Am 2. März 2021 hat die türkische Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) eingeleitet, am 17. März die Klageschrift auf deren Verbot beim Verfassungsgericht eingereicht. Der Generalstaatsanwalt hat ferner beantragt, 687 Funktionären der Partei zu verbieten, sich in den nächsten fünf Jahren politisch zu betätigen. Das würde auf den Ausschluss fast aller HDP-Politiker von der Politik hinauslaufen und so die politischen Kanäle für die Diskussion und Lösung der Kurdenfrage auf Jahre verschließen. Zwar hat das Verfassungsgericht am 31. März die Klageschrift wegen verfahrensrechtlicher Mängel zurückgewiesen. Doch am 6. Juni teilte die Generalstaatsanwaltschaft mit, dass sie einen weiteren Vorstoß zum Verbot der Partei unternommen hat. Damit besteht die Gefahr, dass die Verhinderung ziviler und gewaltfreier kurdischer Politik Wasser auf die Mühlen der illegalen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist und sich der Kurdenkonflikt erneut perpetuiert. Der Vorgang wirft ein Schlaglicht auf die Verschränkung von Politik und Justiz in der Türkei und macht strukturelle Mängel der türkischen Verfassungsordnung deutlich.
Den Stein ins Rollen gebracht hat Devlet Bahçeli, Vorsitzender der extrem rechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Seine Partei hatte kurz nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des Militärs am 15. Juli 2016 ihre Politik geändert: Sie wurde von einem Gegner des heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und des von ihm favorisierten Präsidialsystems zum eifrigsten Verfechter des neuen Systems und zum Verbündeten Erdoğans. Am 11. Dezember 2020 forderte Bahçeli öffentlich, der Generalstaatsanwalt solle die Ermittlungen für das Verbotsverfahren gegen die HDP aufnehmen und die Verbotsklage einlegen, auf dass kurdische Parteien ein für alle Mal von der politischen Bühne verschwänden. Gut drei Monate später hat die Staatsanwaltschaft Bahçelis Forderungen umgesetzt.
Parteipolitische Erwägungen als Auslöser des Verbotsantrags
Die Tatsache, dass der MHP-Vorsitzende den Vorstoß unternahm, und das Timing des Verbotsantrags machen es sehr unwahrscheinlich, dass juristische Erwägungen für die Erstellung der Anklageschrift entscheidend waren. Hatte doch selbst die umstrittene Rolle der Parteiführung der HDP bei den gewalttätigen Ausschreitungen in Südost-Anatolien 2014, während der Belagerung der syrisch-kurdischen Stadt Kobani durch den »Islamischen Staat«, damals nicht dazu geführt, dass ein Verbotsantrag eingereicht oder auch nur diskutiert worden wäre. Dasselbe gilt für die Errichtung von Schützengräben durch Kämpfer der PKK gegen die türkischen Sicherheitskräfte in von der HDP regierten Städten im Südosten der Türkei Ende 2015. Diese Aktion wäre ohne die Hilfe der Kommunalverwaltungen wohl nur schwer möglich gewesen.
Ebenso wenig kann belegt werden, dass sich die HDP in den letzten Jahren radikalisiert und dies die Einreichung der Klage 2021 ausgelöst hätte. Vielmehr steht das Vorgehen der Justiz in Zusammenhang mit politischen und verfassungsrechtlichen Veränderungen nach 2017.
Denn heute spielt die HDP eine signifikante Rolle für die Erfolgsaussichten der Parteien-Allianz, die sich gegen die regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) und ihren Partner MHP gebildet hat. Die HDP betreibt anders als zuvor eine auf Frieden und Versöhnung orientierte Politik und erhöht gerade damit den Druck auf die Regierung. Ohne die Stimmen der HDP für die Kandidaten der Republikanischen Volkspartei (CHP), der wichtigsten Oppositionspartei, hätte das Oppositionsbündnis bei den letzten Kommunalwahlen (2019) nicht die Rathäuser der größten Städte des Landes erobern können, darunter Istanbul und Ankara. Die AKP verliert kontinuierlich an Rückhalt in der Bevölkerung, und das Risiko für den Präsidenten, bei der nächsten Wahl die Macht zu verlieren, steigt. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass die Wahlen vorgezogen werden, wenn Erdoğan die wirtschaftlichen Bedingungen dafür reif scheinen. Doch auch um vorgezogene Wahlen zu gewinnen, muss die HDP aus dem Spiel genommen werden. Würde sie verboten, bliebe ihren Anhängern wohl keine Zeit, eine neue Partei zu gründen und sich an der Wahl zu beteiligen. Der Ausschluss von 687 HDP-Politikern wäre ein dramatischer Schlag für die politische Strömung, die die HDP verkörpert.
