Im Vorfeld zur Knesset-Wahl 2021 werben jüdische Parteien aktiv um die Stimmen der israelischen Araber, die 17 Prozent der wahlberechtigten Israelis stellen. Zugleich äußern arabische Israelis verstärkt das Bedürfnis nach einer Politik, die zur Verbesserung ihrer Lebensumstände beiträgt und ihnen mehr politische Beteiligung ermöglicht. Während das arabische Parteienbündnis Vereinte Liste seinen traditionellen Oppositionskurs beibehält und dabei die Abspaltung ihres Mitglieds Islamische Bewegung (Ra’am) in Kauf nahm, treten im Wahlkampf neue Akteure auf, die eine pragmatischere arabische Politik betreiben und auf Zusammenarbeit mit jüdischen Parteien setzen. Der Konflikt und die Identität des jüdischen Staates Israel spielen für sie allenfalls eine Nebenrolle. Ähnlich sieht es in der israelischen Kommunalpolitik aus. Dort wird eine interessensbasierte jüdisch-arabische Kooperation bereits praktiziert.
»Für viele Jahre war die arabische Öffentlichkeit außerhalb des Mainstreams«, sagte der israelische Premierminister Netanjahu im Wahlkampf 2021. Doch dafür gebe es keinen Grund. Die Wahl solle zeigen, dass die Araber Teil der Erfolgsgeschichte Israels seien. Mit diesen Worten markierte er eine bemerkenswerte Kehrtwende, denn in den Wahlkämpfen der letzten Jahre war eine Koalition mit arabischen Parteien tabu. Rechte jüdische Parteien behandelten diese als »fünfte Kolonne«, als subversive Akteure, mit denen zu kooperieren eine existentielle Gefahr für den Staat bedeute. Um die Wahlbeteiligung der arabischen Israelis zu drücken, versuchte der Likud, diese einzuschüchtern. So veranlasste er, dass in den Wahllokalen arabischer Kommunen wegen angeblicher Fälschungen Kameras installiert wurden. 2015 warnte Netanjahu vor »Arabern, die in Scharen in Wahllokale strömen«. Auch die Parteien von Links und Mitte konnten sich der Wirkung dieser araberfeindlichen Parolen nicht entziehen. Sie distanzierten sich von arabischen Wählern und Parteien aus Angst davor, als antizionistisch diskreditiert zu werden. In ihrer Strategie setzten beide Lager – sowohl die Rechten als auch Mitte-Links – mehrheitlich auf jüdische Wähler. Das Gros der arabischen Wähler wurde nahezu kampflos den arabischen Parteien Hadash, Balad, Ta’al und Ra’am überlassen.
Aufstieg und Fall der Vereinten Liste
Um die 2014 vor allem gegen sie eingeführte 3,25-Prozent-Hürde zu umgehen, schlossen sich vier arabische Parteien 2015 zur Vereinten Liste zusammen. Nachdem sie aus taktischen Gründen kurzzeitig aufgelöst worden war, trat sie zur Wahl der 22. Knesset im September 2019 erneut an, um mit vereinten Kräften mehr Einfluss für die arabischen Belange ausüben zu können. Auch für die Wahl zur 23. Knesset 2020 blieb das Bündnis bestehen.
Die harsche Zurückweisung durch die jüdischen Parteien und die geballte Präsenz der arabischen Parteien in der Liste hatten zur Folge, dass sich die arabischen Israelis, die nationalen Wahlen traditionell reserviert gegenüberstehen, nach und nach stärker mobilisierten. Ihre Wahlbeteiligung lag 2015 (20. Knesset) bei 63,4 und 2019 (22. Knesset) bei 59,2 Prozent, was dem Bündnis jeweils 13 Mandate bescherte. Sie kulminierte 2020 (23. Knesset) mit 64,8 Prozent und machte die arabische Liste mit 15 Mandaten zur größten Oppositionspartei im Parlament. Die neue Stärke bewirkte, dass arabische Parteien und damit arabische Stimmen zunehmend als relevante politische Kraft wahrgenommen wurden. Hiervon erhoffte sich die arabische Liste, ihre Außenseiterrolle eines Tages abzustreifen.
