Spätestens seit den Parlamentswahlen vom Oktober 2020 befindet sich Georgien in einer politischen Pattsituation zwischen Regierung und Opposition. Sie manifestiert sich vor allem darin, dass die große Mehrheit der gewählten Oppositionsparteien den Einzug ins Parlament boykottiert. Nicht nur innenpolitisch ist das Land herausgefordert. Der Krieg um Berg-Karabach hat auch die regionale Konstellation verändert. Während sich Russland und die Türkei als einflussreiche Akteure in der Region positioniert haben, war die Europäische Union kaum sichtbar. Georgien als einziges Land im Südkaukasus mit klaren euroatlantischen Ambitionen sieht in dieser Veränderung eine potentielle Bedrohung für seinen westlichen Kurs. Tbilisi hegt weiterhin hohe Erwartungen an die EU, die für sich den Anspruch formuliert hat, ein geopolitischer Akteur zu sein. Beides, der neue regionale Kontext und die georgische innenpolitische Krise, sollten der EU Anlass sein, ihr Engagement in ihrer östlichen Nachbarschaft zu erhöhen und besonders den Beziehungen zum euroatlantisch ausgerichteten Georgien neue Impulse zu verleihen.
Am 6. Januar 2021 kündigte Georgiens damaliger Premierminister Giorgi Gacharia an, sein Land werde 2024 einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union stellen. Schon Anfang Oktober 2020 hatte sich der stellvertretende Vorsitzende des georgischen Parlaments, Kacha Kutschawa, zuversichtlich geäußert: Georgien sei 2024 bereit für einen solchen Schritt. Die Entwicklungen in den letzten Wochen und Monaten allerdings haben dafür gesorgt, dass die Zweifel daran innerhalb der EU stark gewachsen sind. Über 18 Monate lang belasteten die gegenseitigen Anfeindungen der Regierungspartei Georgischer Traum und der politischen Opposition, allen voran der früheren Regierungspartei Vereinte Nationale Bewegung (VNB), die georgische Politik. Seit den Parlamentswahlen vom 31. Oktober 2020, von der Opposition als manipuliert bezeichnet, hat sich die Kontroverse zu einer nationalen politischen Krise hochgeschaukelt. Sie manifestiert sich in erster Linie darin, dass die große Mehrheit der gewählten Oppositionskandidaten und -kandidatinnen das Parlament boykottiert.
Die öffentlich bekundete Absicht der georgischen Regierung, die EU-Mitgliedschaft zu beantragen, fällt in eine Zeit, in der sich die politische Krise im Land weiter verfestigt hat. Das erlaubt einige Rückschlüsse auf den derzeitigen Stand der EU-Georgien-Beziehungen, besonders auf deren Herausforderungen. Zwei Dimensionen sind für die Bewertung des aktuellen Verhältnisses vor allem in den Blick zu nehmen: die Innenpolitik und ihre Wechselwirkung mit der Außenpolitik sowie die Einbettung der Beziehungen in den regionalen Kontext, der sich zurzeit neu ordnet.