Allerdings könnte einer Nachfolgepartei der HDP, selbst wenn sie schnell gegründet würde, noch immer die Teilnahme an der Wahl verwehrt werden, oder sie könnte an der für den Einzug ins Parlament notwendigen landesweiten Zehn-Prozent-Hürde scheitern. Ihre Wähler wären somit nicht im Parlament repräsentiert. Da die restlichen Parteien in den mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebieten keinen Rückhalt haben, würden in diesem Fall die betreffenden Sitze zum allergrößten Teil der AKP zufallen. Dies bedeutete einen Zuwachs von 50 bis 70 Sitzen, was Erdoğans Partei abermals zur absoluten Mehrheit im Parlament verhelfen könnte.
Die Hoffnung darauf, dass strittige Fragen im Zusammenhang mit der Organisation der Wahl, wie etwa die Zulassung von Parteien, objektiv entschieden würden, ist wenig realistisch. Denn der Hohe Wahlrat, der für die Durchführung von Wahlen zuständig ist, wurde nach den Kommunalwahlen von 2019 überwiegend neu zusammengesetzt – im Sinne Erdoğans. Die neu ernannten Mitglieder des Gremiums kamen ausschließlich aus dem Kassationsgericht und dem Staatsrat. Alle Richter dieser beiden hohen Gerichte waren zehn Tage nach dem Putschversuch über das Gesetz Nr. 6723 (§§ 12 und 22) ihrer Ämter enthoben worden, die Neuernennungen erfolgten nach Erdoğans Vorstellungen.
Die Auswirkungen des gescheiterten Putschversuchs auf die Justiz
Dass die Justiz so willig und so schnell den Forderungen des MHP-Vorsitzenden entsprach und den Verbotsantrag gegen die HDP nur drei Monate später eingebracht hat, ist Folge der Neuordnung der türkischen Justiz nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des Militärs im Juli 2016. Präsident Erdoğan sollte den auf seinen Sturz gerichteten Coup d’État nur wenig später als ein »Geschenk des Himmels« bezeichnen. Obgleich der Aufstand niedergeschlagen wurde, sich sowohl die Militärführung als auch die Polizei geschlossen hinter die Regierung stellten und ausnahmslos alle politischen Parteien den Umsturzversuch verurteilten, wurde der Ausnahmezustand verhängt. In den Wochen darauf wurden zahlreiche »Verordnungen mit Gesetzeskraft« erlassen, die dem Staatspräsidenten ermöglichten, den Aufbau der Verwaltung tiefgreifend zu ändern, Institutionen zu säubern und die Justiz zu beeinflussen. Das Verfassungsgericht erklärte sich selbst für nicht zuständig, diese Verordnungen verfassungsrechtlich zu prüfen, wodurch der Präsident Regelungen durchsetzen konnte, die sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinn von Verfassungsvorschriften widersprechen.
Der nächste Schritt zur Konsolidierung der Macht des Staatspräsidenten bestand darin, eine Verfassungsänderung vorzubereiten, durch die ein »Präsidialsystem türkischer Art« eingeführt werden konnte. Der Entwurf der Verfassungsänderung wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit und selbst der Parlamentsfraktionen von AKP und MHP ausgearbeitet und in kürzester Zeit durchs Parlament gepeitscht. Die notwendige Volksabstimmung fand unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes statt. Kritischen Stimmen wurde der Zugang zur Öffentlichkeit drastisch erschwert, Kundgebungen gegen die Verfassungsänderung waren verboten. Trotzdem hat der Entwurf beim Referendum über die Verfassungsänderung nur eine denkbar knappe Mehrheit erhalten.
