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Der Kampf um den Nordpol

Russlands furioser Start als Vorsitz des Arktischen Rates

SWP-Aktuell 2021/A 47, 22.06.2021, 4 Seiten

doi:10.18449/2021A47

Forschungsgebiete

Auf dem 12. Ministertreffen am 20. Mai 2021 in Reykjavik übernahm Russland den Vorsitz des Arktischen Rates, den bis dahin Island innehatte. Am Tag zuvor hatte Russlands Außenminister Sergej Lawrow eine erste Zusammenkunft mit US-Außen­minister Antony Blinken als konstruktiv bezeichnet. Allerdings hatte Lawrow den Westen im Vorfeld pauschal vor »Besitzansprüchen in der Arktis« gewarnt; für jeden sei »seit langem vollkommen klar, dass dies unser Territorium ist«. Aber was ist damit gemeint: der Nordpolarraum entsprechend dem neuen Antrag, den Russland im März 2021 an die Festlandsockelgrenzkommission gerichtet hat? Oder spielte Lawrow auf den andauernden Dissens um die Nördliche Seeroute an? Moskau will offenbar durch aggressive Rhetorik und gleichzeitige Dialogbereitschaft eine für sich vorteilhafte Lage in der Arktis schaffen.

Die vier Prioritäten des isländischen Vor­sitzes (2019–21) galten der arktischen Meeres­umwelt, dem Klimawandel inklusive praktischen, sich mit grüner Energie bie­tenden Lösungsansätzen, den Menschen und Gemeinschaften der Arktis sowie der Stärkung des Arktischen Rates. Island sei stolz auf das, was es erreicht habe, erklärte Außenminister Gudlaugur Thor Thordarson: Covid-19 habe den Vorsitz beeinträchtigt, aber trotz Verzögerungen seien die meisten Pläne verwirklicht worden, dar­unter eine Initiative gegen die Meeres­verschmutzung durch Mikroplastik. Außer­dem wurde erstmals eine langfristige Stra­tegie für die Arbeit des Arktischen Rates verabschiedet. Sie umfasst einen Aktionsplan zu Klima, Ökosystem, Meeres- und Küstenräumen, soziale Entwicklung, nach­haltige Wirtschaft, Wissen und Kommu­nikation sowie die weitere Stärkung des Rates in seiner Arbeit.

Welche Themen sind Russland wichtig? Die vom Sicherheitsrat der Russischen Föde­ration eingesetzte Arktis-Kommission tagte im Oktober 2020 zur Vorbereitung auf den Vorsitz. Dabei machte Dmitri Medwedew als stellvertretender Ratsvorsitzender wenig überraschend deutlich, dass die nationale Sicherheit im Vordergrund der russischen Agenda stehe; denn Russland werde von seinen Nato-Nachbarstaaten bedroht.

Allerdings folgten die späteren Ausführungen des russischen Beauftragten für die Arktis Nikolai Kortschunow der traditionellen, auf Kooperation angelegten Agenda des Arktischen Rates. Ähnlich wie zuvor für den isländischen Vorsitz wurden vier Prio­ritäten gesetzt: die Verbesserung der Lebens­bedingungen der arktischen Bevölkerung – auch der indigenen Volksgruppen; der Schutz der arktischen Umwelt, einschließ­lich der Bewältigung der Folgen des Klima­wandels (mit besonderem Fokus auf Perma­frostgebiete); die sozioökonomische Ent­wicklung der Region (in Russland mit Schwerpunkt auf Städten in den nördlichen Regionen und entlang der Nördlichen See­route) und die Stärkung der Rolle des Ark­tischen Rates als Basis für multilaterale Zusammenarbeit.

So wichtig diese Themen sind: Geopolitische und sicherheitsrelevante Aspekte der russischen Arktisagenda bleiben brisant.

Das Verhältnis USA–Russland

Die Arktis sei eines der wenigen Felder, in dem Russland und die USA noch erfolgreich einen Dialog führen können, verlautete aus dem russischen Sicherheitsrat. Auf der Ark­tis­agenda stünden »praktische Fragen«, wie die Koordination der Küstenwachen, Fische­rei­management und Schiffsverkehr. Dies sei ein »gutes Modell« auch für andere Berei­che: mit konkreten Fragen zu beginnen und danach allgemeinere Themen zu erörtern.