Innenpolitische Blockade
Katalysator der Krise
Wenn nicht der Ursprung, so doch wesentlicher Katalysator für die aktuelle Blockade zwischen Regierung und Opposition waren die georgischen Parlamentswahlen vom Herbst 2020. Aus ihnen ging der Georgische Traum offiziell als Sieger hervor und erzielte insgesamt 90 von 150 Sitzen. Zweitstärkste Kraft wurde die Vereinte Nationale Bewegung, die 36 Sitze errang. Die Wahlen fanden in zwei Runden statt, zunächst per Verhältniswahl, dann eine zweite Runde per Mehrheitswahl. Alle Oppositionsparteien boykottierten indes die zweite Runde, so dass der Georgische Traum diese allein bestritt. Während internationale Wahlbeobachtungsmissionen den Urnengang als kompetitiv bewerteten und grundlegende Freiheiten insgesamt gewahrt sahen, stellten lokale Watchdog-Organisationen erhebliche Defizite und Unregelmäßigkeiten fest. Weil die Wahlen nach Auffassung der Opposition manipuliert waren, nahmen deren Vertreterinnen und Vertreter ihre Mandate aus Protest nicht an. Daher begannen am 11. Dezember 2020 nur die gewählten Repräsentanten und Repräsentantinnen des Georgischen Traums ihre Abgeordnetentätigkeit. Die Opposition mokierte sich in der Folge über das »Einparteienparlament«. Dagegen verurteilte die Regierungspartei den Boykott als Destabilisierung, welche die Opposition vorsätzlich herbeigeführt habe. Zwar haben mittlerweile sechs Abgeordnete der gewählten Opposition ihre Verweigerung aufgegeben und sind ins Parlament eingezogen, aber die große Mehrheit hält bislang am Boykott fest.
Die derzeitige Zwickmühle verweist nicht zuletzt auch auf Debatten über die Aufgaben des Parlaments und unzureichende parlamentarische Kontrolle. Unter anderem mangelnde Erfahrung in der wirksamen Implementierung von Aufsichtsmechanismen hat verhindert, dass eine entsprechende Parlamentskultur und -praxis zur vollen Entfaltung gekommen ist. Obschon in den letzten Jahren Reformen zur Stärkung der parlamentarischen Kontrolle stattfanden, blieb die Rolle der Opposition dabei zu unklar definiert. Das hat die Frage aufgeworfen, wie effektiv die gegenseitige institutionelle Kontrolle ist.
Weiter zugespitzt hat sich die Krise, seit am 23. Februar 2021 der VNB-Vorsitzende Nika Melia festgenommen wurde. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, 2019 bei Straßenprotesten zu Gewalt aufgerufen und dabei eine führende Rolle gespielt zu haben. Die Opposition geißelt das Vorgehen als politisch motiviert. Im Zusammenhang mit der Festnahme trat Giorgi Gacharia als Premierminister zurück. Anscheinend hatte er sich innerhalb des Georgischen Traums nicht mit seiner Position durchsetzen können, dass eine Verhaftung Melias zur weiteren politischen Eskalation führen werde. Hinter der aktuellen Krise stehen indes vor allem auch strukturelle Herausforderungen.
Strukturelle Herausforderungen
Dauerbaustelle Judikative
Zu den wichtigsten Wahlversprechen des Georgischen Traums im Jahr 2012 gehörte der Slogan »Wiederherstellung der Gerechtigkeit«. Über die moralische und politische Gerechtigkeit hinaus war damit die Judikative angesprochen, die zuvor unter der VNB-Regierung stark politisiert und abhängig von der Exekutive war. Seitdem sind neun Jahre vergangen, aber die Politisierung der Rechtsprechung bildet weiterhin eine der größten Herausforderungen Georgiens im Hinblick auf die Gewaltenteilung. Organisationen wie dem nationalen Ableger von Transparency International zufolge ließ sich der Georgische Traum vor den Parlamentswahlen 2016 auf informelle Absprachen mit dem sogenannten Clan ein, einer Gruppe einflussreicher Richter und Richterinnen. Diese informelle Übereinkunft zur gegenseitigen Unterstützung habe laut Transparency International bewirkt, dass dieser Kreis seinen Einfluss auf die gesamte Judikative ausdehnte und die Exekutive stärkeren Zugriff auf diese erhielt. Daraus dürfte auch das mangelnde Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsprechung resultieren: Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2019 hatten nur 5% der Befragten volles Vertrauen in die Gerichte. 53% der Befragten vertraten die Position, dass diese unter dem Einfluss der Regierungspartei stehen.