Diese neue Position nutzten die arabischen Abgeordneten nach der letzten Wahl 2020, um mit Benny Gantz – erstmals seit Yitzhak Rabin 1992 – geschlossen einem jüdischen Kandidaten offen ihre Unterstützung auszusprechen, damit dieser als erster Koalitionsgespräche führen konnte. Das Bündnis versprach sich davon, dass Netanjahu als Premierminister abgelöst würde.
Obwohl aber Gantz seine Verhandlungsposition mit Hilfe arabischer Stimmen verbessern konnte, distanzierte er sich von der Vereinten Liste und brach sein Versprechen, keine Regierungskoalition unter Netanjahu einzugehen. Die sogenannte Regierung der nationalen Einheit aus zionistischen Parteien von Rechts bis Mitte-Links sollte endlich politische Stabilität herbeiführen und sowohl arabische Abgeordnete als auch extrem rechte jüdische Parteien ausschließen. Daraufhin brach das Mitte-Links-Lager auseinander, das im Wahlkampf als »Anti-Bibi-Lager« aufgetreten war. Nur ein Teil seiner Abgeordneten wollte einer Koalition unter Netanjahu angehören. Daher blieb die neue Regierung instabil.
Der Vorsitzende der Vereinten Liste, Ayman Odeh von der Partei Hadash, büßte seinerseits an Glaubwürdigkeit ein. Er scheiterte mit seiner Strategie, in der Hoffnung auf künftige politische Zugeständnisse das gesamte politische Gewicht der arabischen Parteien dem »Anti-Bibi-Lager« zur Verfügung zu stellen. Zwar lag es unter anderem am starken Abschneiden der arabischen Liste, dass Netanjahu in den drei letzten Wahlen 2019 und 2020 keine Mehrheit für eine reine Rechtsregierung erhielt. Darüber hinaus aber konnte die Liste von ihrer Rekordzahl an Sitzen nicht profitieren.
Wettbewerb um arabische Stimmen
Weil die Vereinte Liste in einer Position außerhalb jeglicher Entscheidungsprozesse und Einflussmöglichkeiten verharrte, wuchs der Unmut über Odehs Kurs. So zeichnete sich die Abspaltung der Islamischen Bewegung (Ra’am) vom Bündnis ab. Vorangetrieben wurde dies vor allem durch den plötzlichen Kurswechsel des Premierministers Netanjahu, der sich angesichts einer kriselnden Regierungskoalition auf der Suche nach neuen Verbündeten befand. So konnte er in mehreren Fällen eine stillschweigende Kooperation mit Mansour Abbas arrangieren, dem Vorsitzenden der Islamischen Bewegung. Beispielsweise blieben Abgeordnete dieser Partei Anfang Dezember 2020 der Abstimmung über die Auflösung der Knesset fern, um nicht zusammen mit anderen Parlamentariern der Vereinten Liste für den Rücktritt der Regierung Netanjahu stimmen zu müssen. Auch verhinderte Abbas, dass die Rolle des Premiers in der U-Boot-Korruptionsaffäre untersucht wurde.
Nachdem die Knesset im Dezember 2020 aufgelöst und neue Wahlen für März 2021 anberaumt worden waren, begann Netanjahu seinen diesjährigen Wahlkampf mit Besuchen in mehreren arabischen Städten. Dazu zählte die größte arabische Stadt Nazareth, wo er vom Bürgermeister Ali Salam feierlich empfangen wurde. Zum ersten Mal in seiner Geschichte stellte Netanjahus Partei, der Likud, für die kommende Wahl einen muslimischen Araber als Kandidaten auf: Nail Zoabi soll in Netanjahus künftiger Regierung einen Ministerposten für arabische Angelegenheiten bekleiden. Obwohl er in der Kandidatenliste der Partei nur auf Platz 39 geführt wird, verspricht Netanjahu seinen Einzug ins Parlament. Mittel dazu ist das sogenannte Norwegische Gesetz. Es erlaubt künftigen Ministern, zugunsten anderer auf ihren Parlamentssitz zu verzichten.
