie-, Metall- und Petrochemieindustrie sich verstärkt bemühen, den CO2-Fußabdruck ihrer Produkte zu reduzieren. Wasserstoff könnte eine der Lösungen dabei werden, neben erneuerbaren Energien, CCUS und Investitionen in Wälder als Kohlenstoffsenken. Dies könnte Firmen aus Deutschland und der EU die Chance eröffnen, Russland mit Technologien und Know-how bei der industriellen Dekarbonisierung zu unterstützen.
H2 im Transport
Der Verkehrssektor wird aus mehreren Gründen zur ersten Nische der Wasserstofftechnologie werden: Es gibt aufstrebende russische Technologieanbieter, konkrete Pilotprojekte (wie den Sachalin-Wasserstoffzug) und ein Interesse bei Investoren. Zudem existiert ein Vorzeigeprojekt, die wasserstoffbetriebene Straßenbahn in St. Petersburg, die das Staatliche Forschungszentrum Krylov 2020 entwickelte. Auch Präsident Putin hat jüngst die Bedeutung des öffentlichen Nahverkehrs auf Wasserstoffbasis betont und dazu aufgerufen, bis 2023 die Produktion von Wasserstoffbussen zu starten.
InEnergy, ein 2015 gegründetes Start-up, ist Russlands fortschrittlichstes Unternehmen bei Wasserstofftechnologien wie Brennstoffzellen und Energiespeicherlösungen. Es erhielt eine Finanzierung von der Russian Venture Company und arbeitet eng mit dem Institut für Probleme der chemischen Physik zusammen. InEnergy kooperiert mit dem russischen Lkw-Hersteller KAMAZ, um Prototypen von Wasserstoffbussen zu entwickeln. Einer davon soll im Herbst vorgestellt werden. KAMAZ, das bereits Lithium-Ionen-Elektrobusse baut, hat wasserstoffbetriebene Busse und Lkw in sein F&E-Programm aufgenommen.
Zudem hat die wohlhabende Moskauer Stadtverkehrsbehörde, die viel in eine elektrische Busflotte investiert, Interesse an Wasserstoffbussen gezeigt. Rosatom und Transmashholding, die ein Joint Venture zur Förderung von Wasserstoff-Mobilitätslösungen planen, hoffen darauf, an der Umsetzung dieser Vision mitwirken zu können.
Schwierig bleibt jedoch, eine Infrastruktur für die Wasserstoffbetankung zu schaffen. Heute gibt es in Russland nur eine einzige H2-Tankstelle, in Tschernogolowka. Eine positive Initiative ist die geplante Autobahnstrecke Moskau-Kasan, die mit Wasserstofftankstellen ausgerüstet werden soll.
Dennoch bleibt der Wettbewerb zwischen den Technologien ein Problem. Andere Formen der Mobilität sind besser sichtbar und großzügiger finanziert. Eine davon ist das staatliche Programm zur Förderung von Erdgas als Kraftstoff für Fahrzeuge. Es wird von der Gazprom-Tochter Gazprom Gazomotornoye Toplivo betrieben.
Gründe und Perspektiven deutsch-russischer Zusammenarbeit
Angesichts der Sicherheitskrise zwischen Russland und dem Westen ist jede weitergehende Zusammenarbeit mit Russland zwangsläufig umstritten. Falls der politische Wille dazu besteht, ist aber nachhaltige Energie einer der wenigen vielversprechenden und für beide Seiten vorteilhaften Bereiche. Außerdem ist es ohnehin notwendig, die Auswirkungen des CBAM und der Dekarbonisierung auf den bestehenden Energiehandel zu managen.
Die für Energie zuständigen Ministerien Deutschlands und Russlands haben am 20. April 2021 eine Absichtserklärung zur Zusammenarbeit bei den erneuerbaren Energien unterzeichnet. Die Vorteile der Kooperation liegen nicht nur im potentiellen Zugang zu CO2-armem H2, sondern auch in der Öffnung eines Marktes für deutsche Wasserstofftechnologien. Deutschland könnte eine herausragende, strategisch bedeutsame Rolle dabei spielen, Russland bei dessen Anpassung an ein dekarbonisierendes Europa zu begleiten. Eine deutsch-russische Wasserstoffpartnerschaft könnte sich als entscheidend bei Erforschung, Innovation und Skalierung von Technologien erweisen. Deutschlands Entscheidung, H2 stärker in den bilateralen Energiebeziehungen mit Russland zu gewichten und ein Wasserstoffbüro in Moskau zu eröffnen, sind entsprechende Schritte.