Die Einflussnahme auf die Justiz ist seit Jahrzehnten und damit nicht erst unter dem Georgischen Traum ein wirkungsvolles Instrument der Exekutive, um ihre politische und partikulare Agenda durchzusetzen. Genau dies wirft derzeit die Opposition der Regierung im Fall der Festnahme von Nika Melia vor. Den Gerichtsbeschluss zu Melia bemängelte auch die Ombudsfrau Georgiens, Nino Lomjaria: Die Haftmaßnahme gegen Melia sei weder begründet noch notwendig.
Polarisierung als Hindernis für Deeskalation
Eine zweite und zentrale innenpolitische Herausforderung für Georgien ist die extreme Polarisierung in der georgischen Politik und in den Medien. Ein das »Winner-takes-all«-Prinzip begünstigendes Wahlsystem hat bisher zuverlässig dazu geführt, dass die Wahlsieger vor allem ihre eigene Macht festigten, zu Lasten einer effektiven Implementierung des Prinzips der Gewaltenteilung. Das wiederum hat die Konfrontation zwischen der Regierungspartei und den Oppositionsparteien verstärkt, die ihrerseits ihre Anhängerschaft und dadurch Teile der Gesellschaft gegeneinander mobilisierten. Insgesamt ist die vorherrschende politische Kultur in Georgien integrierenden Prinzipien und Prozessen wie Kompromissbereitschaft und Ausgleich, Koalitionsfindung und Machtteilung wenig zuträglich.
Die strukturellen Ursachen für die politische Polarisierung sind vor allem in der Parteienlandschaft zu suchen. Viele Parteien beschränken sich in der Regel darauf, vom politischen Tagesgeschehen zu profitieren, ohne dabei langfristigen, programmatisch unterfütterten Strategien zu folgen. Sie sind oft hierarchisch und wenig demokratisch organisiert. Vor allem die zwei größten und ressourcenreichsten Parteien des Landes, der Georgische Traum und die VNB, sind bestrebt, Vorteile aus der Polarisierung zu ziehen. Indem sie den jeweiligen Konkurrenten als Feind präsentierten und dieses Feindbild nährten, versuchten beide, sich als einzige Option im Parteienwettbewerb zu positionieren. Über mehrere Jahre entzogen so beide Parteien dem Entstehen alternativer politischer Kräfte den Raum.
Seit Jahren wird der Georgische Traum vom Milliardär und ehemaligen Premierminister Bidsina Iwanischwili, die VNB vom einstigen Präsidenten Micheil Saakaschwili dominiert. Ihre Rhetorik ist darauf ausgerichtet, die Monopolstellung im politischen Prozess für sich zu beanspruchen. Damit haben beide in den vergangenen Jahren die politische Zwietracht verstärkt.
Auch die sozialen Netzwerke fungieren als Instrument für Polarisierung und Radikalisierung des politischen Spektrums und zumindest eines Teils der Wählerschaft. Politische Akteure nutzen sie als Plattformen, um Desinformation gegenüber politischen Rivalen zu betreiben. Zudem agieren die wichtigsten Fernsehsender des Landes in der Regel als Sprachrohre bestimmter politischer Gruppierungen. Ihre Berichterstattung orientiert sich nicht an Objektivität, sondern zielt darauf, die politische Agenda und die Zwecke politischer Lager populär zu machen. TV-Sender bilden die bei weitem bedeutendste Informationsquelle im Hinblick auf politische Nachrichten und tragen daher in hohem Maße zur Meinungsbildung bei.
Innenpolitische Kontroverse und die EU
Die innenpolitische Konfrontation lässt die Beziehungen zwischen Georgien und der EU nicht unberührt. Das Streben nach Integration in euroatlantische Institutionen ist seit mehr als 15 Jahren eine Art Grundorientierung der georgischen Außenpolitik. Der seit 2012 regierende Georgische Traum hat diesen außenpolitischen Kurs seiner Vorgänger übernommen und weitergeführt. Seit 2016 ist Georgien mit der EU durch ein Assoziierungsabkommen sowie ein vertieftes und umfassendes Freihandelsabkommen (DCFTA) verbunden. 2017 wurde in der georgischen Verfassung das Ziel Mitgliedschaft in EU und Nato verankert. Die Reformen, die im Zuge der Implementierung des Assoziierungsabkommens vorzunehmen sind, betreffen eine Fülle an Politikfeldern und Bereichen. Gleich zu Beginn der Präambel des Abkommens indes heißt es, dass gemeinsame Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte das Fundament der Assoziierung darstellen und dass Georgien sich verpflichtet, diese zu implementieren und zu stärken.