Diese radikale Kehrtwende Netanjahus ist vor allem dadurch zu erklären, dass arabische Stimmen womöglich sein politisches Überleben sichern könnten. Angesichts der schwindenden Unterstützung in den Reihen des Likud nach der Abspaltung einer Gruppe unter seinem langjährigen Gefährten Gideon Saar und wegen der laufenden Korruptionsprozesse ist der Premier politisch angeschlagen. Zudem dient die Spaltung der arabischen Liste seinen strategischen Zielen: Schafft die Islamische Bewegung den Sprung in die Knesset, kann er auf ihre Rückendeckung hoffen; schafft sie ihn nicht, wird der rechte Block seiner Unterstützer gestärkt, weil die arabische Liste einige Mandate verlieren dürfte. Laut den jüngsten Umfragen wird sie nur noch auf neun bis zehn Sitze kommen.
Netanjahus Annäherung an die israelischen Araber veränderte in kürzester Zeit den Umgang anderer jüdischer Parteien mit diesen. Im Vorfeld der erneuten nationalen Wahlen im März 2021 kann man einen Wettbewerb politischer Akteure von links bis rechts um arabische Wähler beobachten.
Etliche jüdische Parteien sind nach drei Wahlgängen kurz hintereinander politisch und ideologisch zermürbt und müssen um ihren Einzug in die Knesset fürchten. Sie sind darauf angewiesen, ihre Wählerschaft zu erweitern, um noch genügend Stimmen zu sammeln. Die Einbindung arabischer Politiker würde sie gegenüber der arabischen Wählerschaft öffnen, so die Überlegung.
Die linkszionistische Partei Meretz präsentierte drei arabische Kandidaten auf den Plätzen vier, fünf und neun der neuen Parteiliste, mit der sie in den Wahlkampf einstieg. Auf den aussichtsreichen Plätzen fünf und vier befinden sich Issawi Frej, der schon einmal für Meretz in der Knesset saß, und Ghaida Rinawie Zoabi, Mitbegründerin und ehemalige Direktorin der Nichtregierungsorganisation Injaz, die sich für die Professionalisierung arabischer Lokalpolitik einsetzt. Diese Listenaufstellung ist bemerkenswert, da Meretz noch nie mehr als einen arabischen Kandidaten für vordere Plätze nominierte. Unter Führung des früheren Generals Ehud Barak konzentrierte sie sich bei den letzten Wahlen im März 2020 völlig auf die potentielle linkszionistische jüdische Wählerschaft und verzichtete auf arabische Kandidaten.
Ähnlich verhält es sich mit der Arbeitspartei (Awoda). Nachdem sie mit mehreren Abgeordneten an der Regierung der nationalen Einheit beteiligt gewesen war und sogar zwei Minister gestellt hatte, entschied sie sich für die kommende Wahl unter der neuen Führung von Merav Michaeli für einen geradezu entgegengesetzten Kurs. Mit der muslimischen Filmregisseurin Ibtisam Mara’ana und dem Drusen Amir Khniffes präsentierte sie zwei arabische Kandidaten auf Platz sieben und fünfzehn. Diese Platzierung ist nicht aussichtsreich, und Mara’ana wurde aufgrund antizionistischer Äußerunen beinahe nicht zur Wahl zugelassen. Die Aufstellung trägt jedoch eine symbolische Bedeutung, welche für die Erweiterung der Wählerschaft entscheidend ist. Laut den meisten Wahlprognosen vom Februar 2021 könnten sowohl Meretz als auch Awoda mit neuer Aufstellung knapp den Einzug in die Knesset schaffen, nachdem sie sich bei den letzten beiden Wahlen mit anderen Parteien zusammenschließen mussten.
Eine Annäherung an arabische Wähler findet auch im politischen Zentrum statt. Jair Lapid, Vorsitzender von Jesh Atid, die in Umfragen als zweitstärkste Partei hinter dem Likud rangiert, wird für die kommende Wahl als Anführer des »Anti-Bibi-Blocks« von Links und Mitte gehandelt. Lapid, der sich gegenüber arabischen Politikern bisher distanziert verhielt und abschätzig äußerte, verkündete, dass er eine Koalition mit arabischen Parteien nicht ausschließe.