Im neuen System ist Erdoğan nicht länger nur Staatspräsident, sondern erneut auch Vorsitzender einer AKP, in der von innerparteilicher Demokratie längst nicht mehr die Rede sein kann. Infolgedessen unterliegt das Handeln des mit exekutiver Macht ausgestatteten Präsidenten praktisch keiner parlamentarischen Kontrolle mehr. Überdies kann Erdoğan fortan die Zusammensetzung des Rates der Richter und Staatsanwälte weitgehend bestimmen und auf diesem Weg Einfluss nehmen auf die Besetzung des Kassationsgerichtshofs, des Staatsrates und des Hohen Wahlrates. Zukünftig ernennt der Präsident 12 von 15 Mitgliedern des Verfassungsgerichts direkt und die übrigen 3 indirekt darüber, dass seine Partei die vom Parlament mit einfacher Mehrheit zu wählenden Richter bestimmt. Die Venedig-Kommission des Europarates sieht in diesen Änderungen den »Übergang zu einem personalen und autoritären Regime« und forderte die Türkei auf, sie nicht in Kraft zu setzen bzw. unverzüglich zurückzunehmen. Diese Aufforderung fand jedoch kein Gehör.
Heute verdanken bereits 8 der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts ihre Ernennung Präsident Erdoğan. 5 Mitglieder hat sein Vorgänger Abdullah Gül ernannt, 2 hat 2010 das damals noch demokratisch agierende Parlament gewählt. Die alte kemalistische Elite hat keinen Repräsentanten mehr am Gericht. Betrachtet man die gegenwärtig amtierenden Richter des Verfassungsgerichts, besteht der einzige Unterschied zwischen konservativen Männern, die teilweise liberale Positionen vertreten, und solchen, die offen als illiberal bezeichnet werden können. Damit hat sich die früher existierende Vorherrschaft der kemalistischen Elite am Verfassungsgericht, die noch 2009 von der Venedig-Kommission kritisiert worden war, in ihr Gegenteil verkehrt. Die letzten vier Ernennungen, die die Machtbalance zugunsten Erdoğans verändert haben, sind in den letzten zwei Jahren erfolgt. Auch den amtierenden Generalstaatsanwalt, der jetzt die Klage auf das Verbot der HDP vorgelegt hat, hat Erdoğan vergangenes Jahr ernannt.
Es ist deshalb wenig wahrscheinlich, dass das Gericht die Klage abweist und sich damit dem offen geäußerten Wunsch des Präsidenten und seines extrem nationalistischen, inoffiziellen Koalitionspartners MHP entgegenstellt. Die einzige Unsicherheit hinsichtlich des Verbotsverfahrens besteht darin, dass zwei Drittel der Richter für ein Verbot optieren müssen; das sind mehr als die acht eher neutralen Richter im Vergleich zu den sieben, die relativ eindeutig als »pro Erdoğan« einzuschätzen sind.
Die juristische Qualität des Verbotsantrags
Die Tatsache, dass nicht verfassungsrechtliche, sondern parteipolitische Erwägungen das Verbotsverfahren ins Rollen gebracht haben, ändert nichts daran, dass der Vorgang selbst verfahrenstechnischen und materiellen Normen entsprechend ablaufen muss. In diesem, dem juristischen Kontext ist die Frage entscheidend, ob die Klage überhaupt zulässig ist. So muss die Anklageschrift unabdingbare strafprozessuale Kriterien erfüllen. Sie muss vage Formulierungen und nicht spezifizierte Anschuldigungen vermeiden und kann nur solche Anschuldigungen vorbringen, die bestimmten Personen und der Partei zweifelsfrei zugeordnet werden können. Nicht zuletzt muss die Generalstaatsanwaltschaft die für eine gerechte und ausbalancierte Abwicklung der Sache notwendigen belastenden und entlastenden Beweise anführen. Enthält die Anklageschrift in diesen Punkten Defizite, muss das Gericht sie an den Generalstaatsanwalt zurückverweisen.