Aktuell aber betrachtet Brüssel die Defizite im Bereich der Justiz und die politische Polarisierung im Land als Hauptherausforderungen für Georgiens Annäherung an die EU. In ihrem jüngsten Bericht zur Implementierung des Assoziierungsabkommens mahnt die EU daher weitere Anstrengungen in diesen Bereichen an.
Exponierte Rolle für die EU
Auch konkret schlägt sich die politische Krise in Georgien in dessen Beziehungen zur EU nieder. Schon Anfang 2020, nachdem eine Reform der Wahlgesetzgebung im georgischen Parlament gescheitert war, offerierten einige westliche Botschaften Raum für Gespräche, um der Regierungspartei und der parlamentarischen Opposition eine Kompromissfindung zu erleichtern. Heute sind abermals Botschaften der EU und einiger Mitgliedstaaten zusammen mit der US-amerikanischen Botschaft als Fazilitatoren aktiv. Nach den Parlamentswahlen vom Oktober 2020 haben sie die zerstrittenen Lager auf deren Bitten erneut zu Verhandlungen zusammengebracht. Sie sollen möglichst in einen Kompromiss münden.
Der Grat allerdings ist schmal für die EU-Repräsentanten, nicht selbst in das Kräftemessen zwischen Regierungspartei und Opposition hineinzugeraten und als Teil der innergeorgischen Auseinandersetzung zu gelten oder dazu gemacht zu werden. Mitte Dezember 2020 etwa wurden aus der VNB und VNB-nahen Kreisen Anwürfe gegen westliche Diplomaten und Diplomatinnen laut. Der damalige Vorsitzende der VNB, Grigol Waschadse, nannte diese Vorhaltungen als einen Grund für seinen darauffolgenden Rückzug aus der Partei. Anfang Februar 2021 zog sich dann der EU-Botschafter den Unmut des Georgischen Traums zu. Er hatte es als Verletzung des Datenschutzes kritisiert, dass eine Abgeordnete der Regierungspartei die Telefonnummer eines VNB-nahen Journalisten öffentlich gemacht hatte. In diesem Fall sahen sich gar Abgeordnete des Europaparlaments gezwungen, in einer gemeinsamen Stellungnahme ihre Rückendeckung für den EU-Botschafter zu signalisieren. In Reaktion auf kritische Äußerungen, die der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des litauischen Parlaments getätigt hatte, erklärte zudem der neue georgische Premierminister Irakli Gharibaschwili noch am Tag seiner Bestätigung, dem 22. Februar 2021, dass derlei Einmischung von außen nicht hinnehmbar sei.
Von der Fazilitation zur Mediation
Dabei spielt die EU in der innergeorgischen Kontroverse eine immer wichtigere Rolle. Der Präsident des Europäischen Rats, Charles Michel, räumte bei seinem Besuch in Georgien Anfang März 2021 ein, es sei an der Zeit, von der reinen Fazilitation zur aktiven Mediation überzugehen. Nach seinem Besuch ernannte er zusammen mit dem Hohen Vertreter Josep Borrell den Schweden Christian Danielsson zum Persönlichen Gesandten, der zum Zweck der Mediation nach Tbilisi reiste. Auch an diesen Gesprächen ist weiterhin die US-Botschaft beteiligt. Neben der Frage von Neuwahlen und der Freilassung Melias dürfte es bei den Unterredungen um die Reform der Justiz und der Wahlgesetzgebung, die Stärkung der parlamentarischen Kontrollfunktion und Möglichkeiten der De-Polarisierung gehen.