Während sich Kortschunow bemühte, ein positives Klima für das Ratstreffen in Reykjavik zu schaffen, warnte Außenminis­ter Lawrow zugleich »den Westen vor Be­sitzansprüchen in der Arktis«. Außerdem kritisierte er Norwegen, weil es das Vor­dringen der Nato in die Arktis rechtfertige. Fast zur selben Zeit drohte Präsident Putin, jedem die Zähne einzuschlagen, der sich an russischem Territorium vergreife. Jeder wolle ein Stück Russlands abbeißen, klagte Putin bei einer Konferenz zur Förderung patriotischer Gesinnung. Adressat beider Warnungen waren die USA, aber auch deren nordische Verbündete.

Das russische Verhältnis zu den USA steht unter dem Eindruck des neuen Ton­falls in Washington: Ex-Präsident Obama nannte Putin in seinen Memoiren den Lei­ter eines »kriminellen Syndikats«, Biden bezeichnete Putin als »Killer«. Unmissverständliche Signale an Russland sind auch die Sta­tionierung einer Staffel von vier B‑1B-Bombern auf der Orland Air Base an der norwegischen Westküste und die Aus­weitung der Verteidigungskooperation mit Norwegen. Seither stehen Flughäfen und eine Marinebasis für bilaterale Einsätze zur Verfügung. Diese Maßnahmen sind eine Reaktion auf die anhaltende militärische Aufrüstung in der Arktis und die damit ein­hergehende Ver­unsicherung nordischer Nato-Verbündeter und von Partnern wie Schweden. Deshalb fügten die USA der tra­ditionellen Balancepolitik Oslos gegenüber Moskau neue Abschreckungselemente hinzu.

Dabei ist Washington nicht an einer wei­teren Verschlechterung der Beziehungen gelegen, und jenseits von Verhandlungen über strategische Stabilität (und ein Nach­folgeabkommen zu »New START«) gibt es wenige Felder für konstruktive Kooperation. In der Arktis ist Zusammenarbeit nötig und möglich, und dies sogar zur beiderseitigen Zufriedenheit.

Nicht zuletzt die Spannungen, die Russland mit dem Truppenaufmarsch nahe der Grenze zur Ukraine im April ausgelöst hat, lassen die Prioritäten des russischen Vorsit­zes jedoch als höchst ambivalent erscheinen. Die Kopplung von aktuellen Drohgebärden mit dem ungeklärten Besitzanspruch auf Gebiete rund um den Nordpol ergibt eine brisante Mischung. Schließlich wurde erst 2007 bei einer spektakulären Aktion eine russische Flagge in über 4 000 Metern Tiefe auf den Meeresboden unter dem Nordpol gesetzt, um russische Ansprüche symbolisch geltend zu machen. Der russische Polarforscher und ehemalige Abgeordnete Artur Chilingarow hatte vor dem Tauchgang die Mission klar definiert: Es solle bewiesen werden, »die Arktis ist russisch«.

Der Kampf um den Nordpol

Nach den Daten, die Russland 2015 und 2019 der VN-Kommission als Grundlage für seine Anträge übermittelt hat, beansprucht Moskau in der Arktis ein Gebiet von 1,2 Millionen Quadratkilometern, den Nordpol inklusive. 500 000 km2 überschneiden sich fast zur Hälfte mit denen, auf die Dänemark Anspruch erhebt.

Von August bis Oktober 2020 haben zwei russische Eisbrecher zusätzliche Daten erho­ben. Auf deren Basis erweiterte Russland seinen Antrag auf ein Gebiet, das vom Nord­pol bis an die Grenzen der Ausschließlichen Wirtschaftszonen Kanadas und Grönlands reicht. Moskau hat im März 2021 eine ent­sprechende Forderung erhoben, die das bisherige Gebiet um weitere 705 000 km2 vergrößert. Dies sei ein »maximalistischer Antrag«, man könne nicht mehr verlangen, kommentierte der kanadische Politikwissen­schaftler Robert Huebert. Russland erkläre damit »praktisch den gesamten Arktischen Ozean zu ihrem Kontinentalschelf«, wäh­rend es Dänemark und Kanada ignoriere.

