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Grenzen der Einigung in Libyen

Die Bildung der Einheitsregierung verbirgt alte und neue Gräben

SWP-Aktuell 2021/A 34, 20.04.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A34

Forschungsgebiete

Mit der Bildung einer Einheitsregierung unter Abdelhamid Dabeiba gelang im März 2021 ein Durchbruch in den Bemühungen, die politische Spal­tung Libyens zu über­winden. Doch die Kehrseite der Übereinkunft zeichnet sich bereits ab. Bislang haben sich die politischen Akteure lediglich darauf geeinigt, innerhalb der Regierung um den Zugang zu staatlichen Mitteln zu konkurrieren. Die Verteilungskämpfe könn­ten schnell zur Zerreißprobe werden. Derweil harren zahl­reiche substantielle Streitpunkte ihrer Bearbeitung. So versucht die Regierung die Herausforderungen im Sicherheitssektor zu ignorieren. Spannungen zwischen Pro­fiteuren und Gegnern der Regie­rung drohen eine neue politische Krise zu verursachen, falls Fortschritte hin zu den für Dezember 2021 geplanten Wahlen ausbleiben. Aber auch die Wahlen selbst bergen beträchtliches Konfliktpotential.

Im Februar 2021 zeitigten die Vermittlungs­bemühungen der Vereinten Nationen (VN) einen unerwarteten Erfolg, als das von ihnen einberufene Libysche Politische Dialog­forum (LPDF) einen dreiköpfigen Präsidialrat sowie einen Premierminister wählte. Noch erstaunlicher war, dass Premiermini­ster Dabeiba am 10. März die Zustimmung des 2014 gewählten Abgeordnetenhauses für seine Regierung erhielt. Damit hat Liby­en erstmals seit August 2014 wieder eine ein­heitliche Regierung. Diese soll laut LPDF-Fahrplan bis zu Wahlen am 24. Dezember 2021 amtieren, für die jedoch bisher die rechtliche Grundlage fehlt.

Unverhofft war dieser Durchbruch nicht nur angesichts der politischen Spaltung des Landes, die sich in den letzten Jah­ren immer mehr verfestigt hat, und in Anbetracht des erbittert geführten Bürgerkriegs, der von April 2019 bis Juni 2020 um die Hauptstadt Tripolis tobte. Die Bildung der Einheits­regierung überraschte auch deswegen, weil sich die eigentlichen Konfliktparteien – anders als die politischen Vertreter im LPDF – bisher kaum angenähert haben. Die be­waffneten Gruppen, die im letz­ten Bürger­krieg für die beiden verfeindeten Lager kämpften, ord­nen sich weiterhin unterschiedlichen mili­tärischen Kommandostrukturen zu und beher­bergen zu ihrer Unterstützung ausländische Militärs und Söldner im Land.

Überdies wäre zu erwarten gewesen, dass Russland, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) die Bildung einer Ein­heitsregierung verhindern, da diese aus­ländische Truppen oder Söldner des Landes hätte verweisen können. Zu solchen Tor­pedierungsversuchen von außen kam es jedoch nicht. Vor allem Ägypten und die Türkei unter­stütz­ten den Prozess sogar, ob­wohl sie in Libyen jahrelang auf entgegen­gesetzten Seiten gestanden hatten.

Den Rahmen der Verhandlungen bildete der Berliner Prozess, den Deutschland und die VN im Herbst 2019 lancierten, um eine Annäherung zwischen den in Libyen invol­vierten Staaten herbeizuführen. Dass die Vermittlungsbemühungen an Fahrt gewin­nen konnten, lag aber nicht am Berliner Prozess. Grundlegend waren vielmehr zwei Faktoren: Erstens schuf die massive tür­ki­sche Intervention zugunsten der Regie­rung in Tripolis im Frühjahr 2020 ein militärisches Kräftegleichgewicht – in offener Miss­achtung der Berliner Erklärung vom Januar 2020. Die Intervention beendete den Krieg in Tripolis und damit die Hoffnungen des Milizenführers Khalifa Haftar auf einen militärischen Sieg. Der unter VN-Ägide aus­gehandelte Waffenstillstand vom Oktober 2020 formalisierte lediglich die Pattsitua­tion im Zentrum des Landes. Zweitens schnit­ten sich die beiden gegnerischen Lager seit An­fang 2020 gegenseitig den Zugang zu den Erdöleinnahmen ab und brachten sich da­mit in eine immer schwierigere finanzielle Lage. Russische Ver­suche im Sommer 2020, ein Arrangement zur Wiederaufnahme der Erdölproduktion auszuhandeln, bewegten die USA dazu, in dieser Frage selbst zu ver­mitteln. Seither bestand für Libyens Politi­ker der wichtigste Anreiz zur Bildung einer Einheitsregierung darin, dass nur diese den Zugang zu den Einkünften aus der Öl­förde­rung wieder eröffnen konnte.