Arabischer Diskurs: Zwischen Ideologie und Pragmatismus
Neu ist nicht nur, dass die jüdischen Parteien ihr Interesse an arabischen Wählerstimmen entdeckt haben. Es verstärkt sich auch der Wunsch der arabischen Bevölkerung nach politischer Integration und Beteiligung, wenngleich das Bild nicht einheitlich ist. Bis jetzt war die arabische Bevölkerung hauptsächlich durch die Vereinte Liste repräsentiert, die allerdings Vertreter unterschiedlicher Couleur umfasst: Kommunisten, gemäßigte und radikalere Nationalisten sowie bis vor kurzem Islamisten. Zum einen gibt es Reibungspunkte innerhalb dieser Parteien. So drohte die Liste im Sommer 2020 wegen einer Abstimmung über die Rechte von LGBT auseinanderzubrechen. Zum anderen entflammte ein Disput darüber, ob das Bündnis sich den politischen Umständen pragmatisch anpassen müsse. Weil die Islamische Bewegung mit rechten jüdischen Parteien kooperieren wollte, verließ sie die Vereinte Liste.
Die drei in der Vereinten Liste verbliebenen Parteien Hadash, Balad und Ta’al agieren weiterhin vor allem auf traditioneller ideologiebasierter politischer Linie. Sie akzentuieren die Zugehörigkeit der israelischen Araber zur Nation der Palästinenser. Zudem stellen sie den politischen Kampf für die Sicherung der demokratischen Rechte im Staat Israel in direkten Zusammenhang mit der Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Sie lehnen die Selbstbezeichnung des Staates Israel als »jüdisch und demokratisch« ab und setzen sich für eine vollwertige arabisch-palästinensische Identität in einem Staat gleicher Bürger ein. Diese Grundsätze dienen bei unterschiedlichen ideologischen Ausgangspunkten als gemeinsamer Nenner, sind aber innerhalb der israelischen Politik nicht durchsetzbar.
Außerdem schwindet seit Jahren der Einfluss der israelischen Linken. Daher wäre eine fortgeführte Kooperation der arabischen Liste mit Links für die nächsten Jahre voraussichtlich eine Zusammenarbeit mit einer schwachen Opposition ohne Machtoption. Zwar teilen die arabische Liste und die Linke grundsätzlich eine gemeinsame Sicht auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Als politisches Thema für die israelische Gesellschaft insgesamt und für weite Teile der arabischen Bevölkerung scheint dieser indes an Relevanz zu verlieren. Eine Umfrage von Dezember 2020 zeigte, dass der Konflikt erst an siebter Stelle aller Belange steht, die arabischen Israelis wichtig sind. Die Themen auf den vorderen sechs Plätzen betreffen dagegen ihre unmittelbare Lebenssituation. Mit großem Abstand steht das Problem der Kriminalität und Gewalt in arabischen Ortschaften an erster Stelle. Allein im Jahr 2020 wurden dort über 100 Morde und damit ein neues Hoch an Gewalt verzeichnet. Weitere essentielle Anliegen sind die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, die Planung und Regulierung des Bauwesens sowie die Integration in den israelischen Arbeitsmarkt.
Die nachlassende Anteilnahme der Bevölkerung an der palästinensischen Frage führt dazu, dass die Auffassungen vieler arabischer Israelis und die ihrer politischen Repräsentanten in der Knesset auseinanderdriften. Während etwa die Vertreter der Vereinten Liste die Normalisierung der Beziehungen zwischen arabischen Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain auf der einen und Israel auf der anderen Seite einstimmig verurteilten, stand die Mehrheit der arabischen Bevölkerung (61,8 Prozent) dieser Entwicklung positiv gegenüber. Als Gründe wurden unter anderem genannt, dass sich israelischen Arabern wie allen anderen israelischen Staatsbürgern dadurch neue touristische und ökonomische Möglichkeiten eröffnet hätten. Nur 35,5 Prozent dagegen lehnten die Normalisierung ab, da sie Nachteile für den Friedensprozess bringen könne.