Die materiellen Voraussetzungen für ein Parteiverbot sind in der Verfassung geregelt. Zum Beispiel können Parteien verboten werden, deren Satzung und Programm gegen die Verfassung verstoßen. Doch ein Verbot erfolgt nur dann, wenn das Verfassungsgericht feststellt, dass sich die Partei zum Brennpunkt solcher Aktivitäten entwickelt hat. Das wird angenommen, wenn Parteimitglieder in großem Umfang verfassungswidrig handeln, zentrale Parteiorgane dies stillschweigend oder ausdrücklich billigen oder Parteiorgane selbst derartige Handlungen bewusst ausüben. Das Gericht kann je nach Schwere der Verstöße ein Verbot aussprechen oder davon absehen; im zweiten Fall kann es anordnen, die Unterstützung im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung teilweise oder vollständig zu versagen. Dies wurde bisher nur beim Verbotsverfahren gegen die AKP im Juli 2008 angewendet.
Funktionären darf nur im Falle eines Parteiverbots untersagt werden, sich politisch zu betätigen. Für jegliche Sanktionen zulasten der Partei ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Richter erforderlich. Seit dem Verbot der HADEP (einer Vorgänger-Partei der HDP) im Jahr 2003 berücksichtigt das Verfassungsgericht zusätzlich, wie die jeweilige Partei zur Anwendung von Gewalt steht bzw. ob sie Gewalt gutheißt.
Betrachtet man die Klageschrift gegen die HDP anhand dieser Kriterien, kommt man zu folgendem Ergebnis:
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Ganz wie in kemalistischen Zeiten beginnt die Anklage mit einem Verweis auf die ethnozentrische Ausrichtung der Verfassung, wie sie in der Präambel formuliert ist, wonach »keinerlei Aktivität verfassungsrechtlichen Schutz genießt, die gegen die türkischen nationalen Interessen, die türkische Existenz, den Grundsatz der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk, die geschichtlichen und ideellen Werte des Türkentums, den Nationalismus, die Prinzipien und die Reformen Atatürks sowie die von Atatürk vorgesehene Zivilisation gerichtet ist«.
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Die Anklageschrift behauptet, die HDP sei zum Brennpunkt von Handlungen geworden, die der »unteilbaren Einheit des Staates mit seinem Land und seiner Nation« zuwiderlaufen. Doch hat die HDP weder die territoriale Integrität des Landes in Frage gestellt noch sich offen für Föderalismus eingesetzt.
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Der Großteil der angeführten Beweise besteht aus Handlungen, deren Ablauf nicht ausreichend dokumentiert ist, und aus Äußerungen, deren Inhalt und Intention nicht zweifelsfrei geklärt sind. Daher steht noch gar nicht fest, ob diese den Vorwürfen zugrunde liegenden Akte tatsächlich begangen worden sind und / oder ob sie einem Parteimitglied zugeschrieben werden können.
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Bei der überwiegenden Mehrheit dieser Akte handelt es sich um Äußerungen, die der Staatsanwalt als »terroristische Propaganda« einstuft. Ein kleinerer Teil wird als Beleg für die »Mitgliedschaft von Politikern [der HDP] in einer kriminellen Vereinigung« gewertet, ein noch geringerer Teil als »Handlungen gegen die Existenz und Integrität des Staates« verstanden. Es geht dabei jedoch in aller Regel um verbale Äußerungen, die die Politik des Staates und / oder der AKP-Regierung kritisieren.
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Der Vorwurf der »Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung« unterstellt eine Mitgliedschaft von HDP-Politikern im Kongress der Demokratischen Gesellschaft (DTK). Die Organisation ist zwar mit vielen politischen Verfahren überzogen worden, sie wurde bislang aber nicht verboten und ist deshalb nach wie vor als legale Vereinigung anzusehen.
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Ein weiterer Vorwurf lautet auf »Teilnahme an unerlaubten Demonstrationen«, doch sind Demonstrationen der Verfassung zufolge überhaupt nicht genehmigungspflichtig.
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Die meisten der als verfassungsfeindlich eingestuften Aussagen fallen in die Zeit der Friedensverhandlungen der türkischen Regierung mit der PKK (2013–2015). Zu jener Zeit haben der heutige Staatspräsident und ihm nahestehende Politiker ganz ähnliche Stellungnahmen abgegeben.