Die Logik der Einigung

Der Prozess, der zur Bildung der Einheits­regierung führte, war selektiv hinsichtlich der Akteure, die in ihn einbezogen waren, und der Fragen, über die sie verhandelten. Dies erleichterte die Einigung, schmälert aber die Erfolgsaussichten der Regierung.

Das im November 2020 einberufene LPDF ist eines von drei Verhandlungsforen der VN für die Konfliktbeilegung in Libyen. Die zwei anderen sind der Libysche Wirt­schaftsdialog und die Gemeinsame Militär­kommission. Diese unterzeichnete im Oktober 2020 den Waf­fenstillstand und ist für dessen Umsetzung verantwortlich. Sie soll aber auch die Vereinigung der militäri­schen Kommandostrukturen aushandeln.

Die Ernennung des Präsidialrats und Premierministers durch das LPDF und die an­schließende Regierungsbildung in Ver­handlungen mit dem Abgeordnetenhaus brachte politische Akteure zusammen, die oft nur schwache Verbindungen zu den eigent­lichen Konfliktakteuren besitzen. Etwa die Hälfte der 75 LPDF-Teilnehmer, die von den VN ausgewählt wurden, sind Abgeordnete der beiden konkurrierenden Parlamente, also des Ab­geordnetenhauses und des Hohen Staats­rats. Da diese in den letzten Jahren vor allem für politische Obstruktion und die Verteidigung ihrer Privilegien standen, hat die Bevölkerung ihrer Wahlkreise längst aufgehört, sie als Vertreter ihrer Belange zu betrachten. Ägypten, das über den Präsiden­ten des Abgeordnetenhauses Agila Saleh großen Einfluss ausübt, stellte sicher, dass zahl­reiche Anhänger Salehs am LPDF teilnehmen und die LPDF-Beschlüsse vom Ab­geordnetenhaus abgesegnet werden müssen. Hinzu kommen im LPDF Vertreter einzel­ner Politiker, in weitaus geringerem Maße auch solche militärischer Akteure, so­wie Repräsentanten der Zivilgesellschaft.

Die Verbände Haftars und die bewaffneten Gruppen Westlibyens dagegen sind im LPDF schwach vertreten. Auch für die An­liegen der Konfliktopfer – der Binnenvertriebenen, Kriegsversehrten und Angehörigen der Todesopfer – machen sich nur wenige Delegierte stark. Für die meisten hatte die Teilhabe an der Regierungsbildung Vorrang.

Eine noch stärkere Rolle spielten die Par­lamentarier bei der Bildung des Kabi­netts. Die Zustimmung des Abgeordnetenhauses zur Einheitsregierung war eine entscheidende Voraussetzung dafür, die politi­sche Spaltung formell zu überwinden. Um dieses Plazet zu bekommen, erlaubte Premier­minister Dabeiba es kleinen Gruppen von Parlamentariern oder sogar einzelnen Abgeordneten, künftige Minister zu benen­nen. Bei den Verhandlungen forderten viele Abgeordnete offen, ihre Städte, Stämme oder Regionen sollten ihren gerechten An­teil an der Regierung bekommen. Dabeiba unterwarf sich diesen Forderungen völlig und bekam so eine Regie­rung von 35 Mini­stern. Sie wurden auf der Basis von Klientel­beziehungen ausgewählt und haben kaum gemeinsame Inter­essen. Meist stammen sie aus den Reihen des aufgeblähten Verwaltungsapparats und öffentlichen Sektors und haben teilweise schon unter Gaddafi Ämter bekleidet. Einige der neuen Minister waren bereits wegen Amtsmissbrauchs, Veruntreu­ung von Geldern oder anderer Vergehen gemaßregelt oder in Gerichtsverfahren be­langt worden.

Die Einigung beruht also nicht auf der Bildung einer Koalition zwischen klar iden­tifizierbaren politischen Blöcken. Diese sind in Libyen ohnehin schwach ausgeprägt. Organisierte politische Kräfte gingen bei der Regierungsbildung weitgehend leer aus, so etwa Haftars Machtstruktur im Osten oder die mit der Muslimbruderschaft assoziierte Partei für Gerechtigkeit und Aufbau. Statt­dessen besteht die Regierung aus einzelnen Vertretern dutzender unter­schiedlicher Klientelnetzwerke.

