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Open-Skies-Vertrag in Gefahr

Nach dem Austritt der USA will nun auch Russland folgen

SWP-Aktuell 2021/A 10, 04.02.2021, 4 Seiten

doi:10.18449/2021A10

Forschungsgebiete

Nachdem die USA am 22. November 2020 den multilateralen Vertrag über den Offe­nen Himmel (OHV) verlassen haben, hat nun auch Russland angekündigt, den Austritt vorzubereiten. Macht Moskau ihn wahr, würde es vollenden, was Präsident Trump begonnen hat. Zwar ist ungewiss, wie die anderen 32 Vertragsstaaten reagieren, doch hätte der OHV seinen strategischen Zweck auf jeden Fall eingebüßt. Die europäische Rüstungskontrolle verlöre einen weiteren Eckpfeiler, und die militärische Lage würde noch instabiler, als sie ohnehin ist. Weil er gemein­same Beobachtungsflüge über den Vertragsstaaten gestattet, bewahrt der OHV nämlich auch in Krisenzeiten ein Mindest­maß an militärischer Transparenz und Vertrauensbildung. Der Kreml bewiese erneut, dass ihm »strategische Augenhöhe« mit den USA wichtiger ist als die Sicherheits­kooperation mit den Europäern. Zwar ist die Biden-Administration nicht abgeneigt, in den OHV zurückzukehren, doch genießt dies weder Priorität, noch dürfte sie dafür die nötige Mehrheit im Senat finden. Der Vertrag wird nur zu ret­ten sein, wenn sich die Staats- und Regierungschefs Deutschlands und der euro­päischen Partner nachdrücklich dafür einsetzen.

Der OHV erlaubt kurz angekündigte Beob­achtungsflüge über den Hoheitsgebieten der 33 Vertragsstaaten im OSZE-Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok. Er bezweckt, die Transparenz militärischer Aktivitäten auch in Krisenzeiten zu gewähr­leisten und die Verifikation von Rüstungskontrollvereinbarungen zu verdichten. Damit trägt er zur Vertrauensbildung und zu einer realistischen Lagebeurteilung bei.

Russland und die USA haben vor deren Vertragskündigung OH-Flüge auch dazu genutzt, Stellungen strategischer Nuklearwaffen zu überfliegen. Doch amerikanische OH-Maschinen flogen seit 2002 fast dreimal so oft über Russland (mehr als 200 Einsätze) wie russische über den USA (etwa 70 Flüge). Die russischen Beobachtungsflüge konzen­trierten sich zu 87% auf Europa. Von ins­gesamt 1 500 OH-Flügen seit 2002 führten westliche Staaten rund 500 Beobachtungsmissionen über Russland durch.

Das hohe Interesse am OHV hat Moskau auch dadurch demonstriert, dass es in zwei neue OH-Flugzeuge und ihre Ausrüstung mit digitalen Sensoren investierte und deren internationale Zertifizierung voran­trieb. Bisher haben nur Deutschland und Rumänien vergleichbare Schritte unternommen.

Moskau zieht Augenhöhe mit USA der Kooperation mit Europa vor

Die Trump-Regierung hat den Austritt der USA aus dem OHV damit begründet, dass Russland unzulässige Flugstreckenbegrenzungen über Kaliningrad und an den um­strittenen Grenzen Georgiens festgelegt habe. Doch auch die USA haben seit 2017 russische Flüge über Alaska und den pazi­fischen Inseln eingeschränkt.

Zwar teilen die Nato-Verbündeten die Bedenken der USA, haben aber, anders als Georgien, keinen substantiellen Vertragsbruch geltend gemacht. Noch im Februar 2020 flogen amerikanische Maschinen mit balti­schen Beobachtern an Bord über Kali­nin­grad. Russ­land ließ eine geringfügige Aus­dehnung der Flugstrecke über die ein­seitige Begrenzung hinaus zu.

Gleichwohl scheiterten europäische Ver­suche, die Trump-Regierung vom Aus­tritt der USA aus dem OHV abzuhalten. Er trat am 22. November 2020 in Kraft.

