Im Dezember 2020 vollendete Alberto Fernández das erste Jahr seiner Amtszeit als argentinischer Regierungschef. Seine Präsidentschaft fällt in eine extrem kritische sozioökonomische Lage, die noch verschärft wird durch eine besorgniserregende Entwicklung der Covid-19-Pandemie. Und dennoch herrscht in der südamerikanischen Republik eine gewisse institutionelle Stabilität, die umso bemerkenswerter erscheint, wenn man sich die Geschichte des Landes und die Gegenwart der Region vor Augen führt. Der verbündete Peronismus in der Regierung, eine konstruktiv agierende Allianz in der Opposition und die Geduld der Bevölkerung, die das wirtschaftspolitische Scheitern der Vorgängerregierung noch frisch in Erinnerung hat, tragen dazu bei, dass sich das Land aktuell in einer dynamischen politischen Balance befindet. Doch längerfristig könnten wachsende Armut, anhaltende Rezession und Inflation sowie Spaltungen innerhalb der peronistischen Bewegung den sozialen Frieden gefährden.
Die turbulente Geschichte Argentiniens hat zwei politische Thesen von mythischer Dimension hervorgebracht: Die eine besagt, dass es keinem Staatsoberhaupt, das nicht dem peronistischen Lager angehört, gelingen kann, seine Amtszeit regulär zu Ende zu bringen, die andere, dass der Peronismus, wenn er bei Wahlen geeinigt antritt, unbesiegbar ist. Im Dezember 2019 konnte Mauricio Macri von der Mitte-Rechts-Allianz Cambiemos (dt. Lasst uns verändern) seine vierjährige Präsidentschaft ordnungsgemäß beenden und damit die erste These widerlegen. Zwei Monate zuvor hatte die »Front aller« (span. Frente de Todos) die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gewonnen. Zu dieser Front hatte sich die heterogene peronistische Bewegung zusammengeschlossen, die ein breites ideologisches Spektrum umfasst und sich nicht selten mit mehreren Bündnislisten an Wahlen beteiligt. Der Wahlsieg der peronistischen Allianz im Oktober 2019 bestätigte die zweite These.
Der Machtwechsel vollzog sich im verfassungsrechtlichen Rahmen und hatte – wie 2015 –in erster Linie wirtschaftspolitische Gründe. Die makroökonomische Fehlentwicklung Argentiniens, für die mehrere Regierungen unterschiedlicher Couleur verantwortlich sind, wurde im Laufe der letzten Dekade immer offensichtlicher und nimmt inzwischen bedrohliche Züge an.
Eine »chronische Krise«
Die argentinische Volkswirtschaft wuchs zuletzt im Jahr 2011 über dem weltweiten Durchschnitt. Seither schwankte die Wachstumskurve jährlich zwischen schwarzen und roten Zahlen, um 2018 ganz in den negativen Bereich zu schwenken, wo sie sich bis heute bewegt (rund -10,5% des BIP im Jahr 2020). Auf die (nach Venezuela) zweithöchste Inflationsrate in Lateinamerika (43,5% [2020]) reagiert die Regierung unter anderem mit Preiskontrollen. Das niedrige Vertrauen in die eigene Währung veranlasst große Teile der Bevölkerung dazu, – wann immer möglich – Dollar zu kaufen. Die Regierung von Fernández begegnet der hohen Dollar-Nachfrage, wie schon Kirchner und Macri zuvor, mit Wechselkurskontrollen und der sogenannten »Wechselklemme« (cepo cambiario), einem Limit für die Dollarmenge, die Privatpersonen erwerben können. Im Schatten dieser Maßnahmen grassiert ein Devisenschwarzmarkt; die Wechselkurskluft (brecha cambiaria) zwischen diesem Parallelmarkt und dem offiziellen Markt setzt die Regierung zusätzlich unter Druck.