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Einen zentralen Platz in der Anklageschrift nehmen Äußerungen führender Politiker der HDP ein, zum Beispiel diejenigen ihres ehemaligen Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und ihres ehemaligen Abgeordneten Sırrı Süreyya Önder. Im einen Fall wurde kritisiert, dass die türkische Regierung während der Belagerung der syrisch-kurdischen Stadt Kobani durch den »Islamischen Staat« 2014 untätig war und dass dies gewalttätige Demonstrationen ausgelöst hatte. Im anderen Fall geht es um Stellungnahmen, die 2015 während der Grabenkämpfe in den von der HDP regierten Städten formuliert worden sind. All dies war indes bereits Gegenstand individueller Strafverfahren gegen die genannten Politiker, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Türkei aufgefordert, die diesbezüglichen Urteile zu revidieren.
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In der Klageschrift aufgeführte Handlungen einzelner Parteimitglieder wie die Beteiligung an Waffenlieferungen oder an der Rekrutierung von Kämpfern für die PKK sind – sofern nachgewiesen – für ein Parteiverbot unbestreitbar relevant. Allerdings ist, einerseits, ihre Zahl sehr begrenzt, weshalb es zweifelhaft ist, ob solche Handlungen ausreichen, die Partei zum Brennpunkt verfassungsfeindlicher Aktivitäten zu machen. Andererseits ist fraglich, ob diese Handlungen der Partei als ganzer zugerechnet werden können, denn die Parteiführung hat sich stets von derartigen Aktionen distanziert.
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Dasselbe gilt für die Beschäftigung von Personen, die zuvor aufgrund von Terrorstraftaten verurteilt worden waren, in HDP-regierten Kommunen sowie für die Nutzung kommunaler Gerätschaften wie Baumaschinen und Bagger, die verwendet wurden, um Schützengräben für PKK-Kämpfer während der genannten Grabenkämpfe auszuheben.
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Die Klageschrift konzentriert sich primär darauf nachzuweisen, dass die PKK eine terroristische, sich der Gewalt bedienende Organisation ist. Dies ist jedoch die seit Jahrzehnten fest etablierte und institutionalisierte Einstufung der Organisation nicht nur in der Türkei, sondern auch in Europa. Der Knackpunkt liegt im Nachweis einer direkten Verbindung zwischen der HDP und der PKK. Hier beschränkt sich, was als Beweis vorgelegt wird, in der Regel auf reine Annahmen, fragwürdige Konstruktionen, vage Formulierungen. Oft sollen wiederholt vorgetragene Werturteile handfeste Beweise ersetzen. So gilt etwa eine annähernde Simultanität von Aktionen und Erklärungen der PKK auf der einen Seite und Aktionen und Stellungnahmen der HDP auf der anderen Seite als Beweis einer solchen Verbindung, ohne dass dies im Einzelnen belegt würde.
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Als Beweis wird oft auch eine Parallelität zwischen den politischen Positionen der HDP und der PKK gewertet. Ein Beispiel: Die Tatsache, dass sowohl die PKK als auch die HDP fordern, kurdische Kinder seien in ihrer Muttersprache zu unterrichten, wird als Beweis für eine organische Verbindung zwischen den beiden Organisationen angeführt. Jeder, der diese Forderung erhebt, mache sich der Unterstützung von Terroristen schuldig oder sei gar selbst Terrorist.
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Schließlich versäumt die Klageschrift, für die Partei entlastende Sachverhalte zu benennen und zu berücksichtigen, und kommt damit einem zentralen Erfordernis für den Antrag auf ein Parteiverbot nicht nach.
Aus diesen Gründen ist nicht verwunderlich, dass sofort nach Bekanntwerden der Klageschrift Zweifel daran geäußert worden sind, ob die Klage in dieser Form zulässig ist. Die Klageschrift vermittelt den Eindruck, in großer Eile, ja überstürzt formuliert worden zu sein – ein weiterer Hinweis darauf, dass das Verfahren nicht aufgrund juristischer Erwägungen, sondern auf Geheiß der Politik initiiert worden ist, weshalb die Klageschrift zurückgewiesen wurde.