Regionale Rekonfigurationen
Georgiens innenpolitische Turbulenzen fallen zeitlich mit bedeutenden Veränderungen in seiner Nachbarschaft zusammen. Die Eskalation des Konflikts um Berg-Karabach zwischen Georgiens Nachbarländern Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020 hat den seit 26 Jahren bestehenden Status quo beendet. Aserbaidschan eroberte weite Teile der Territorien zurück, die seit 1994 von armenischer Seite kontrolliert worden waren. Seit dem trilateralen Abkommen zwischen Baku, Eriwan und Moskau vom 10. November 2020 sind zudem russische Friedenstruppen in der Konfliktregion stationiert. Darüber hinaus setzten die kriegerischen Auseinandersetzungen einen Prozess regionaler Rekonfiguration in Gang oder verstärkten ihn, bei dem allen voran Russland und die Türkei eine hervorgehobene Rolle spielen. Wie sich das Kräfteverhältnis der beiden Regionalmächte im Südkaukasus en détail darstellt und entwickelt, ist eine der meistdiskutierten Fragen im Kontext des 44-tägigen Kriegs. Weitestgehend einig sind sich Beobachter und Beobachterinnen indes darin, dass er die Mängel und Schwächen des EU-Instrumentariums deutlich gemacht hat. Nicht wenige sehen überdies die Formel »geopolitische Kommission« der EU zur Worthülse degradiert, zumal was ihre unmittelbare östliche Nachbarschaft anbelangt.
Georgien in volatiler Nachbarschaft
Georgien ist das einzige Land im Südkaukasus, das mit der EU ein Assoziierungsabkommen geschlossen hat und das Langzeitziel euroatlantische Integration verfolgt. Das Land sieht sich mit mindestens fünf zentralen Veränderungen und Entwicklungsperspektiven in seiner Nachbarschaft konfrontiert. Erstens ist die Bedeutung von Georgiens Nachbarstaaten Russland und Türkei für die anderen beiden Nachbarn Armenien und Aserbaidschan im Kontext der Eskalation vom Herbst 2020 gewachsen. Zweitens nimmt man in Georgien eine Verschlechterung der eigenen sicherheitspolitischen Lage wahr: Nach der Stationierung russischer Truppen in Aserbaidschan wird sehr sensibel registriert, dass Georgien, auch angesichts der gestiegenen russischen Dominanz im Schwarzmeerbecken, in geographischer Hinsicht nunmehr von russischen Truppen umgeben ist. Drittens stellt sich für Tbilisi die Frage, welche Folgen für Georgien die neue Rolle der Türkei im Südkaukasus und die Entwicklung der türkisch-russischen Beziehungen in der Region haben werden. Viertens wird in Georgien diskutiert, welche Auswirkungen die im Abkommen vom 10. November 2020 anvisierte Öffnung regionaler Kommunikationsverbindungen, die bislang aufgrund des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts blockiert waren, auf Georgiens Funktion als Transitland und angestrebte Zukunft als regionaler Verkehrsknotenpunkt hätte. Fünftens schließlich wird die Stärkung des russischen Einflusses im Südkaukasus als Faktor wahrgenommen, der Georgiens euroatlantischen Integrationsprozess zusätzlich bedrohen könnte.