Um auf eine dekarbonisierte Zukunft hinzuarbeiten, müssen Wege gefunden werden, große Öl- und Gasexporteure bei der Neuausrichtung ihrer ölbasierten Wachstumsmodelle zu unterstützen. Da die EU der wichtigste Markt für Russlands Öl und Gas ist, bildet ihre Dekarbonisierungsagenda eine ernsthafte Herausforderung für Russlands Wirtschaftsmodell und Rentenwirtschaft. In einer dekarbonisierten Energiewelt wird nicht die Extraktion, sondern die Konversion von Energie eine größere Rolle spielen. Technologien und Know-how werden wichtiger. Dadurch entstehen andere Geschäftsmodelle und völlig neue Wertschöpfungsketten, die auf der Verfügbarkeit von Technologien und deren jeweiligen Innovations- und Lebenszyklen beruhen. Diese Transformation wird Gewinner und Verlierer hervorbringen. Während sinkende Renten aus Öl und Gas die russischen Eliten treffen werden, kann die Transformation für viele Unternehmen auch Anreize zur Modernisierung schaffen. Die deutsch-russische Kooperation trüge dazu bei, den Energiesektor umzubauen und Russland eine neue Funktion in der Energiewelt zu geben. Das würde auch die zukunftsgerichtete bilaterale Zusammenarbeit in Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft fördern.
Russland bleibt geographisch Nachbar und absehbar Rohstofflieferant, etwa von Platin und Iridium für Elektrolyseure. Um das klimaneutrale Europa zu verwirklichen, ist es außerdem wichtig, sich des »grünen Paradoxons« bewusst zu sein: Hört Europa auf, Kohlenwasserstoffe aus Russland zu importieren, bleiben diese Ressourcen nicht im Boden, sondern werden günstig an rasch wachsende asiatische Volkswirtschaften verkauft. Das bringt keinen Nettogewinn für das globale Klima. Besser wäre es, Erdgas für einen Übergangszeitraum zu nutzen. Kooperieren könnte man bei der Produktion von CO2-armem Wasserstoff mit CCUS und türkisem, also durch Pyrolyse erzeugtem Wasserstoff sowie bei Methanleckagen.
Auf dem Papier spricht einiges für eine H2-Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland. Dazu gehört die bestehende Gasinfrastruktur mit parallelen Leitungssträngen, die einen allmählichen Ausstieg aus dem Gastransport und die Umnutzung dieser Leitungen und Kompressoren für Wasserstoff ermöglichen. Ebenfalls zu nennen sind langjährige Joint-Ventures von Energieunternehmen sowie die enge technologische und wissenschaftliche Kooperation.
Die angespannten politischen Beziehungen bleiben freilich ein großes Hindernis. Darüber hinaus bestehen Hürden, die von beiden Seiten angegangen werden müssen. Erstens wäre da das Henne-Ei-Problem, das die Wasserstoffentwicklung weltweit betrifft, nämlich: Wie, wann und wofür sollen Wertschöpfungsketten und dann auch noch der Transport verändert oder neu geschaffen werden, wenn weder Nachfrage noch Angebot gesichert sind? Bislang haben langfristige Verträge über die vertikal integrierte Wertschöpfungskette mit preisgebundenen Verträgen geholfen, solche Hürden zu überwinden. Vor dem Hintergrund neuer EU-Regularien müssen Mechanismen konzipiert werden, um Angebot und Nachfrage verlässlich aufeinander abzustimmen, die Preisdifferenz zu grauem Wasserstoff und alternativen Brennstoffen zu überbrücken und den Transport zu sichern.