Kopenhagen beansprucht anhand der von Grönland aus bestimmten Basislinien mit 895 000 km2 ein Gebiet, das etwa zwan­zigmal so groß ist wie Dänemark und eben­falls den Nordpol umfasst. Der Anspruch auf dieses Gebiet wurde schon in der Ark­tisstrategie des Königreichs 2011 geltend gemacht. Zunächst war eine mit Kanada abgestimmte Fläche von 150 000 km2 ins Auge gefasst worden. Diese Verhandlungslinie hatte Kanadas damaliger Premier­minister Stephen Harper jedoch 2013 auf­gekündigt; Harper wollte auf keinen Fall einen Antrag stellen, der den Nordpol aus­klammert. Daraufhin einigten sich Kopen­hagen und Nuuk auf einen neuen Antrag, der im Dezember 2014 eingereicht wurde und die erwähnte maximale Gebietsausdeh­nung beinhaltet.

Die Gebiete überlappen sich mit den von Russland beanspruchten, worin Mos­kau zunächst kein Problem sah. Vielmehr wurde es als eine Chance erkannt, wenn die drei Staaten untereinander einen Konsens hätten erzielen können. Doch auch nach einem Treffen im Mai 2019 in Ottawa konnte offenbar kein Ergebnis herbeigeführt wer­den. Anstelle einer Beilegung der Differen­zen wählte Moskau im Kampf um den Nordpol eine andere Taktik und weitete seine For­derungen aus.

Vor Gericht und auf offener See…

In der Ilulissat-Erklärung von Mai 2008 lehn­ten es die fünf arktischen Küstenstaaten ab, ein ähnliches Rechtsregime zu entwickeln, wie es der Antarktis-Vertrag von 1959 be­gründet hatte. Stattdessen bekräftigten sie die Absicht, ihre souveränen Rechte und Pflichten gemäß dem Seerecht zu klären.

Der dänische Geheimdienst publizierte jedoch schon wenige Jahre nach der Ilu­lissat-Erklärung eine Risikoeinschätzung mit Blick auf Entwicklungen, die für die natio­nale Sicherheit relevant sind. Danach könnte Russland im Falle eines Votums, das seinen Antrag ablehnt, die Kompetenz und die Unparteilichkeit der VN-Kommis­sion anzweifeln und eine eigene Bewertung vornehmen. Diese Einschätzung hat die dänische Seite 2017 wiederholt, und im November 2020 empfahlen Juristen einer russischen Stiftung tatsächlich eine Vor­gehensweise, die der dänischen Einschätzung ähnelt: Moskau benötige keine Zu­stimmung der Vereinten Nationen, sondern könne einfach erklären, dass das Schelf zur Russischen Föderation gehöre, und in der Folge Fakten schaffen. Dies wäre ein Vor­gehen ähnlich dem Chinas im Südchinesischen Meer, das die Entscheidung des Inter­nationalen Schiedsgerichts in Den Haag 2016 ignorierte und sich Gebiete aneignete.

Im Unterschied zu Peking kann Moskau aber in jedem Fall erheblich an Meeres­gebiet gewinnen, solange es im Einklang mit dem Seerecht handelt. Es gibt – theo­retisch – keinen Grund für einen Kampf um den Nordpol. Auch Dänemark hofft auf eine gemeinsame und einvernehmliche Lösung der Arktisstaaten, obwohl es nach wie vor eine Situation nicht ausschließt, in der Russland »einen anderen Ansatz zu einem späteren Zeitpunkt wählen könnte, sollte der VN-Prozess kein Ergebnis zeitigen, das für Russland akzeptabel ist«.