Neuer regionaler Kontext für die EU-Georgien-Beziehungen
All diese (potentiellen) Veränderungen – und wie sie lokal wahrgenommen und interpretiert werden – betreffen nicht zuletzt Georgiens Verhältnis zur EU. Deren Handlungsspielraum im Südkaukasus schwindet, während der Einfluss Russlands und der Türkei wächst. Lange etwa galt die Türkei aus Sicht Tbilisis als Partnerin bei und Wegbereiterin für Georgiens euroatlantische Integration, da sie Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidatin ist. Nun hat Ankara Ende Januar 2021 zusammen mit Teheran eine Kooperationsplattform für die Region im 3+3-Format vorgeschlagen. Neben der Türkei und den drei südkaukasischen Staaten soll es die Regionalmächte Iran und Russland einschließen, nicht aber die EU und die USA. Schon nach dem russisch-georgischen Krieg 2008 hatte Ankara ein ähnliches regionales Kooperationsformat in die Debatte gebracht, damals als 3+2-Version ohne Iran. Verwirklicht wurde der Vorschlag freilich nicht. Allerdings waren die (geo-)politischen Bedingungen damals deutlich andere, und zwar nicht nur in der Region, sondern auch im Hinblick auf das türkisch-europäische und das türkisch-amerikanische Verhältnis.
Ungleichgewicht Angebot und Nachfrage
Schon seit längerem wird vor allem in der Region selbst, immer öfter aber auch von verschiedenen Akteuren in der EU diskutiert, ob diese die passenden Angebote für die Länder in der östlichen Nachbarschaft hat, um als Akteurin relevant bleiben zu können. Die jüngste Eskalation im Konflikt um Berg-Karabach hat diesen Diskussionen weiteren Auftrieb verliehen. Als Kerndefizite werden etwa mangelnde sicherheitspolitische Kooperationsangebote sowie die nur begrenzte Rolle der EU als Akteurin in der Konflikttransformation genannt. Diese Debatten betreffen auch Georgien, das sich sowohl mit Fragen nationaler Sicherheit als auch den ungelösten Konflikten mit Abchasien und Südossetien konfrontiert sieht.
Sicherheitspolitische Zusammenarbeit und Engagement bei der Konflikttransformation stehen jedoch in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander: Die Weiterentwicklung beider Bereiche geht nicht unbedingt und schon gar nicht zwangsläufig Hand in Hand. So befasst sich die EU vor allem auf der Ebene der unmittelbaren Konfliktparteien (Tbilisi, Suchum/i und Tschinval/i) mit den Konflikten um die abtrünnigen De-facto-Staaten Abchasien und Südossetien. Georgische Akteure hingegen betrachten die Konflikte meist durch das Prisma der georgisch-russischen Konfrontation. Eine enge, möglichst auch sicherheitspolitische Anbindung an euroatlantische Institutionen wird in Tbilisi nicht zuletzt als Möglichkeit gesehen, sich gegen Russland abzusichern. Georgiens engere Verknüpfung mit der EU führt allerdings dazu, dass diese in Abchasien und Südossetien kaum als neutrale Konfliktvermittlerin wahrgenommen wird. Das hat zur Folge, dass die EU ihnen gegenüber praktisch keinerlei Einflussmöglichkeiten besitzt.
Obschon nach wie vor limitiert, hat die EU besonders nach dem Augustkrieg von 2008 durchaus versucht, ihr Engagement in der Konflikttransformation auszubauen. Sie tat dies beispielsweise durch die EU Monitoring Mission sowie den EU-Sonderbeauftragten für den Südkaukasus und die Krise in Georgien, als Co-Vorsitzende bei den Genfer Gesprächen zwischen den involvierten Parteien oder indem sie Maßnahmen zur Konflikttransformation finanziell unterstützte. Zugleich aber haben sich die Spielräume der EU in diesem Bereich weiter verkompliziert. Sie muss hier in einem mehrdimensionalen Konfliktsetting agieren, da sich der Konflikt zwischen Georgien, den De-facto-Staaten und Russland auf verschiedenen Ebenen entfaltet. Auch das belastete Verhältnis zwischen Russland und der EU schmälert die Einwirkungsmöglichkeiten der Union.