Bislang beschränkt sich die Einigung darauf, dass diese Netzwerke inner­halb der Einheitsregierung um den Zugang zu staat­lichen Mitteln konkurrieren. Wie diese genau verteilt werden, muss jedoch weit­gehend noch ausgehandelt werden, denn Ministe­rposten sind dabei nur ein Aspekt. Zahl­reiche weitere Ämter müssen oder können neu besetzt werden, Budgets sind aufzuteilen. Noch benötigt Dabeiba für den Etat die Zustimmung der Abgeordneten. Im Gegenzug versuchen diese, auch die stell­vertretenden Minister zu benennen. Sobald das Budget beschlossen ist, wird sich inner­halb der Regierung ein Wettstreit um die Kontrolle über die Mittel entwickeln. Dar­über hinaus ver­suchen Vertreter der beiden Par­lamente, sich auf die Neubesetzung hoher Ämter wie das des Zentralbank­gouverneurs oder des Generalstaatsanwalts zu verständigen. Auch diese Ämter sollen auf der Basis des regio­nalen Proporzes ver­teilt werden. Die Ge­win­ner und Verlierer des neuen poli­tischen Arrangements müssen also groß­teils noch bestimmt werden. Daher werden sich auch erst nach und nach die Gegner der Einheitsregierung organisieren. Bereits jetzt regt sich Unmut unter den vie­len politischen und militärischen Akteuren, denen Dabeiba Posten versprochen hat, bislang ohne seine Versprechen zu halten.

Die unausgesprochene Logik des Proporzes auf der Grundlage regionaler oder loka­ler Zugehörigkeit hatte schon vorangegangene Regierungen geprägt. Im gegenwärtigen Prozess wurde sie jedoch offen zum Prinzip erhoben. Sie spiegelt sich auch in der Zusammensetzung des dreiköpfigen Präsidialrats wider, dessen Mitglieder den Westen, Osten und Süden Libyens repräsentieren. Die unverhohlenen Forderungen nach einem proportionalen Anteil an Regie­rungsämtern zielen darauf ab, Zugriff auf staatliche Mittel zu bekommen. Sie beruhen auf dem stillschweigenden Einverständnis der poli­tischen Akteure, dass diese Mittel dem Aufbau von Patronagenetzwerken oder schlicht der Unterschlagung dienen. Diese Logik hat die Bildung der Einheitsregierung klar dominiert. Grund ist vor allem, dass seit Einberufung des LPDF die Aussicht auf staatliche Gelder die bei weitem wichtigste Triebkraft des politischen Pro­zesses war.

Bleibende militärische Realitäten

Um den Zugang zu staat­lichen Mitteln neu auszuhandeln, wurden Kern­fragen des Konflikts ausgespart und wich­tige Akteure umgangen. Zu den ausgeblendeten Haupt­themen gehören die Fortexistenz gegnerischer militärischer Verbände sowie die Anliegen der sozialen Gruppen, aus denen sich die Konfliktpartei­en rekrutieren, etwa die Auf­arbeitung von Kriegsverbrechen.

Die bewaffneten Gruppen der beiden geg­nerischen Lager des letzten Krieges waren in den politischen Prozess nur am Rande einbezogen. Haftar beugte sich diesem Prozess, da er nach seiner Nieder­lage in Tripolis stark an ausländischer Unterstützung verloren hatte und ägyptischem Druck ausgesetzt war. Seine Gegner in West­libyen ließen die Regierungsbildung über ihre Köpfe hinweg geschehen, da sie nach dem Ende des Krieges wieder rivalisie­rende Fraktionen bildeten. Von einer Teil­habe an der Einigung und einer Unterordnung unter die Einheitsregierung sind beide Seiten jedoch weit entfernt.