Moskau reagierte ambivalent auf das europäische Interesse, den OHV gemeinsam mit Russland weiterhin zu implementieren. Dort konkurrieren offenbar zwei Interessen­­gruppen. Die eine will, dass Russland stets auf strategischer Augenhöhe mit den USA agiert und keine ungleichen Ver­träge tole­riert. Anderenfalls könnten die Nato-Ver­bündeten den USA Informationen aus den jährlich bis zu 42 OH-Flügen über Russland zugänglich machen, während russische OH-Flug­zeuge nicht über den USA fliegen dürf­ten. Das andere Lager gibt der Sicherheitskoopera­tion mit Europa den Vorzug und möchte den OHV weiter umsetzen.

Bei der Sonderkonferenz der OH-Ver­trags­staaten im Juli 2020, der Flugquotenverteilung für 2021 und der Überprüfungskonferenz im Oktober 2020 bekannte sich Russ­land zunächst wie die übrigen 32 Vertrags­staaten dazu, sich auch künftig an die OHV-Be­stimmungen zu halten. Die sechs Flug­quoten, die für die Beobachtung der USA im Jahr 2021 vorgesehen waren, verteil­te es auf Flüge über europäischen Staaten.

Allerdings stellte Moskau nachdrücklich folgende Forderungen: Erstens sollen die Partnerstaaten rechtsverbindliche Garantien geben, dass rus­si­sche Beobachtungsflüge weiterhin deren gesamtes Hoheitsgebiet abdecken dürfen, einschließlich der US-Militärbasen. Polen hatte zwar im Frühjahr 2020 russischen Beobachtern einen Flug­abschnitt verweigert, der über die künftige US-Rake­ten­abwehr­stellung in Redzikowo bei Slupsk führen sollte, dies aber später gestattet. Zweitens sollen die Partner rechts­verbindlich zusichern, an die USA keine Daten weiterzugeben, die bei Beobachtungsflügen über Russland gewonnen werden.

Die westlichen Vertragsstaaten widersprachen dem nicht, hielten aber Son­der­beschlüsse für unnötig, da beide Forde­rungen bereits im Vertragstext und in den Folge­beschlüssen der OH-Beratungskom­­mission (OSCC) enthalten sind.

Demnach dürfen die Vertragsstaaten Flüge über ihrem Hoheitsgebiet nicht ein­schränken, sofern sie den Vertragsbedingungen entsprechen und die Flugsicherheit nicht gefährden. Daten, die während der Flüge gewonnen werden, dürfen nur für Vertragszwecke genutzt werden und sind als »sensible Informationen« zu schützen.

Nur wenn internationale Organisationen um außerordentliche Flüge bitten, etwa zu Zwecken des Krisenmanagements oder des Umweltschutzes, können Ausnahmen ver­einbart werden. Sie bedürfen allerdings der Beratung in der OSCC und der ausdrück­li­chen Zustim­mung der betroffenen Staaten.

Dennoch reichte Russland am 11. Dezem­­ber 2020 eine Beschlussvorlage ein, die den bisherigen Text der OSCC-Entscheidung zum Schutz sensibler Daten revidieren soll. Keinesfalls dürften Daten aus OH-Flügen an Nichtvertragsstaaten weitergegeben werden.

Die zuständige OSCC-Arbeitsgruppe woll­te den Entwurf routinemäßig beim näch­sten Arbeitstreffen am 25. Januar 2021 be­handeln. Das russische Außenministerium wertete das als unzureichende Reaktion der Partner. Am 22. Dezember 2020 forderte es die Vertragsstaaten auf, dem Entwurf bis zum 1. Januar 2021 zuzustimmen und rechtsverbindlich zu erklären, dass beide Forderungen erfüllt werden. Anderenfalls müsse Russland den OHV kündigen.

In einem Brief an Außenminister Law­row sagten die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und 14 weiterer Vertragsstaaten am 30. Dezember 2020 zu, den OHV voll zu implementieren und offe­ne Fragen in den zuständigen Arbeitsgruppen zu klären. Sie wiesen dar­auf hin, dass sich die russischen Forderungen bereits aus dem Vertragstext und den Beschlüssen der OSCC ergäben, boten aber an, das russische Anliegen auf einem vorgezogenen Treffen im Januar zu disku­tieren. Ein Ultimatum lehnten sie ab. Andere Vertragsstaaten antworteten indi­vi­duell, aber mit ähnlicher Ten­denz.