Die zweite Herausforderung betrifft die Farbenlehre. Der deutsche politische Diskurs konzentriert sich auf die »Farben« des Wasserstoffs statt auf den CO2-Fußabdruck der verschiedenen Erzeugungsmethoden. Dies bildet eine freiwillige Begrenzung im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Es gibt aber zahlreiche gute Gründe, den CO2-Abdruck und die Schwellenwerte der EU-Taxonomie als Referenzpunkte zu nehmen, um konsistent und transparent zu sein. Russland erwägt eine breite Palette von Wasserstoffproduktionsmethoden, einschließlich der Erzeugung in großen Wasser- und Kernkraftwerken. Diesen Ansatz teilt es mit vielen seiner potentiellen Partner wie Frankreich, Südkorea und Japan. Während klar ist, dass Deutschlands Förderprogramm für langfristige und marktbasierte Importe (H2 Global) ausschließlich grünen Wasserstoff unterstützen wird, ist der großskalige Import und Verbrauch anderer Arten von CO2-armem Wasserstoff noch offen.
Das dritte Hindernis ist die kritische Haltung gegenüber CCUS in Deutschland. Wasserstoff hierzulande vor Ort zu produzieren hat Vor- und Nachteile. Einerseits würde es Deutschland ermöglichen, seinen Wasserstoffbedarf schnell und flexibel zu decken und Schlüsseltechnologien weiterzuentwickeln. Andererseits würde es – im Falle von blauem Wasserstoff – den Aufbau eines CO2-Netzes, von Speichern oder von beidem erfordern. Das muss in Deutschland diskutiert werden.
In Russland wiederum haben sich die Erfahrungen mit dem Wandel der EU-Regulierungen eingebrannt. Ist aber der politische Wille vorhanden, nachhaltiger Energie Vorrang einzuräumen und gegenseitige Barrieren zu überwinden, ließen sich große Projekte über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg umsetzen, um Vertrauen wiederherzustellen. Die Bausteine sind offensichtlich. Es ist keine Frage der technischen Machbarkeit, sondern der wirtschaftlichen und politischen Prioritätensetzung. Ein klimaneutrales Europa hat viel zu gewinnen, wenn die umkämpfte Nord Stream 2 (teilweise) für Wasserstoff umgewidmet und zu einem Teil eines neuen Wasserstoff-Technologie-Röhren-Deals gemacht würde. Solch ein Abkommen müsste aber zuvor europäisch verankert werden.
Fazit
Russland signalisiert sein Interesse, in den globalen Wasserstoffwettlauf einzusteigen. Es sieht sich als zukünftiger Wasserstofflieferant für Deutschland und den asiatisch-pazifischen Raum. Allerdings geht die Entwicklung zu einem wichtigen Wasserstoffexporteur Hand in Hand mit dem Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft in Russland selbst. Will es sich seinen Platz sichern, kommt es nicht umhin, eine ehrgeizigere Dekarbonisierungspolitik zu betreiben. Auch kann Russland nicht davon ausgehen, dass es ein unverzichtbarer Wasserstofflieferant für die EU bleiben wird. H2 schafft die Option, sich seine Partner zu wählen. Der Wettlauf um Wasserstoff verschärft sich, Regierungen und Unternehmen investieren große Summen. Deswegen muss Russland ein Risiko eingehen und den politischen Willen und die Ressourcen aufbringen, um sich seinen Anteil am zukünftigen Wasserstoffmarkt zu sichern.
Was Deutschland betrifft, sollte es den CO2-Gehalt von Wasserstoff zum Hauptkriterium machen oder zumindest klar benennen, welcher H2 zur Anwendung kommen darf, um Sicherheit für potentielle Investoren zu schaffen. Gut durchdachte Pilotprojekte sind in diesem frühen Stadium entscheidend. Außerdem ist die industrielle Dekarbonisierung in Russland ein ungenutzter und vielversprechender Bereich der bilateralen Zusammenarbeit, der weitaus größere Aufmerksamkeit verdient.
Yana Zabanova ist Gastwissenschaftlerin und Dr. Kirsten Westphal ist Leiterin des Projekts »Geopolitics of Hydrogen« in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Das Projekt wird vom Auswärtigen Amt gefördert.
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ISSN (Online) 2747-5018
doi: 10.18449/2021A48
(Deutsche Übersetzung von SWP Comment 34/2021)