Die Einheitsregierung hat es bislang ver­mieden, im Sicherheitssektor einen Füh­rungsanspruch zu erheben. Der Prä­si­dialrat ist laut LPDF-Beschluss befugt, die Militärführung neu zu beset­zen und damit die beiden konkurrierenden Kommandostrukturen zu vereinen. Bisher hat er das jedoch unter­lassen. Da das Abgeordnetenhaus die LPDF-Beschlüsse nicht offiziell angenommen hat, ist zudem unklar, ob dessen Präsi­dent Agila Saleh und Haftar die Kompetenz des Präsi­dialrats anerkennen. Dabeiba wie­der­um hat keinen Verteidigungsmini­ster ernannt, da kein Vorschlag zugleich die Akzeptanz Haftars und die seiner Wider­sacher gefunden hat. Dabeibas Innenmini­ster war zuvor stellver­tretender Innenmini­ster und steht wie die meisten seiner Vor­gänger für eine Politik, die es konkurrieren­den bewaffneten Grup­pen erlaubt, als Ein­heiten des Innen­ministeri­ums zu operieren und so an staat­liche Mittel zu gelangen. Dabeiba selbst hat um­fangreiche Kontakte zu bewaffneten Grup­pen in Tripolis, Misrata und Zawiya. Unter seiner Regierung genie­ßen sie bisher größe­ren Handlungsspielraum als unter dem damaligen Innenmini­ster Fathi Bashagha.

Zur Frage, wie die beiden gegnerischen militärischen Befehlsstrukturen in West und Ost einer einheitlichen Führung unter­stellt werden könnten, hat die Regierung bislang lediglich auf die Gemeinsame Mili­tärkommission verwiesen. Diese besteht aus je fünf Offizieren, die von Haftar bezie­hungsweise der Vorgängerregierung in Tri­polis eingesetzt worden waren. Die Militär­kommission hat sich bisher aber darauf beschränkt, die Details des Waffenstillstands und seiner Überwachung auszuarbeiten. Um die Armee erneut zu vereinen, fehlt ihr das nötige politische Gewicht. Die fünf von Tripolis eingesetzten Offiziere genießen wenig Vertrauen unter den bewaff­neten Gruppen, die die eigentlichen militärischen Kräfte Westlibyens ausmachen. Die fünf von Haftar ernannten Offi­ziere sollen die Existenz einer regulären Mili­tärhierarchie suggerieren, doch die tatsäch­liche Entschei­dungsgewalt liegt bei einem Zirkel enger Verwandter des War­lords.

Es besteht keine Chance, dass Haftar seine Verbände effektiv einer einheit­lichen Armeeführung unter­stellt. Ebenso aus­geschlossen ist, dass seine Gegner eine Führungsrolle für Haftar oder seine Söhne akzeptieren. Dafür sind die Kern­einheiten der Libysch-Arabischen Streitkräfte Haftars zu eng mit dessen Herrschaftsanspruch und der Selbstbereicherung seiner Vertrauten verknüpft. Solange Haftars Machtstruktur fortbesteht, ist allenfalls denkbar, dass eine solche Integration rein formell stattfindet, um ihm Zugang zu Geldern zu eröffnen. Diesen benötigt Haftar dringend, um seine Autorität zu sichern, denn seine finanziellen Schwierigkeiten wachsen, sein Ansehen ist seit der Nie­der­lage in Tripolis beschädigt und auf die Regie­rungsbildung hatte er nur wenig Einfluss. Mit Haftars Verbänden dauert jedoch auch die Bedrohung für seine Gegner in Westlibyen an, die deshalb lokale Milizen und türkischen Schutz als Sicherheitsgarantien benötigen.

Fortschritte in Richtung vereinter Kommandostrukturen, einer stärkeren Kontrolle über bewaffnete Verbände und der Zer­schlagung von Milizen sind von der Ein­heits­regierung nicht zu erwarten. Zum einen fehlt dafür die nötige Verzahnung zwischen politischem Prozess und bewaffneten Ak­teuren. Zum anderen geht die Regierung den Herausforderungen im Sicherheits­sektor aus dem Weg, da diese mit ihrem Ansatz kollidieren, politische Akteure lager­übergreifend durch die Verteilung staat­licher Gelder einzubinden. Und schließlich bildet Haftars Machtstruktur weiterhin das größte Hindernis für den Auf­bau nationaler Sicherheitsinstitutionen.

Auch wenn die Regierung versucht, die schwierigen Fragen im Sicherheitssektor zu ignorieren, wird sie sich bald mit den Reali­täten der militärischen Landschaft konfron­tiert sehen. In Tripolis üben bewaffnete Grup­pen großen Einfluss in staatlichen Insti­tutionen aus, was anderswo für Verbitterung sorgt und bereits 2018 zum offenen Kon­flikt in Tripolis führte. Die Milizen in Tri­polis drängen weiter darauf, ihre Vertre­ter in Führungspositionen des Staats­appa­rats zu placieren, und befinden sich dabei in einem scharfen Konkurrenzkampf. Im Osten und im Zentrum des Landes wird die Regierung nur mit Billigung Haftars agieren können. Regierungsvertreter müssen sich mit Haftars Verbänden arrangieren. Für diese entstehen daraus Möglichkeiten, sich Geld zu beschaf­fen und Posten zu beset­zen. Vor allem aber dürften die regel­mäßigen Gewaltakte durch bewaffnete Akteure bald zeigen, welch geringen Ein­fluss auch die neue Regierung auf Milizen hat, die nomi­nell als staatliche Sicherheitskräfte auftreten.