Darauf erklärte das russische Außen­mini­sterium am 15. Januar 2021, die Ant­worten der Partner reichten nicht aus, um russi­sche Sicherheitsinteressen zu wahren. Moskau werde die nationalen Verfahren einleiten, um den OHV zu kündigen. Doch musste den Verantwortlichen klar sein, dass die Vertragsstaaten nicht binnen acht Tagen und schon gar nicht unter dem Druck eines russischen Ultimatums handeln würden. Rechtsverbindliche Garantien würden lang­wierige Ratifikations­prozesse erfordern.

Von der Sache her sind sie aber nicht nötig, da schon der Vertragstext die russi­schen For­derungen berücksichtigt. Selbst unter den coronabedingten Einschränkungen gab es 2020 russische Beobachtungs­flüge über Nato-Staa­ten und US-Militär­basen, auch über Deutschland.

Das Verbot, sensible Daten an Nicht­­vertragsstaaten weiterzugeben, ist ebenfalls weiterhin gültig. Dass Ausnahmen nur zu­lässig sind, wenn die betroffenen Staaten, also auch Russland, dem zustimmen, könn­te auch jetzt noch in einem gemeinsamen Beschluss klargestellt werden.

Dies scheint jedoch nicht mehr im Inter­esse Moskaus zu sein. Offenbar hat sich dort das Lager durchgesetzt, das der Au­gen­höhe mit den USA mehr Bedeutung bei­misst als der Sicherheitskooperation mit den Europäern. Als Rechtfertigung dient die Mutmaßung, euro­päische Alliierte könnten vertrauliche Daten aus OH-Beobachtungs­flügen an die USA weitergeben.

Da der Austausch vertraulicher Daten zur Routine der Nato gehört, wird man dieses Argument zwar nicht so leicht von der Hand weisen können, doch sollte es auch nicht überbewertet werden. Erstens nämlich sind die USA an OH-Daten nicht übermäßig interessiert, zumal sie sich von der Satellitenaufklärung bessere Informa­tionen versprechen. Zweitens erhält ver­mut­lich auch Russland von seinen Alliier­ten ver­trauliche Daten aus den Informationsaustauschen zum Vertrag über Konven­tio­nelle Streitkräfte in Europa (KSE), obwohl es ihn Ende 2007 suspendiert hat.

Beim OHV geht es aber vor allem um Vertrauensbildung durch Transparenz und Kooperation, auch in der Krise. Die zahl­reichen Beobachtungsflüge erlauben regel­mäßige militärische Kontakte, um ein objektives Lagebild zu gewinnen und eine weitere Eskalation zu vermeiden.

Folgen einer Kündigung Russlands

Sobald die Kündigung des OHV vorliegt, ist nach 30 bis 60 Tagen eine Konferenz der Vertragsstaaten einzuberufen. Bis der Aus­tritt völkerrechtlich wirksam wird, blei­ben mindestens sechs Monate. Auch wenn die anderen 32 Partner im OHV verblieben, verlöre er seinen strategischen Zweck.

Beobachtungsflüge wären dann nur noch über den meisten Nato- und EU-Staaten sowie über Bosnien-Herzegowina, Georgien und der Ukraine möglich, nicht aber über russischem Gebiet, etwa um Truppenaufmärsche an den Grenzen der baltischen Staaten oder zur Ukraine festzustellen. Aus politischen und Sicherheitsgründen können zudem keine Flüge über den Konfliktgebieten stattfinden, sofern die Kon­fliktpartei­en dem nicht ausdrücklich zu­stimmen und Sicherheitsauflagen zuverlässig erfüllen. Dies erschwert Lagefeststellung und Deeska­lation, falls sich die Lage verschärft. Die militärische Stabi­lität in der Sicherheits­krise Europas nähme weiteren Schaden.

Ferner ist unklar, wie sich Weißrussland verhalten wird. Im OHV bildet es in Union mit Russland eine Vertragspartei. Bisher hat es nicht erklärt, ob es mit Russ­land aus dem OHV austreten oder als eigen­ständiger Ver­tragsstaat darin bleiben will. In diesem Fall wäre es auf Unterstützung durch andere Ver­tragsstaaten angewiesen, da es kein eige­nes OH-Flugzeug und keine zertifizierten Kame­ras besitzt. Russland könnte Weißrussland seine OH-Ausrüstung überlassen.