Zudem scheinen konkrete Belange der arabisch-israelischen Wähler wie Sicherheit oder wirtschaftliche Prosperität zumindest im öffentlichen Auftritt der Vereinten Liste nicht genug Aufmerksamkeit erfahren zu haben. Die Zufriedenheit mit dem Parteienbündnis ist in den letzten Jahren gesunken. Entscheidend für israelische Araber sind mittlerweile Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation. Aus Sicht des Großteils der Bevölkerung hat die arabische Liste in diesem Bereich keine substantiellen Beiträge geliefert. Daher scheint die Zahl der Nichtwähler in der arabischen Gemeinde wieder zu wachsen. Besonders die Hoffnungen junger arabischer Israelis wurden enttäuscht, wie eine Umfrage im Februar 2021 zeigte. Vor allem die jüngere Generation möchte an politischen Entscheidungen beteiligt werden und gleicht darin immer mehr ihrem jüdischen Gegenüber. Es findet eine gesellschaftliche Integration statt, die dem Isolationismus der bisherigen arabischen Politik zuwiderläuft. Junge arabische Israelis von heute sind gut ausgebildet und in nahezu allen Berufen vertreten. Sie sind öffentlich weitaus präsenter als ihre Eltern und Großeltern und legen ein neues politisches Selbstbewusstsein an den Tag. Sie möchten die bestehenden demokratischen Möglichkeiten nutzen, um ihr politisches Gewicht im Staat zu erhöhen. Dieser Trend materialisiert sich im derzeitigen Wahlkampf als neuartiger arabisch-israelischer politischer Kurs.
Neuer Typus des arabischen Politikers
Jene arabischen Politiker, die von jüdischen Parteien für die kommende Wahl eingebunden werden, repräsentieren den Wechsel von ideologischer zu pragmatischer Politik und stärkerer politischer Integration. Die Schicksalsgemeinschaft der Palästinenser sowie die jüdische Identität des Staates spielen in ihrem öffentlichen Auftreten eine geringere Rolle und sind für ihre politische Agenda nicht mehr grundlegend. Ihr Schwerpunkt liegt darauf, die unmittelbaren Lebensumstände arabischer Israelis zu verbessern. Das soll von innen heraus gelingen, nämlich durch die Zusammenarbeit mit israelischen Institutionen und dem jüdischen politischen Establishment.
Ein Beispiel dafür ist Ghaida Rinawie Zoabi, arabische Kandidatin der linkszionistischen Partei Meretz. Nach eigenem Bekunden besteht ihre politische Agenda darin, den Status der arabischen Frauen zu erhöhen, die Qualität der arabischen Lokalverwaltungen zu steigern, Verteilungsgerechtigkeit zu erreichen und sich mit Bauwesen, sozialen Hilfeleistungen sowie Erziehung und Bildung zu beschäftigen. Rinawie Zoabi hat jahrzehntelange Erfahrung in Verhandlungen mit der israelischen Regierung. Sie verankert ihre politischen Forderungen in einem bürgerschaftlichen Diskurs, dem gemäß der arabischen Bevölkerung gleiche Rechte aufgrund der gleichen demokratischen israelischen Staatsbürgerschaft zustehen. Außer einer Angleichung der Lebensumstände meint sie damit auch das politische Mitspracherecht. In einem Interview mit der israelischen Tageszeitung The Marker sagte sie: »Heute gibt es eine junge arabische Generation, die Juden auf Augenhöhe begegnet und eine gleichberechtigte Staatsbürgerschaft fordert. Die Menschen […] wollen beeinflussen, was in [den arabischen Städten] Umm Al-Fahm und Rahat passiert, aber auch die Entscheidungsprozesse im gesamten Staat Israel.«
Auch die politischen Forderungen von Mansour Abbas, dem Vorsitzenden der Islamischen Bewegung (Ra’am), die bis Ende Januar 2021 Teil der Vereinten Liste in der Knesset war, betreffen explizit nicht mehr den israelisch-palästinensischen Konflikt, sondern das alltägliche Leben. Abbas pflegt eine realpolitische Rhetorik. Er verteidigte seinen neuen Kurs mit einer Ansprache im regierungsnahen Fernsehkanal Arutz 20. Dort rief er die israelischen Araber auf, »pragmatisch und nicht mehr nationalistisch« zu sein. Durch diesen Kurs erhofft er sich Unterstützung der israelischen Rechten für kommunale Belange, wie den Kampf gegen organisierte Kriminalität und Gewalt in arabischen Ortschaften. Am 1. März 2021 genehmigte das Regierungskabinett unter Netanjahu ein dafür vorgesehenes Budget von umgerechnet rund 38 Millionen Euro.