Die Wirtschaft als Chance?

Statt die Probleme im Sicherheitssektor anzusprechen, betont Dabeiba, er wolle die Wirtschaft ankurbeln und staatliche Basis­dienstleistungen wiederherstellen – allen voran die Stromversorgung sowie die Ver­fügbarkeit von Bargeld und Treibstoff. Da­mit greift er dringende Anliegen der Bevöl­kerung auf. Wirtschaft und Finanzsektor haben unter der jahrelangen Spal­tung der Institutionen schwer gelitten. Die öffent­liche Infrastruktur ist wegen ausbleibender Investitionen, Korruption und Zerstörung stark heruntergekommen. Inflation und der Niedergang öffentlicher Dienstleistungen haben weite Teile der Mittelschicht ver­armen lassen.

Doch die Konzentration auf wirtschaft­liche Aspekte entspricht auch politischen Kal­külen. Zum einen passt sie gut in die gegen­wärtige Tendenz innerhalb der politi­schen Klasse, die eigentlichen Streitfragen zu ignorieren, um sich auf die Neuverteilung von Pfründen zu einigen. Zum ande­ren kann sich Dabeiba erhoffen, aus einer schein­baren oder tatsächlichen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage politisches Kapital zu schlagen und sich so möglicherweise länger als vorgesehen an der Macht zu halten. Dafür spricht auch Dabei­bas frühe Entscheidung, die Gehälter im öffent­lichen Sektor um 20 Prozent zu erhöhen sowie eine Grundrente, Kin­der- und Ehe­frauengeld zu zahlen.

Auch Dabeibas Absicht, erstmals seit der politischen Spaltung wieder größere staat­liche Investitionen in die Infrastruktur zu tätigen, dürfte Hintergedanken verbergen. Erstens könnte Dabeiba mit der Vergabe von Aufträgen versuchen, das Wohlwollen ausländischer Regierungen zu gewinnen und so seine Macht zu sichern. Zweitens besteht die berechtigte Sorge, dass die mit Dabeiba verbundene Clique Großinvesti­tionen nutzen könnte, um durch Provisionen oder andere Methoden auf unlautere Weise Profite zu erzielen. Dabeiba ist näm­lich Ver­treter eines Netzwerks, das für genau solche Praktiken berüchtigt wurde.

Der jetzige Premierminister führte in den letzten Jahren des Gaddafi-Regimes das staatseigene Unternehmen Libyan Investment and Development Holding Company (LIDCO). Gemeinsam mit ausländischen Firmen setzte es die milliardenschweren Bauprojekte der Organisation for the Devel­opment of Administrative Centers (ODAC) um. Lei­ter dieser staatlichen Behörde war bis 2011 Ali Dabeiba, Vetter des gegenwärtigen Premiers und heute Verhandlungsteilnehmer im LPDF. Ali Dabeiba kam an der Spit­ze von ODAC zu einem immensen Vermö­gen, das sich einzig durch massive Korrup­tion erklären lässt und ihm in Liby­en und Großbritannien Verfahren wegen Ver­dachts auf Betrug eingebracht hat. Auch Abdelhamid Dabeibas ostentativer Reich­tum ist nicht mit der Leitung eines staat­lichen Unternehmens in Einklang zu brin­gen. Zu­dem zahlte der jetzige Premier in den letz­ten Jahren Millionenbeträge an Lobby­firmen in den USA und Frankreich, um sich als Füh­rungsfigur ins Gespräch zu bringen. Dafür verwendete er unter ande­rem Mittel von LIDCO. Es liegt nahe, in Da­beibas poli­tischen Ambitionen ein Streben nach noch größerem Reichtum zu sehen.