Bleibt Weißrussland im OHV, könnte es Daten aus Beobachtungsflügen über euro­­päischen Nato-Staaten informell an Moskau weitergeben, während diese nicht über Russ­land fliegen dürften. Moskaus Sorge, dass europäische Partner Informationen aus OH-Flügen über Russland an die USA weiter­leiten, könnte dann mit vertauschten Rollen zur europäischen Sorge werden.

Politisch begibt sich Russland der Chance, sich als Rüstungskontrollmacht zu präsen­tieren, von der US-Politik unter Präsident Trump abzusetzen und unter Beweis zu stellen, dass die Sicherheitskooperation mit Europa in diesem Segment auch ohne die USA funktionieren kann. Moskaus Ent­schei­dung brüskiert jene Europäer, die für die Sicherheitskooperation mit Russland ein­treten, und gibt den Vorbehalten neue Nahrung. Die Nato-Front­staaten werden ihre nationale Sicherheit noch enger mit der Militärpräsenz der USA verknüpfen und ihre Lagebewertung ver­stärkt auf die US-Satellitenaufklärung stützen.

Rolle der USA und Empfehlungen

Offenbar beabsichtigt Moskau mit seiner Volte, Druck auf Präsident Biden auszuüben, damit die USA zum OHV zurückkehren. Bei einem ersten Telefonat zwischen ihm und Präsi­dent Putin war dies zwar ein Thema, doch angesichts vieler anderer drängender Auf­gaben hat dies für Biden keine Priorität. Eine erneute Ratifikation des OHV würde eine Zweidrittelmehrheit im Senat erfor­dern, also die Zustimmung von wenigstens einem Drittel (nämlich 17) der republikanischen Senatoren. Das ist unrealistisch.

Kaum erfolgreich wäre auch der von eini­gen Demokraten erwogene Weg, den Aus­tritt der USA aus dem OHV unter Trump für rechtswidrig zu erklä­ren, weil dieser Kon­gressauflagen miss­achtet habe. Dieses Vor­gehen wäre juristisch riskant und beträfe nur innerstaatliches Recht, nicht jedoch die völkerrechtliche Wirkung des Austritts, die von den Vertragsstaaten anerkannt wurde.

Da Moskau dennoch auf eine Kehrt­wende Washingtons setzt, wäre auf allen Seiten kreatives Denken gefragt, um die politischen und rechtlichen Hürden für eine Rück­kehr der USA in den OHV zu überwinden. Folgende Schritte wären zu erwägen:

(1) Die USA kündigen formell an, den OHV mit allen Rechten und Pflichten um­zusetzen, ohne ihm völkerrechtlich bei­zutreten.

(2) Sie erklären, vorher nicht an Daten interessiert zu sein, die Alliierte bei OH-Flügen über Russland gewinnen, und nicht um deren Weitergabe zu ersuchen.

(3) Russland und alle anderen Vertragsstaaten akzeptieren diese Erklärungen und sagen zu, die Teilnahme der USA am OHV ohne formelle Ratifikation zu erleichtern.

(4) Alle Seiten verpflichten sich, konstruk­tive Lösungen für die umstrittenen Flugstreckenbegrenzungen zu suchen.

(5) Die Biden-Regierung sucht eine poli­tische Lösung, um die Teilnahme der USA am OHV nach nationalem Recht zu ermög­lichen, Ausrüstung, Personal und Betrieb zu finanzieren sowie Immunitätsrechte für rus­si­sche Inspektoren zu gewährleisten. Dafür käme der National Defense Authorization Act in Frage. Er wird jährlich mit einfacher Kon­gressmehrheit verabschiedet.

(6) Moskau setzt die Kündigung des OHV aus, während das Verfahren läuft, und sagt zu, sie bei Erfolg zurückzuziehen.

Zwar ist dieser Weg juristisch nicht ein­fach, könnte aber auf die Präzedenzfälle der bilateral vereinbarten OH-Flüge und der vor­läufigen Anwendung des OHV seit 1992 aufbauen, bis dieser 2002 in Kraft trat.

Die Bundesregierung sollte sich mit europäischen Partnern in Washington und Moskau nachdrücklich für den OHV ein­setzen und kreative Lösungen unterstützen.

Oberst a.D. Wolfgang Richter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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