Bei seinem neuen Kurs handle es sich nicht um einen ideologischen, sondern um einen strategischen Wechsel, erklärte Abbas in der israelischen Tageszeitung Ma’ariv. Er selbst sei weder links noch rechts, sondern lediglich pragmatisch angesichts einer rechten Regierung, die wohl bleiben werde. Zugleich führt Abbas für den Schulterschluss mit Rechts ins Feld, bei soziokulturellen Themen gebe es Gemeinsamkeiten zwischen jüdischen Rechten und den religiösen und konservativen arabischen Politikern der Islamischen Bewegung und ihren Wählern.
Während Rinawie Zoabis Programm junge und urbane Wähler begeistern könnte, will die Islamische Bewegung unter Abbas abgehängte arabische Gruppen für sich gewinnen, wie die Beduinen der Negev. Zum einen gehören sie zur konservativen Wählerschaft, zum anderen sind sie schon lange frustriert wegen des desolaten Zustands ihrer Ortschaften und der gefühlten Untätigkeit der arabischen Liste.
Den neuen Typus des arabischen Politikers verkörpert auch der politische Analyst Mohammad Darawshe, der im Januar seine neugegründete arabisch-israelische Partei Ma’an vorstellte. Ma’an heißt auf Arabisch »zusammen« und spielt auf die Partnerschaft und Koexistenz von Juden und Arabern an. Von vornherein stellte Darawshe klar, dass seine Partei Israel als »jüdischen Staat« anerkenne. Zwar sei er, versicherte Darawshe, selbstverständlich an einer friedlichen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts interessiert. Anders als die Parteien der Vereinten Liste aber werde Ma’an sich grundsätzlich nur innerisraelischen Themen widmen, statt eine »ideologisierte« Regional- und Außenpolitik zu betreiben.
Der neue Kurs der arabischen Politiker bringt strategische Vorteile mit sich. Im Gegensatz zu arabischen Kandidaten, die offensiv ihre Zugehörigkeit zur anderen Konfliktpartei im israelisch-palästinensischen Konflikt betonen und in Opposition zum Staat stehen, präsentieren sie sich in erster Linie als israelische Staatsbürger und sind politisch anschlussfähig. Deshalb können sie sowohl von jüdischen Parteien als auch von der jüdischen Mehrheit leichter als Partner akzeptiert werden. Die Politiker selbst erhoffen sich mit der neuen Rhetorik und der rein innerisraelischen Agenda größere Chancen auf politischen Einfluss und Regierungsnähe und signalisieren Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Damit greifen sie zwei Anliegen der arabisch-israelischen Bevölkerung gleichzeitig auf, nämlich ihren zunehmenden Wunsch nach politischer Integration und ihre Forderung nach mehr Aufmerksamkeit für ihre konkreten Probleme.
Dass der Ansatz der neuen arabischen Politik längerfristig erfolgreich sein kann, zeigen Erfahrungen in der Kommunalpolitik. Dort funktioniert jüdisch-arabische Zusammenarbeit über verschiedene politische Lager hinweg, da ideologisch spaltende Themen wie etwa der israelisch-palästinensische Konflikt ausgeklammert werden.
Vorreiter Kommunalpolitik
Kommunalpolitik zeichnet sich auch in Israel dadurch aus, dass sie kaum ideologisch ist. Im Gegensatz zur nationalen Politik sind ihre Themen völlig vom israelisch-palästinensischen Konflikt und von Fragen staatlicher Identität abgekoppelt. Nicht einmal das weltweit Aufmerksamkeit erregende Nationalstaatsgesetz, das wenige Monate vor der Kommunalwahl 2018 verabschiedet wurde und Israel als Nationalstaat des jüdischen Volkes festschrieb, war Gegenstand der lokalen Wahlkampagnen im arabischen Sektor.
Die Kommunalpolitik in arabischen Gemeinden befasst sich vorwiegend mit internen, die eigene Gruppe betreffenden Themen. Es sind dieselben Anliegen, denen sich auch die arabischen Politiker Rinawie Zoabi, Abbas oder Darawshe widmen. Diese verfolgen ebenfalls keine gesamtgesellschaftliche, sondern eine arabisch-israelische Agenda. Es geht ihnen darum, die konkreten Lebensumstände arabischer Israelis zu verbessern. Vordringlich dabei sind Fragen von Sicherheit, Wohnungsbau, Erziehung und städtischer Infrastruktur. Das sind typische Arbeitsbereiche kommunaler Politik.