Schon jetzt ist deutlich, dass mit Dabeiba ein ganzes Interessengeflecht an die Macht gekommen ist. Gut informierte Beobachter aus Dabeibas Heimatstadt Misrata sind sich einig, dass sein Cousin Ali Dabeiba die graue Eminenz hinter dem Premier ist. Ali Dabeiba hat seit 2011 unter anderem ein Klientelnetzwerk zwischen bewaffneten Gruppen in Misrata und Tripolis aufgebaut, um seinen Einfluss zu bewahren. Sein Sohn Ibrahim ist der engste Berater des Premiers und begleitet diesen selbst zu Treffen mit ausländischen Staats­chefs. Auch die ande­ren Berater sind lang­jährige Vertraute, mit denen der Premier teils schon bei LIDCO zusammengearbeitet hat und von denen etliche mit ihm verschwägert sind. Eng ver­bunden mit dem Netzwerk der Dabeibas sind zudem der Bauminister, der Trans­port­minister sowie der Staatsminister für An­gelegenheiten des Premierministers. Kraft seines Amtes wird der Premier versuchen, auch Schlüsselpositionen in staatlichen Unternehmen mit Verbündeten zu besetzen.

Die Interessenlage des Dabeiba-Netz­werks ist also ambivalent. Einerseits würde eine sichtliche Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage dem Machterhalt dienen. Andererseits dürften Vetternwirtschaft und Korruption dem Fortschritt im Wege stehen. Letzteres gilt umso mehr, als Vertreter anderer Seilschaften in Dabeibas Regierung sich ebenfalls bereichern wollen.

Nicht nur wegen der konkurrierenden Inter­essengruppen innerhalb der Regierung dürften Reformen nur äußerst schwer durchzu­set­zen sein. Korruption grassiert auf allen Ebenen des öffentlichen Sektors und lässt sich nicht eindämmen, ohne dem Justizwesen und zumindest den Ansätzen eines staatlichen Gewaltmonopols wieder Geltung zu verschaffen. Hinzu kommt, dass wichtige Institutionen, allen voran der Rechnungshof und die Zentralbank, nach wie vor gespalten sind und der Premier nicht befugt ist, Posten darin neu zu beset­zen. Solche Institutionen können rivalisierenden Netz­werken als Hebel dienen, um bei Auftragsvergaben und anderen Budget­zuweisungen Einspruch zu erheben.

Im mächtigen Zentralbankgouverneur al‑Siddiq al-Kabir hat Dabeiba einen Ver­bündeten, der um gute Beziehungen mit der gegenwärtigen Regierung bemüht ist, um sich weiter im Amt zu halten. Unter dem Vor­gänger des jetzigen Premiermini­sters, Faiez al‑Serraj, war Kabir stark unter Druck geraten. Dass sich dies seit Dabeibas Amtsübernahme geändert hat, ist der Auf­lösung des Reformstaus nicht unbedingt zu­träglich. Seitdem nämlich zeigt sich Kabir wesentlich weniger kooperativ, wenn es um die Wiedervereinigung der Zentralbankführung geht. Mit ihr schwände sein Ein­fluss auf diese Institution. Daher bleibt die Frage ungelöst, wie mit den Schulden von etwa 70 Milliarden Dinar (13 Milliarden Euro) umgegangen werden soll, welche die Parallelinstitutionen in Ostlibyen seit 2015 verursacht haben. Auch die mangelnde Verfügbarkeit von Bargeld, die Dif­ferenz zwischen offiziellem und Schwarz­­markt-Wechselkurs und das feh­lende Vertrauen in den Dinar sind auf diese Weise nicht nach­haltig in den Griff zu bekommen.

Die Präsenz ausländischer Militärs

Der Kontrast zwischen der vorgeblichen politischen Einigung und den tatsächlichen Verhältnissen vor Ort offenbart sich am deut­lichsten in der anhaltenden Präsenz aus­ländischer Militärs und Söldner, die von den Parteien des letzten Bürgerkriegs ins Land geholt wurden. Laut Waffenstillstands­abkommen vom 23. Oktober 2020 sollten sämtliche ausländische Kräfte Libyen binnen drei Monaten verlassen. Ein halbes Jahr nach Besiegelung des Waffenstillstands ist kein solcher Abzug in Sicht. Statt­dessen richten sich die Türkei und Russland auf Dauer in Libyen ein. Das zeigen die fort­währenden türkischen Militärflüge in die Luftwaffenbasis al‑Wutiya sowie die groß­angelegten Befestigungsarbeiten im Zen­trum des Landes durch Söldner der Gruppe Wag­ner, deren Aktivitäten die russische Füh­rung zwar leugnet, tatsächlich aber steuert. Eine Schlüsselrolle spielen dabei auch die VAE, welche Haftars russi­sche, syrische und sudanesische Söldner zumin­dest teilweise finanzieren und aus­statten.