Eine lange Tradition von Parteiverboten in der Türkei
Um den aktuellen Verbotsantrag einordnen zu können, lohnt ein Blick auf den verfassungsrechtlichen Hintergrund: In der Türkei hatten politische Parteien bis 1961 den Status von Vereinen. Deshalb konnten sie auf Antrag der Exekutive von den Zivilgerichten verboten werden. Erst mit der Verfassung von 1961 erhielten die Parteien Verfassungsrang und wurden als unverzichtbare Bestandteile des demokratischen politischen Lebens definiert. Von da an konnten sie nur auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft per Urteil des Verfassungsgerichts verboten werden. Die Exekutive spielt seither offiziell in Parteiverbotsverfahren keine Rolle mehr. Dieses Arrangement wurde im Wesentlichen in der Verfassung von 1982 beibehalten.
Der Verfassungsrang der Parteien und das von der Exekutive getrennte Prozedere für ein Parteiverbot vermittelten auf den ersten Blick das Gefühl, dass die politischen Parteien der Türkei sich frei betätigen können. Doch der Schein trügt; seit der Gründung des Verfassungsgerichts 1961 sind in der Türkei bis heute 25 Parteien verboten worden, mehr als in allen anderen Staaten, die Mitglied des Europarates sind.
In demokratischen Ländern können politische Parteien nur aufgrund von Handlungen verboten werden, die aktiv gegen die Verfassungsordnung gerichtet sind oder die territoriale Integrität des Staates bedrohen. Die bloße Unvereinbarkeit ihrer Satzung oder ihres Programms mit der Verfassung reichen dafür nicht aus. Nach der Rechtsprechung des EGMR, aber auch nach den Empfehlungen der Venedig-Kommission braucht es für ein Parteiverbotsverfahren die Feststellung, dass die Partei zur Erreichung ihrer Ziele Gewalt als Mittel der Politik benutzt oder den Einsatz von Gewalt zumindest als legitim erachtet. Parteien können ferner dann nicht mit einer Intervention des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ihrem Schutz rechnen, wenn sie eine politische Ordnung anstreben, die zu einer demokratischen Verfasstheit, wie sie die Europäische Menschenrechtskonvention vorsieht, in grundsätzlichem Widerspruch steht. Denn »Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte« sind die drei Säulen der gemeinsamen europäischen politischen Ordnung.
Die Rechtsprechung des EGMR zum Verbot politischer Parteien hat sich maßgeblich an Fällen aus der Türkei entwickelt, die dem Gericht nach 1990 vorgelegt worden sind, das heißt ab dem Zeitpunkt, als die Türkei seine obligatorische Zuständigkeit anerkannt hat. Bislang wurden in diesem Rahmen sieben Beschwerden vom EGMR geprüft. Mit der Ausnahme des Falles der islamistischen Wohlfahrtspartei (RP) wurde in allen Fällen ein Verstoß des türkischen Verfassungsgerichts gegen die Konvention festgestellt.
In der Türkei wurden politische Parteien hauptsächlich wegen Separatismus und Verstoßes gegen den Laizismus verboten, hinzu kommen einige Fälle, in denen das Verbot aus rein formalen Gründen ausgesprochen worden ist (siehe blauen Kasten, S. 7). Bei all diesen Verboten wurde grundsätzlich nicht geprüft, ob die angeklagte Partei Gewalt und Terror als Methode und Instrument legitimiert bzw. angewendet hatte.
Die türkische Verfassung kennt jedoch noch mehr Gründe für ein Verbot politischer Parteien als nur Separatismus und Verstoß gegen den Laizismus, nämlich Verstöße gegen die Prinzipien der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit sowie Propaganda für die Errichtung einer Diktatur (Art. 68/4). Bislang wurde kein einziger Antrag auf das Verbot einer politischen Partei mit Hinweis auf solche Gründe gerechtfertigt, obwohl die genannten Prinzipien zu den unveränderlichen Eigenschaften der Republik gehören und in der Verfassung durch sogenannte Ewigkeitsklauseln geschützt sind. Dass bisher aus besagten Gründen kein Verbotsantrag gestellt worden ist, heißt indes nicht, dass diese Prinzipien nicht in Gefahr wären. Der politische Streit verläuft aber eben nicht primär entlang dieser Linien als Auseinandersetzung über mehr oder weniger Demokratie, Achtung der Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit. In der Regel fand (und findet) der politische Kampf auf den Achsen Laizismus und Separatismus statt.