Wie der praktische Schwerpunkt ist auch die argumentative Grundlage nicht neu. Für Kommunalpolitiker ist die Betonung der gleichen israelischen Staatsbürgerschaft für Juden wie Araber die einzig sinnvolle Strategie, um die eigene Verhandlungsposition vis-à-vis staatlichen Institutionen zu verbessern. Der pragmatische und zielgerichtete Ansatz arabischer Kommunalpolitiker besteht darin, auf die konkrete Benachteiligung arabischer Staatsbürger gegenüber jüdischen hinzuweisen und das staatliche Interesse daran zu unterstreichen, dieses Ungleichgewicht langfristig zu beseitigen. Beispielsweise konnte nach intensiven Verhandlungen der arabischen Akteure, darunter Rinawie Zoabi, mit der israelischen Regierung 2015 ein Fünfjahresplan für die wirtschaftliche Entwicklung arabischer Kommunen verabschiedet werden. Er hatte zum Ziel, staatliche Mittel so umzuverteilen, dass arabische Kommunen proportional zu den 20 Prozent des Anteils arabischer Israelis an der Gesamtbevölkerung gefördert wurden. Der Plan sah ein Budget von bis zu umgerechnet rund 3,8 Milliarden Euro vor und wurde im Herbst 2020 um ein zusätzliches Jahr verlängert.
An der Kommunalpolitik lässt sich zugleich ablesen, dass arabische Israelis politische Mittel durchaus für sich nutzen wollen. Zwar liegt ihre Teilnahme an nationalen Wahlen weiterhin unter dem Bevölkerungsdurchschnitt. Die Beteiligung an Kommunalwahlen in arabischen Ortschaften ist jedoch viel höher als in jüdischen Kommunen. 2018 betrug sie 85 Prozent, gegenüber nur 61 Prozent im Schnitt. Falls die nationale Politik die Bedürfnisse arabischer Israelis künftig ebenso konkret berücksichtigt, könnte deren Wahlbeteiligung auch auf nationaler Ebene steigen.
Arabisch-jüdische Zusammenarbeit
Während arabische Parteien seit Bestehen des Staates nie an der Regierung beteiligt waren, finden sich in der Kommunalpolitik durchaus Koalitionen aus jüdischen und arabischen Parteien. Gemeinsame Verwaltungen bestehen in großen gemischten Städten wie Tel Aviv-Jaffa und Haifa, deren Bürgermeister der traditionell im Mitte-Links-Lager verorteten Arbeitspartei angehören. Zugleich wuchs die Zahl jüdisch-arabischer Verwaltungen in Städten, wo rechtsnationale jüdische Parteien die Bürgermeister stellen, wie etwa der Likud und die russischsprachige Partei Israel Beitenu. Solche jüdisch-arabische Verwaltungen gibt es vermehrt seit der Kommunalwahl 2018, ein überraschendes Ergebnis dieser Wahl. Dazu gehören so unterschiedliche gemischte Städte wie Akko, Lod, Ramla, Nof Hagalil oder Ma’alot Tarshiha. Neben der Demographie sprechen für die neue Zusammenarbeit vor allem gemeinsame Interessen.
Städtische Angelegenheiten wie die Förderung von Wohnungsbau, Straßenverkehr oder Sport- und Erholungsstätten betreffen alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen, ungeachtet ihrer Gruppenzugehörigkeit. In der Kommunalpolitik können sich Juden und Araber auf gemeinsame Themen konzentrieren, die nicht polarisieren.
Diese Praxis könnte als Vorbild für nationale Politik dienen, besonders wenn sich daraus für beide Seiten Vorteile ergeben. Für arabische Kommunalpolitiker überwiegt der Nutzen einer Zusammenarbeit, denn sie erhalten besseren Zugang zum Budget und können deshalb wirkungsvoller im Sinne ihrer Wähler agieren. Allerdings gibt es in gemischten jüdisch-arabischen Städten kaum Chancen auf einen arabischen Bürgermeister. Darum bleibt arabischen Politikern oft nichts anderes übrig als zu kooperieren, um ihre Bevölkerungsgruppe mit annähernd so viel Finanzmitteln ausstatten zu können, wie sie die jüdische Bevölkerung erhält. Diese Überlegung könnte auch für die Arbeit in der Knesset gelten, in der die Machtkonstellation ähnlich ist.