Die Präsenz der Türkei und Russ­lands verfestigt sich deswegen, weil beide weiter­hin als Sicherheitsgaranten für die Konflikt­parteien dienen. Letztere müssen eine Rück­­kehr zu offenen Auseinandersetzungen für den Fall befürchten, dass der Abzug ihrer ausländischen Unterstützer die militärischen Kräfteverhältnisse verändert. Dabei sind die syrischen Söldner, die Ankara in Libyen stationiert hat, für das Kräftegleichgewicht unerheblich, aber die eigentliche türki­sche Militärpräsenz umso wichtiger. Ver­treter der Türkei versichern beharrlich, das offizielle Engage­ment ihres Landes falle nicht unter die Be­stim­mungen des Waffen­stillstands. Seit kurzem aber signa­lisieren sie, dass die Türkei zum Abzug der syri­schen Söldner bereit sei, falls auch die Söldner der Gegenseite das Land verließen.

Für Haftar dagegen, dessen ausländische Unterstützer ihre Rolle nicht zugeben, sind die russischen Söldner überlebenswichtig. Mit Abstrichen gilt das auch für seine syrischen und sudanesischen Kämp­fer. Ein ersatzloser Ab­zug der Russen würde für Haftar den Verlust der Kon­trolle über den Süden und das Zentrum des Landes bedeu­ten, möglicherweise sogar den Zerfall seiner Machtstruktur. Wie in ande­ren Kern­fragen des Konflikts gibt es deshalb auch bei der Präsenz der Söldner kaum Aussichten auf Fortschritte, solange Haftar Einfluss in weiten Teilen des Landes ausübt und für seine ausländischen Unterstützer ein zwar schwieriger, aber unerlässlicher Partner ist. Weder den VAE noch Ägypten dürfte daran gelegen sein, dass ein Abzug der Söld­ner die Autorität Haftars zerstört und damit neue Konflikte in Ost­libyen ent­facht.

Auch über das Söldnerproblem hinaus dürften divergierende externe Interessen die Fliehkräfte innerhalb der Regierung ver­stärken. Staaten, die während des letzten Krieges auf unterschied­lichen Seiten stan­den, versuchen nun, einzelne Regierungsvertreter für ihre Anliegen zu gewinnen. Bislang ist Premierminister Dabeiba be­strebt, die Ambivalenz in den Beziehungen mit diesen Staaten zu wahren. Deren Drängen auf eine klarere Positionierung könnte jedoch Konflikte in der Regierung hervorrufen, etwa zwischen Dabei­ba und dem Präsidialrat, der ebenfalls beansprucht, das Land nach außen zu vertreten.

Krise mit oder ohne Wahlen

Mit den Par­laments- und Präsidentschaftswahlen, die für den libyschen Unabhängigkeitstag am 24. Dezember 2021 vorgesehen sind, soll das Land erstmals seit 2014 wieder eine demokratisch legitimierte und landes­weit anerkannte Regierung bekommen. Doch mit der Bildung der Ein­heitsregierung schafft der LPDF-Fahrplan eine widersprüchliche Interessenlage. Einerseits soll die Regierung das Land auf die Wahlen vorbereiten. Andererseits wer­den die in der Regierung vertretenen Klientelnetzwerke versuchen, sich so lange wie möglich an der Macht zu halten. Dies gilt umso mehr, als die Regierungsmitglieder laut LPDF-Beschluss nicht selbst für die Wahlen kan­didieren dürfen.

Besonders ausgeprägt ist der Interessenkonflikt im Abgeordnetenhaus. Dessen Mit­glieder haben gerade erst ihre Kandidaten auf Ministerposten gehievt. Nun sollen sie den Abgang der Minister besiegeln, indem sie die ver­fassungsmäßige Grundlage für die Wahlen sowie ein Wahlgesetz beschließen. Parla­mentarier, die am Fort­bestand der Regierung Dabeiba interessiert sind, könnten den anhaltenden Disput über Vor­sitz und Ver­sammlungsort des Abgeord­ne­tenhauses sowie über ein mögliches Ver­fassungsreferendum nutzen, um diese Be­schlüsse zu verhindern.