Dabei erfolgten die Verbote der Parteien, die des Separatismus beschuldigt wurden, in der Regel per einstimmigem Votum des Verfassungsgerichts. Beim Verbot islamistischer Parteien gelangten die Richter am Verfassungsgericht dagegen in der Regel höchstens zu einer Mehrheit von 9 von 11 Stimmen. Dies zeigt, dass hinsichtlich der Ablehnung kurdischer Forderungen nach Minderheitenrechten – was als Separatismus gewertet wird – großer gesellschaftlicher Konsens besteht, während bezüglich der Rolle der Religion in Gesellschaft und Politik – Streit um den Laizismus – Uneinigkeit herrscht.
Parteiverbote als Mittel im politischen Kampf
Auf verfassungsrechtlicher Ebene wurden Parteiverbote 2001 im Rahmen der Vorbereitung zu den EU-Beitrittsverhandlungen erschwert. Der Umfang der Verbotsgründe wurde eingegrenzt und das Quorum für ein Verbot auf drei Fünftel der Richter heraufgesetzt. Nur aufgrund dieser Änderungen entging die AKP 2008 einem Verbot, obgleich das Gericht sie zum »Brennpunkt antilaizistischer Aktivitäten« erklärte. Mit der Änderung der Verfassung 2010 wurde das Quorum für Parteiverbote weiter erhöht auf zwei Drittel, das entspricht 10 von 15 der anwesenden Richter.
Die Verfassungsänderung von 2010 hat der früher bestehenden Vormundschaft des Militärs über die zivile Politik ein Ende gesetzt und auf verfassungsrechtlicher – nicht gesellschaftlicher – Ebene das Spannungsverhältnis zwischen Religion und Staat beseitigt. Doch die Erwartung, dass damit eine demokratische Verfassungsordnung etabliert und ein Ende der Parteiverbote eingeläutet würde, hat sich nicht erfüllt.
Das liegt primär daran, dass sich das Regierungslager angesichts rapide zurückgehender gesellschaftlicher Unterstützung aufs Neue dieses politischen Mittels bedienen will, um seine Macht zu erhalten. Die Demonstrationen für den Istanbuler Gezi-Park, die sich 2013 zu landesweiten Protesten entwickelten, und anschließend die von Kadern um den Prediger Fethullah Gülen gesteuerten Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Ende 2013 haben offenbart, wie fragil die Regierung des heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan bereits zu jener Zeit war. Bei der Parlamentswahl vom 7. Juni 2015 verlor die AKP dann zum ersten Mal seit ihrem Regierungsantritt 2002 die absolute Mehrheit im Parlament, die sie 13 Jahre lang besessen hatte.
Um die Macht nicht teilen zu müssen, entschied sich Erdoğan damals gegen eine Koalition mit der Republikanischen Volkspartei (CHP), die zu mehr Demokratisierung und einer Normalisierung hätte führen können. Stattdessen ging er ein inoffizielles Bündnis mit der extrem rechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ein. In der Folge wurden die Friedensverhandlungen mit der illegalen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für gescheitert erklärt, das Parlament aufgelöst und eine Wiederholung der Wahl angeordnet. Das Regierungslager stufte die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), die in den Verhandlungen der Regierung mit der PKK eine Vermittlerrolle eingenommen hatte, nun als Handlanger der terroristischen PKK ein, ihre Politiker als Terroristen. Die aktuelle Klage auf ein Verbot der HDP kam deshalb nicht überraschend.
Besonders kurdische Wähler können den Verbotsantrag schwerlich als legitim betrachten. Sie müssen ihn so verstehen, dass die von ihnen gewählten Vertreter selbst dann kriminalisiert werden, wenn sie nicht auf Gewalt zurückgreifen und sich für die Demokratie einsetzen. Daher ist die Gefahr groß, dass das Zugehörigkeitsgefühl der Kurden zur Türkei weiter abnimmt und sich Teile von ihnen erneut radikalisieren, was die Demokratisierung der Türkei in noch weitere Ferne rückt.
Prof. Dr. Osman Can war 2019 Kurzzeit-Fellow im Rahmen des IPC-Stiftung Mercator Fellowship Programms an der SWP.
Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.
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doi: 10.18449/2021A44