Auch für jüdische Koalitionspartner ist die Einbindung arabischer Parteien aus pragmatischer Sicht von Interesse. Es ergibt Sinn, möglichst viele Abgeordnete mit den gleichen kommunalpolitischen Zielen zu beteiligen. Auf diese Weise lässt sich effektiver regieren.
Die verstärkte lokale Kooperation zwischen jüdischen und arabischen Abgeordneten bedeutet allerdings nicht unbedingt, dass eine ideologische Annäherung stattfindet. Dies kann auch auf nationaler Ebene nicht erwartet werden. Vielmehr lassen sich ideologische Differenzen auf kommunaler wie nationaler Ebene leichter ausblenden, wenn sich pragmatische Akteure zusammenfinden.
In der Kommunalpolitik unterscheidet sich die Qualität der tatsächlichen Kooperation von Ort zu Ort und hängt von den jeweiligen Politikern und politischen Umständen ab. Einerseits bekleiden arabische Politiker in vielen der betreffenden Städte hohe Positionen, etwa die der stellvertretenden Bürgermeister unter anderem in Akko, Ma’alot Tarshiha und Nof Hagalil. Andererseits bleibt das Zusammenleben zwischen Juden und Arabern weiterhin von Konflikten geprägt, wie beispielsweise in der Stadt Lod, deren Bürgermeister Jair Revivo oft durch araberfeindliche Äußerungen auffiel. Angesichts der Segregation der beiden Bevölkerungen – auch in gemischten Städten leben sie in unterschiedlichen Vierteln – ist jedoch jegliche Zusammenarbeit als positiv zu werten. Das gilt auch dann, wenn sie pragmatisch begründet ist und erst einmal wenig über die tatsächliche Beziehung zwischen den beiden Gruppen aussagt.
Ausblick
Erstmals auf nationaler Ebene lässt sich in diesem Wahlkampf ein Prozess wahrnehmen, der sowohl auf kommunaler Ebene als auch im Diskurs der arabischen Bevölkerung schon länger voranschreitet. Innerhalb der arabisch-israelischen Politik findet eine Diversifizierung statt, welche die gesamte politische Landschaft längerfristig verändern könnte. Neben der traditionellen Politik der Vereinten Liste, die gesellschaftliche Streitfragen hervorhebt, treten arabische Politiker und Politikerinnen in den Vordergrund, die Sachfragen stärker in den Mittelpunkt stellen. Damit folgen sie den aufkeimenden Wünschen von Teilen der arabisch-israelischen Bevölkerung. Diese möchten mehr politische Beteiligung und eine aktive Politik, die konkreten israelisch-arabischen Interessen dient, allen voran größere Sicherheit und bessere Lebensbedingungen.
Zwar dürften in der kommenden Wahl viele arabische Israelis der geschrumpften Vereinten Liste und dem politischen Isolationismus die Treue halten. Dennoch kann bereits von einer schleichenden »Normalisierung« gesprochen werden. Sie äußert sich darin, dass israelische Araber sich stärker in den Staat integrieren möchten und dabei vermeiden wollen, dass ihre Interessen als israelische Staatsbürger von einer übergreifenden palästinensischen Identität und der Solidarität mit Palästinensern im Nahostkonflikt verdeckt werden. Umgekehrt sind zuvor nicht gekannte, mitunter nicht vorstellbare Bemühungen zionistischer Parteien zu beobachten, arabische Stimmen für sich zu gewinnen oder gar mit arabischen Parteien zu kooperieren.
Schon in der bevorstehenden Wahl wird sich erweisen, wie erfolgreich diese Ansätze einer Normalisierung sein werden. Die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, ist innerhalb der israelischen Politik und Bevölkerung mittlerweile vorhanden.
Lidia Averbukh ist Wissenschaftlerin im Projekt »Israel in einem konfliktreichen regionalen und globalen Umfeld: Innere Entwicklungen, Sicherheitspolitik und Außenbeziehungen«. Das Projekt ist in der SWP-Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika angesiedelt und wird vom Auswärtigen Amt gefördert.
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doi: 10.18449/2021A21