Ein plausibles Szenario ist daher, dass die für die Wahlen nötigen Schritte ausbleiben könnten und sich die Regierung Dabeiba über den 24. Dezember 2021 hinaus im Amt hält. Auch wenn die Regierung die Schuld hierfür dem Abgeordnetenhaus zuschiebt, würde diese Situation eine neue politische Krise heraufbeschwören. Viele Akteure haben die neue Regierung nur auf­grund ihres befristeten Mandats akzeptiert. Wird dieses überdehnt, würde das die Legi­timität der Regierung in Frage stellen. Die Zahl ihrer Gegner, die mit fortdauernden Vertei­lungs­kämpfen ohnehin steigen wird, könn­te dann erst recht rapide wachsen. Auch eine erneute poli­tische Spaltung wäre denkbar.

Wegen der großen Hindernisse für Wah­len konzentriert sich der politische Druck aus dem In- und Ausland bislang darauf, sicherzustellen, dass die Wahlen stattfinden – nicht aber darauf, die Vor­aussetzungen für freie, faire und geheime Wahlen zu schaffen. Für die VN wie auch politische Kräfte in Libyen sind die Wahlen zum Selbstzweck geworden. Ob sie der Konfliktbeilegung zuträglich sein werden, wird kaum erwogen. Die Mindestvoraussetzungen für erfolgreiche Wahlen sind nicht gegeben. So sollte die Einheitsregierung die Kommandostrukturen in Militär und Sicher­­heitssektor vereinigen und so der Gefahr vorbeugen, dass bewaffnete Grup­pen die Wahlergebnisse manipulieren oder sich weigern könnten, sie anzuerkennen. Mitt­ler­weile ist klar, dass im Sicherheits­sektor keine Fortschritte zu erwarten sind.

Sollten die Wahlen stattfinden, ist davon auszugehen, dass sie in mehreren Städten und Regionen von Gewalt und Unregel­mäßigkeiten begleitet werden. Besonders kri­tisch ist die Lage in Gebieten unter Haf­tars Kontrolle, wo Dissidenten mit äußer­ster Härte verfolgt werden. Vor allem Präsi­dentschaftswahlen bergen erhebliches Kon­flikt­potential, denn der Erfolg des Ver­tre­ters einer Konfliktpartei wäre eine existen­tielle Bedrohung für deren Gegner. Aber selbst ohne massive Eskalation wäre die Gefahr groß, dass politische Kräfte die Wahl­ergebnisse ablehnen und notfalls mit Waffengewalt anfechten würden.

Schlussfolgerungen

Erklärtes Ziel des von den VN geführten Prozesses ist es, durch eine transparentere und gerechtere Verwaltung staatlicher Gelder eine Hauptursache der Konflikte in Libyen zu beseitigen. Tatsächlich aber stellt die Bildung der Einheitsregierung die Wei­chen für die noch ungeniertere Plünderung des Staates. Auf diese haben sich konkurrie­rende Netzwerke unter dem Deckmantel des regionalen und lokalen Proporzes ver­ständigt und dafür die meisten substantiellen Streitfragen ausgeklammert. Als Basis für ein wiedervereinigtes Libyen könnte diese Einigung weitreichende Konsequen­zen haben, die das politische System auch nach Neuwahlen auf fatale Weise prägen könnten. Unmittelbar besorgniserregend ist aber, dass die Einigung so die Voraussetzungen für neue Konflikte schafft – auch wenn die neu entstehenden Ungleich­gewichte und Verlierer erst nach und nach zutage treten werden.

Die europäische Haltung gegenüber der neuen Regierung dürfte diese kaum zur Mäßigung bewegen, sind die Europäer doch erleichtert, die Regierungsbildung als Erfolg ihrer Diplomatie präsentieren zu können. Zudem zeigen sie schon jetzt Inter­esse an den Geschäften, die Dabeiba durch staat­liche Investitionen in Aussicht stellt. Der offiziel­len europäischen Unterstützung für die Wahlen zum Trotz legen manche Diplo­maten eine wachsende Präferenz für die vermeintliche Stabilität à la Dabeiba an den Tag. Diese Einstellung ist problematisch, denn wenn dessen Regierung über Dezem­ber 2021 hinaus amtiert, dürfte Libyen mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine er­neute tiefe Krise geraten. Es gilt daher, Fortschritte hin zu Wahlen an­zumahnen, die aller­dings unter den gegebe­nen Bedingungen mit großen Risiken ver­bunden sein werden. Sobald der rechtliche Rahmen für die Wah­len feststeht, sollte sich Europa nicht mehr damit begnügen, dass die Wahlen überhaupt abgehalten werden. Vielmehr sollte sich das Augenmerk dann auf die Umstände richten, in denen sie stattfinden, und auf die Akteure, die einen friedlichen Machtwechsel nach den Wahlen verhindern könnten.

Dr. Wolfram Lacher ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

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