Diese sieht sich auch einer Außenverschuldung von rund 335 Milliarden US-Dollar gegenüber, die circa 101 Prozent des BIP entspricht. Während Finanzminister Martín Guzmán im August 2020 mit den privaten Gläubigern eine Vereinbarung zur Umstrukturierung der Schulden erreichen konnte, dauern die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) noch an. Das im Jahr 2018 gewährte Darlehen in Höhe von 50 Milliarden US-Dollar war der höchste Kredit in der Geschichte der Finanzinstitution und machte Argentinien zu deren Hauptschuldner.
Im Jahr 2020 verschärfte sich die Lage im Zuge der Corona-Krise ungemein: Die Staatseinnahmen brachen um 14 Prozent, die Investitionen sogar um 28,7 Prozent ein, und auch der private (-14,5%) und der öffentliche Konsum (-5,5%) sowie die Exporte (-8,7%) gingen zurück. In Argentinien leben heute 40,9 Prozent der Bevölkerung in Armut; davon 10,5 Prozent in extremer Armut.
Die akute Herausforderung
Bezogen auf seine Bevölkerungsgröße weist Argentinien (nach Brasilien) die zweithöchste Zahl an Covid-19-Infektionen (42 771 / 1 Mio. Menschen) und (nach Peru und Mexiko) die dritthöchste an Todesfällen (1 066 / 1 Mio. Menschen) in der Region auf. Dies ist ein Armutszeugnis für ein Corona-Management, das in der Anfangsphase Erfolg versprach und weltweit Lob erhielt. Präsident Fernández organisierte bereits Anfang März 2020 interministerielle Treffen mit externer Fachberatung. Wenig später erklärte die Regierung den Gesundheitsnotstand und führte die Quarantäne sowie zeitlich begrenzte Ausgangssperren ein. Fernández präsentierte in Fernsehansprachen wiederholt seine Strategie zur Eindämmung der Pandemie, koordinierte sich mit den Gouverneuren und tauschte sich mit der Opposition aus. Die Bevölkerung begrüßte zunächst das integrative Handeln des Präsidenten: Im März 2020 bewerteten 97 Prozent der Befragten seine Regierung positiv; im April stiegen seine Zustimmungswerte auf 84,2 Prozent.
Zu Beginn des argentinischen Sommers lockerte die Regierung die Restriktionen. Es bleibt jedoch ungewiss, ob nach den Ferien die Bildungseinrichtungen ihre Aktivitäten im März regulär werden wiederaufnehmen können. Im vergangenen Jahr gab es lediglich zwei Wochen lang Präsenzunterricht. Schatten auf die Corona-Politik werfen indes Korruptionsvorwürfe und gravierende Menschenrechtsverletzungen durch Gouverneure (etwa in Formosa) im Kontext der Pandemie. Auch eine Impfkampagne mit dem russischen Vakzin Sputnik V, der breite Bevölkerungsteile misstrauen, ist umstritten.
Die Regierung hat versucht, die verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Krise abzufedern. Sie hat Transferleistungen aufgestockt, Arbeitgeberbeiträge gesenkt, Gehaltszahlungen anteilig übernommen, das Arbeitslosengeld erhöht, Zuschüsse für Selbstständige und Beschäftigte im informellen Sektor sowie Sonderzahlungen für medizinisches und Pflegepersonal beschlossen.
Politisch-institutionelle Vorzüge
Mit der prekären sozioökonomischen und gesundheitlichen Lage und der traditionellen Protestbereitschaft der Argentinierinnen und Argentinier kontrastiert die relative politische Ruhe, die im Lande zurzeit herrscht. Argentinien blieb bisher verschont von den Massenmobilisierungen, die seit über einem Jahr in vielen südamerikanischen Staaten stattfinden. Anders als in Bolivien, Brasilien oder Venezuela – aber auch den USA – gehen Wahlprozesse und Machtwechsel friedlich vonstatten. Zudem gibt es weder Impeachment-Versuche noch institutionelle Blockadeaktionen zwischen Legislative und Exekutive, wie etwa in Peru. Im Unterschied zu Chile wird auch die Legitimität der Verfassung nicht hinterfragt. Dieser Vergleich, der über die bestehenden demokratischen und rechtsstaatlichen Defizite Argentiniens nicht hinwegtäuschen soll, zeugt doch von einer dynamischen Balance im politischen Wettbewerb und einer relativen Funktionsfähigkeit der Institutionen.