Andererseits ist auch die aktuelle innenpolitische Krise in Georgien wenig förderlich dafür, eigene konstruktive Politikansätze zu formulieren. Das gilt nicht nur, aber auch für den Umgang mit den De-facto-Staaten. Zurzeit, so scheint es, werden in Georgien (außen-)politische Zielsetzungen zur Geisel der Innenpolitik oder der Verfolgung partikularer Machtinteressen. Offensichtlich binden innenpolitische Kontroversen derart viele Ressourcen, dass die Krise zu Lasten des Outputs geht. Daher dürfte es weder im Interesse Georgiens noch der EU liegen, dass sich die derzeitige Situation verstetigt.
Ausblick
Sowohl die innenpolitische Krise als auch der Wandel des regionalen Umfelds stellen die EU-Georgien-Beziehungen vor Herausforderungen. Dass sich die EU mit Charles Michel auf oberster Ebene aktiv in der innergeorgischen Kontroverse engagiert, dürfte auch eine Reaktion auf die gerade in den letzten Monaten geäußerte Kritik sein, die EU sei in ihrer östlichen Nachbarschaft zu wenig sichtbar. Der Einsatz kann daher als positives Zeichen gewertet werden. Offenbar wird dies auch in Georgien mehrheitlich so gesehen. Dafür sprechen Äußerungen politischer Akteure sowie von NGO-Vertretern und -Vertreterinnen, aber auch die Berichterstattung in wichtigen Medien.
Eine solche Form der Mitwirkung von Vertreterinnen und Vertretern der EU und ihrer Mitgliedstaaten in einem assoziierten Partnerland lenkt indes erneut den Blick auf eine Reihe übergeordneter Fragen. Es geht unter anderem darum, wie lokale Konfliktlösungsmechanismen nachhaltig gestärkt werden können, wie sich die »Ownership« des Reformkurses darstellt und wie es um Symmetrie und Asymmetrie im Verhältnis zwischen der EU und Georgien bestellt ist.
Es ist nicht ohne Risiko, dass sich die EU selbst als Akteurin in der innenpolitischen Auseinandersetzung wiederfindet und dabei helfen soll, die Defizite des politischen Systems Georgiens zumindest kurzfristig auszugleichen. Solch ein Engagement bewirkt nicht automatisch, dass sich lokal verankerte Ausgleichs- und Konfliktlösungsverfahren etablieren. Es ebnet deshalb nicht zwangsläufig den Weg zu einer nachhaltigen künftigen Krisenvermeidung. Wird die EU den an sie gerichteten Erwartungen nicht gerecht, hat das zudem womöglich negative Folgen für die Glaubwürdigkeit der EU, sowohl in den Augen der lokalen politischen Elite als auch der georgischen Bevölkerung. Die Mediationstätigkeit der EU wird daher von manchen bereits als eine Art Lackmustest für die Bedeutung der Union in ihrer Nachbarschaft insgesamt gesehen. Wie auch immer die Mediation ausgehen wird: Die EU sollte ihr sichtbares Interesse an Georgiens Entwicklung auch darüber hinaus aufrechterhalten. Die derzeitige Aufmerksamkeit sollte nicht punktuell bleiben, denn das könnte sich letztlich als kontraproduktiv herausstellen.