Ganz auszuschließen ist also nicht, dass Putin langfristig in der Arktis einen gün­stigen Moment ausnutzen könnte, um Fak­ten zu schaffen, zumal die USA nicht auf eine Eskalation im Nordpolargebiet vor­bereitet sind und ihre Aufmerksamkeit auf den indo-pazifischen Raum gerichtet ist. Daher kann der von Moskau unterstützte Dialog über Fragen militärischer Sicherheit in der Arktis auch im Interesse Washingtons dazu beitragen, das Risiko einer Eska­lation im arktisch-nordatlantischen Raum einzuhegen. Einerseits bietet fortgesetztes Aufrechterhalten von Drohkulissen Russ­land die Möglichkeit, in der Großmachtrivalität nicht an Bedeutung zu verlieren. Dass der Kreml diesen Zusammenhang sieht, darauf weisen die russischen Aktivitäten in Europa ebenso hin wie die von Putin pro­pagierten »Wunderwaffen« der russischen Nordflotte, darunter die nuklear angetriebene Unterwasserdrohne Poseidon. Wo Mos­kau die militärische Eskalationsdynamik weitgehend kontrolliert – wie etwa im Fall der Ostukraine –, kann eine Zuspitzung der russischen Politik als Instrument dienen. Andererseits ist Russland an einer stabilen und friedlichen Lage interessiert, um die mil­liardenschweren Investitionsprojekte in der arktischen Zone vorantreiben zu können.

Auf dünnem Eis

Außenminister Lawrow befürwortete bei dem Treffen in Reykjavik explizit die Wiederaufnahme von Gesprächen zwischen den militärischen Befehlshabern der Arktis­staaten. Dass er dies als designierter Rats­vorsitzender in der Sitzung äußerte (obwohl sich der Arktische Rat nicht mit Belangen militärischer Sicherheit befasst), unter­streicht, wie wichtig es Moskau ist, wieder in einen Dialog einzutreten. Fast hat es den Anschein, als wolle der Kreml einen Puffer für die eigene aggressive Rhetorik schaffen.

Doch die Erwartungen an die in Reykjavik beschworene konstruktive Kooperation sollten realistisch bleiben. Im Zweifelsfall nutzt Russland bilaterale Gespräche, um seinen Großmachtstatus zu bestätigen. Im eigenen Interesse müsste Moskau auch miss­verständliche Äußerungen und Legenden­bildung unterlassen; allerdings ist das beste Mittel gegen Desinformation, wenn sich sol­che Legenden als lächerlich erweisen.

So spielt die erwähnte Drohung Putins auf die frühere US-Außenministerin Made­leine Albright an, über deren »Appetit auf Sibirien« sich Moskau entrüstet. Dabei hat die vor zwanzig Jahren aus der Regierung ausgeschiedene Albright nie etwas Derarti­ges geäußert (nach Angabe eines früheren russischen Geheimdienstgenerals sei es denn auch einer auf übersinnliche Fähig­keiten spezialisierten Sondereinheit gelun­gen, Albrights Gedanken zu lesen).

In seiner Warnung hat Lawrow auch nicht die russischen Ansprüche auf das Kon­tinentalschelf, sondern die Meeresgebiete entlang der Nördlichen Seeroute gemeint. Diese sieht Russland im Gegensatz zu den USA nicht als internationale Wasserstraße an.

Russland braucht Frieden und Stabilität in der Arktis, um ungehindert Kohle, Öl und Gas fördern und über die Nördliche Seeroute verschiffen zu können, deren Modernisierung beträchtliche Investitionen erfordert. Insofern genießt in der Regel die nationale Sicherheit – hier konkret die Energiewirtschaft und zu ihrem Schutz das Militär – den Vorrang, während traditionelle The­men des Arktischen Rates Russ­land nachrangig erscheinen. Dennoch hat sich der russische Vorsitz für die nächsten zwei Jahre ein umfangreiches Programm vor­genommen. Es lässt hoffen, dass Bevöl­kerung, Umweltschutz und nachhaltiges Wirtschaften in der Politik des Kremls an Bedeutung gewinnen werden. Schließlich könnte die Arktis idealiter wieder als Ort der Zusammenarbeit und damit als stabi­lisierender Faktor in der internationalen Politik fungieren.

Es bleibt eine geopolitisch brisante Frage, ob am Nordpol in Zukunft eine russische, kanadische oder dänische bzw. grönländische Flagge hängen wird. Momentan prak­tiziert Putin eine Mischung aus aggressiver Rhetorik und vorgeblicher Dialogbereitschaft, die Gesprächspartner zu fortwähren­der Anpassung zwingt, während der Kreml konkrete Zugeständnisse vermeidet. Das macht den Dialog der Arktisstaaten nicht einfacher, zumal das Eis, auf dem sie balan­cieren, immer dünner wird.

Dr. Michael Paul ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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