Das (erste) Corona-Jahr konnte sogar mit einem »Fest der repräsentativen Demokratie«, wie von vielen euphorisch gefeiert, abgeschlossen werden: Bürgerinnen und Bürger verfolgten am 30. Dezember im Fernsehen, im Internet oder auf Leinwänden auf dem Platz des Kongresses die Abstimmung im Senat über die Legalisierung der Abtreibung. Über Stunden gaben die Senatsmitglieder der Reihe nach ihr Statement zu der Entscheidung ab, bevor sie sich für oder gegen die bereits durch die Abgeordnetenkammer angenommene Gesetzesinitiative der Exekutive aussprachen bzw. sich der Stimme enthielten. Die Abstimmung verlief quer zu den Parteiengrenzen. Die Genderzugehörigkeit offenbarte sich als stärkerer Faktor als die Parteizugehörigkeit, denn überdurchschnittlich mehr Frauen unterstützten die Legalisierung. Somit wurde Argentinien – neben Kuba und Uruguay – zum dritten lateinamerikanischen Land, in dem gesetzeskonform und auf Kosten des Staates abgetrieben werden darf. Unabhängig vom Ergebnis, über das sich die öffentliche Meinung spaltete, freute sich eine breite Mehrheit der Bevölkerung über den funktionierenden demokratischen politischen Prozess, der durch einen intensiven Austausch zwischen der Zivilgesellschaft und den Parteien geprägt gewesen war.
Auch wenn die Legalisierung der Abtreibung in erster Linie als Errungenschaft der feministischen Bewegung anzusehen ist und bereits unter der Macri-Regierung im Kongress debattiert worden war, punktet der regierende Peronismus mit diesem Beschluss bei der (traditionell nicht-peronistischen) gebildeten urbanen Mittelschicht. Zudem löste Präsident Fernández damit ein zentrales Versprechen seines Wahlkampfs ein – in einem Corona-Jahr ohne weitere nennenswerte Policy-Erfolge.
Der geeinte Peronismus
Der Peronismus ist eine breite und heterogene politische Bewegung populistischer Tradition. Zu ihr gehören nicht nur die Justizialistische Partei (Partido Justicialista) und die Gewerkschaften, sondern auch andere politische Strömungen und soziale Gruppierungen wie etwa die Jugendorganisation La Cámpora oder der Movimiento Evita. Je nach politischem Kontext halten diese peronistischen Kräfte zusammen oder konkurrieren miteinander.
Der Wahlsieg vom Oktober 2019 war das Produkt einer von Cristina Kirchner konzipierten Wahltaktik. Die Führungsfigur des linken Flügels im Peronismus, des sogenannten »Kirchnerismus« (bzw. K-Peronismus), und ehemalige Präsidentin bemühte sich, das peronistische Lager wieder zusammenzubringen, aber auch Teile der nicht-peronistischen Wählerschaft anzusprechen, um die Wiederwahl Macris zu verhindern. Dies gelang ihr durch die Bildung eines breiten Wahlbündnisses und die Aufstellung eines moderaten, ihr gegenüber sogar kritisch eingestellten Peronisten als Präsidentschaftskandidaten. Sie begleitete Alberto Fernández, der einst Kabinettchef von Präsident Néstor Kirchner gewesen war, als Kandidatin auf die Vizepräsidentschaft durch den Wahlkampf, an dessen Ende der Peronismus – mit dem Rückenwind der katastrophalen Wirtschaftspolitik Macris – erneut in die Casa Rosada einzog.