Aus der Europäischen Union heraus wird stets betont, dass Georgien die im Assoziierungsabkommen vereinbarten Reformen aus eigenem Interesse umsetzen müsse, denn davon würden schließlich in erster Linie das Land und seine Bevölkerung selbst profitieren. Das dürfte in vielerlei Hinsicht zutreffen, trägt aber dem großen machtpolitischen Gefälle zwischen Brüssel und Tbilisi und dem Mehrwert, den eine Annäherung Georgiens an die EU für diese hat, nicht genug Rechnung. Vielmehr bemäntelt die Betonung des Eigeninteresses der Partner, dass auch die EU davon profitiert, wenn Länder in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft große Teile des EU-Acquis übernehmen – und das ohne aktuelle Beitrittsperspektive. Als die georgische Regierung ankündigte, 2024 die EU-Mitgliedschaft zu beantragen, dürfte sie damit unter anderem im Sinn gehabt haben, dem aufwendigen Prozess des »Der-EU-ähnlich-Werdens« eine konkrete Zielvorstellung zu geben. Bei ihrem Engagement in Georgien mit dem Ziel, die innenpolitische Pattsituation aufzulösen und einen Kompromiss zu erreichen, sollte es die EU deshalb nicht bewenden lassen. Darüber hinaus sollte Brüssel über Zukunftsperspektiven für die gemeinsamen Beziehungen nachdenken und dabei Erwartungen und Bedürfnisse der Partner berücksichtigen. Glaubwürdigkeit und Akteursqualität der EU in ihrer östlichen Nachbarschaft hängen nämlich nicht nur von ihrer eigenen Einschätzung dessen ab, was sie leistet, sondern auch davon, wie die Partnerländer die Aktionen der EU wahrnehmen und bewerten. Die Differenz zwischen den Erwartungen beider Seiten, etwa in Bezug auf sicherheitspolitische Kooperation, Engagement in der Konfliktbearbeitung und die strategische Vision der Zusammenarbeit, ist problematisch. Dieses Problem wird sich nicht von selbst auflösen, auch wenn die EU es möglicherweise nicht angemessen wahrnehmen will, da sie ja immerhin umfängliche finanzielle Unterstützung leistet. Angesichts regionaler Veränderungen könnte nicht nur die innenpolitische Krise Georgiens, sondern auch die skizzierte »Erwartungslücke« die Beziehungen zwischen Georgien und der EU belasten. Oder positiver formuliert: Aus beidem leitet sich dringender Handlungsbedarf für die EU ab, ihren Beziehungen zu Georgien neue Impulse und neuen Drive zu geben.
Eine Fülle an Ideen und Vorschlägen dazu liegt bereits auf dem Tisch. Nicht zuletzt entstammen sie dem breiten Konsultationsprozess, den die EU-Kommission 2019 mit Blick auf eine Anpassung der Östlichen Partnerschaft über 2020 hinaus ins Leben rief. Viele dieser Vorschläge finden sich in den Schlussfolgerungen des Rats zur Östlichen Partnerschaft vom 11. Mai 2020 wieder: Stärkung der geteilten »Ownership« und eine maßgeschneiderte bilaterale Kooperation im Sinne der Differenzierung, mehr Konzentration auf das gemeinsame Fundament wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gute Regierungsführung, die Verständigung auf Meilensteine und Monitoring-Mechanismen, um den Prozess klarer und transparenter zur strukturieren, die bessere Nutzung von Konditionalität sowie eine ausgeweitete Zusammenarbeit im sicherheitspolitischen Bereich und bei der Konfliktbearbeitung.
Es ist also nicht der Mangel an Ideen, der einem Ausbau des Engagements der EU in ihrer östlichen Nachbarschaft entgegenstände. Dass 2017 das letzte reguläre Gipfeltreffen zur Östlichen Partnerschaft stattgefunden hat und der Termin eines für dieses Jahr anvisierten Treffens nach wie vor aussteht, deutet eher auf mangelndes strategisches Interesse seitens der EU hin.
Es kann daher auch als Aufruf an die Europäische Union verstanden werden, dass die georgische Regierung gerade jetzt über Pläne eines Antrags auf Mitgliedschaft in der EU spricht. Diese sollte sich veranlasst sehen, die eigene langfristige Rolle in der Region neu zu denken und eine strategische Vision für die Beziehungen mit den Ländern dort zu entwickeln, allen voran solchen mit dezidiert euroatlantischer Ausrichtung wie Georgien. Andernfalls läuft sie Gefahr, in der Region weiter an Attraktivität zu verlieren.
Dr. Franziska Smolnik ist Stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Dr. Mikheil Sarjveladze ist derzeit Gastwissenschaftler, Giorgi Tadumadze Praktikant in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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doi: 10.18449/2021A27