Nach dem gemeinsamen Erfolg erheben die verschiedenen peronistischen Flügel Anspruch auf Mitgestaltung der Regierungspolitik sowie auf Posten in Kabinett und Verwaltung. Fernández erhöhte die Zahl der Ministerien, die Macri drastisch reduziert hatte, von 12 auf 21. Davon werden vier von Frauen geleitet. Die Regierung ähnelt in ihrer Funktionslogik einer Koalitionsregierung und hat im föderalen Argentinien die Rückendeckung der großen Mehrheit der Gouverneure (unter denen mehr Nicht-K- als K-Peronisten sind).
Im Abgeordnetenhaus lassen sich innerhalb der peronistischen Fraktion (mit rund 46% der Mandate) grosso modo drei Blöcke identifizieren: der K-Peronismus, der Nicht-K-Peronismus und die von Sergio Massa geführte Erneuerungsfront. Ähnlich verhält es sich innerhalb des Oppositionsbündnisses Juntos por el Cambio (Zusammen für den Wandel, mit rund 45% der Mandate), das aus drei politischen Parteien besteht: die PRO von Macri, die traditionsreiche UCR und die kleinere CC. Im Senat ist die Fragmentierung durch eine höhere Präsenz von Provinzparteien größer. Dennoch lassen sich auch hier zwei Lager erkennen, mit stärkerer Repräsentation der Kräfte, die die Regierung unterstützen (mit ca. 60% der Mandate). Dadurch stellt sich der legislative Willensbildungsprozess insgesamt als relativ strukturiert und zentripetal dar. Darin liegt die funktionale Dimension dessen, was in Argentinien als la grieta (der Riss) bezeichnet und als starke Polarisierung zwischen Peronismus und Anti-Peronismus erlebt wird.
Es ist klar zu erkennen, dass Präsident Fernández und Vizepräsidentin Kirchner zusammen darauf hinwirken, den Peronismus geeint zu halten; ungewiss ist hingegen, wie viel Einfluss die Vizepräsidentin tatsächlich auf die Regierungspolitik hat. Cristina Kirchner ist wie andere Mitglieder ihrer ehemaligen Regierung (2007–2015) und ihr Sohn, der Abgeordnete Máximo Kirchner, in Korruptionsaffären verwickelt. Gegen sie wird in zehn Fällen strafrechtlich ermittelt – ein Umstand, den die Vizepräsidentin als »Lawfare« bewertet, als politisch motivierte juristische Verfolgung durch Macri-freundliche Richter. In diesem Zusammenhang wird im Kongress über eine Justizreform debattiert. Auch eine präsidentielle Begnadigung bzw. ein Amnestiegesetz sind in der Diskussion. Beide Vorhaben sind selbst innerhalb des Peronismus umstritten.
Die Parlamentswahlen 2021
In der Vorausschau auf die Kongressteilwahlen im Oktober 2021 ermittelte das Meinungsforschungsinstitut Zuban Córdoba & Asociados im Dezember letzten Jahres eine größere Wahlabsicht für die regierende peronistische Front (34,1%) als für das Oppositionsbündnis (22,9%); ein Viertel der Befragten war noch unentschieden. Dabei ist die »Front aller« ungleich beliebter unter den Jüngeren, den Frauen und den Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau. Insgesamt sind die Aussichten der Regierung auf eine Verstärkung ihrer Basis in der Legislative – trotz der dramatischen sozioökonomischen Entwicklung – gut.
Mehrere Faktoren tragen aktuell zum sozialen Frieden bei: die frische Erinnerung an die von Macri enttäuschten Hoffnungen; das Verständnis für die besondere Herausforderung der Pandemie; die Erhöhung staatlicher Zuwendungen sowie der nicht-konfrontative Führungsstil des Präsidenten. Auch die Opposition, die sich Chancen bei den nächsten Präsidentschaftswahlen ausrechnet, agiert konstruktiv. Dass der soziale Aufruhr (estallido social) in Argentinien bisher ausblieb, ist vielleicht das bedeutendste Verdienst der Regierung Fernández. Doch der soziale Frieden bleibt fragil und könnte gefährdet sein, sollten sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung in der nahen Zukunft nicht spürbar verbessern oder ernste Konflikte zwischen den peronistischen Gruppierungen entstehen.
Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2021A11