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China – Pandemiegewinner für den Moment

Die Volksrepublik strotzt vor Kraft, doch es fehlt an Nachhaltigkeit

SWP-Aktuell 2020/A 99, 14.12.2020, 4 Seiten

doi:10.18449/2020A99

Forschungsgebiete

Ist es eine Ironie des Schicksals, dass die Corona-Pandemie, die Ende 2019 auf dem Tiermarkt von Wuhan wohl ihren Anfang nahm, Chinas Aufstieg nun einen mächtigen Schub verleiht? Als erste Zwischenbilanz ist jedenfalls festzuhalten, dass sich Pekings drakonische, teils inhumane Maßnahmen der Seuchenbekämpfung als äußerst erfolg­reich erwiesen haben. Die Eindämmung von Covid-19 in der Volksrepublik ermöglichte eine Rückkehr zur Normalität und legte den Grundstein für einen kräftigen Wirt­schaftsaufschwung. Die Führung von Partei und Staat nutzt diese Errungenschaften politisch im In- und Ausland. Chinas effektive Krisenbewältigung – epidemiologisch, ökonomisch, politisch – weist das Land am Jahresende 2020 als Krisengewinner aus. Doch ist fraglich, wie nachhaltig die wirtschaftlichen und politischen Erfolge sind.

Während in Europa und auf dem amerikanischen Kontinent die Covid-19-Infektions­zahlen wieder deutlich angestiegen sind und die wirtschaftliche Konjunktur vor einem neuerlichen Einbruch steht, scheint China nur so vor Kraft zu strotzen. Bei sehr niedrigen Infektionszahlen und spürbar anziehender Wirtschaftsaktivität profilieren sich Partei und Staat nach innen wie außen als Vertreter eines Systems, das den USA und dem Westen überlegen sei.

Erfolgreiche Eindämmung

Augenscheinlich hat China die Pandemie hinter sich gelassen. Während der arbeitsfreien »goldenen Woche« Anfang Oktober waren Hunderte Millionen Chinesen auf Reisen. Eine zweite Infektions­welle konnte verhindert werden. Laut Johns-Hopkins-Universität meldete China im Novem­ber nur 1 382 neue Corona-Fälle und vier Tote. Seit Beginn der Pandemie steck­ten sich im Land – bei einer Bevölkerung von 1,4 Mil­liarden – 93 898 Menschen mit dem Virus an, 4 748 starben daran (Stand 10.12.2020). Die Zahlen sind also drastisch gefal­len, auch wenn die Kriterien, nach denen sie von der Regierung erhoben werden, intrans­­parent und daher infrage zu stellen sind.

Zu den Maßnahmen im Kampf gegen Corona gehört unter anderem das ständige »Tracken« der Bürger mittels einer Gesund­heits-App, die jeder auf seinem Smartphone haben muss. Die App ermöglicht es der Regierung, Infektionsketten nachzuverfolgen, Quarantänepflichten zu überwachen und so die Virenausbreitung unter Kon­trolle zu bringen. Auch andere Instrumente kommen zum Einsatz. Die Regierung be­dient sich digitaler wie physischer Methoden, um die Bewegungsfreiheit der Men­schen massiv einzuschränken, wenn sie es für notwendig hält. Bei Reisen innerhalb des Landes gibt es etwa eine 14-tägige Qua­rantänepflicht an zugewiesenen Orten, die durchgehend überwacht werden. In zwei Städten, in denen Neuinfektionen bekannt wurden, hat die Regierung zudem Massentests angeordnet. Mitte Oktober wurden 9 Millionen Menschen in Qingdao wegen zwölf bestätigter Covid-19-Fälle getestet, zwei Wochen später dann die 4,7 Millionen Einwohner Kashgars.

V-förmige Konjunkturerholung

In China, wo die Pandemie ihren Anfang nahm, brach die Konjunktur bereits im ersten Quartal 2020 ein, und zwar um für dortige Verhältnisse spektakuläre 10,7 Pro­zent (gegenüber dem Vorquartal). Nach erfolgreicher Infektionseindämmung stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im zweiten und dritten Quartal aber wieder V-förmig an – um 12,4 Prozent bzw. 3,6 Prozent. Laut Prog­nosen des Internationalen Wäh­rungsfonds wird Chinas Wirtschaft im Gesamtjahr um 1,9 Prozent expandieren und mittelfristig auf den alten Wachstumspfad zurückkehren. 2020 dürfte die Volks­repub­lik über­haupt das einzige G20-Mitglied mit positi­ver Wachstumsrate sein. Chinas An­teil am globalen Bruttosozial­produkt wird sprung­haft steigen, und die Kräfteverhältnisse in der Weltwirtschaft werden sich ent­sprechend zugunsten des Landes verändern.

Träger des Aufschwungs waren vor allem Export und öffentliche Ausgaben. So hat Chinas Regierung ein Konjunkturpaket in Höhe von rund 4,6 Prozent des BIP aufge­legt und teilweise schon implementiert. Mit dem Ziel, die soziale Stabilität zu wahren, wurden private Haushalte bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen entlastet, die Arbeitslosenhilfe wurde ausgeweitet. Wie schon oft finanzierte der Staat über eine zusätzliche Kreditaufnahme Investitionen in die Infrastruktur, dieses Mal vor allem in Gesundheitswesen und digitalem Bereich. Während die meisten ausländischen Kon­kurrenten wegen Lockdowns unter Eng­pässen litten, profitiert der chinesische Export von der Lieferfähigkeit des Landes.

Propagandistische Instrumentalisierung

Als Staats- und Parteichef Xi Jinping am 10. März 2020 die Provinzhauptstadt Wuhan besuchte, das Zentrum des Corona-Ausbruchs, war nach Pekings Verständnis bereits der »Sieg« der Kommunistischen Partei (KPCh) über das Virus errungen. Ein­mal mehr habe sich damit erwiesen, so Tenor der massiven Covid-19-Propaganda, dass das sozialistische System chinesischer Prägung den westlichen Demokratien und insbesondere den USA überlegen sei.

Eigentlicher Sieger der Pandemie ist je­doch Xi selbst. Medien des Landes verbreiten die »Chroniken von Xis Führung in Chinas Kampf gegen das Virus«. Dies zeigt, dass der KPCh in der öffentlichen Wahrnehmung eine untergeordnete Rolle zuge­wiesen wird. Dagegen konnte Xi die Krise nutzen, um die Herrschaftsstrukturen zu zentralisieren und seine eigene Machtposition weiter zu festigen. Besonders relevant ist dies mit Blick auf die Vorbereitung des 20. Parteitags, der 2022 stattfinden wird. Bereits der 19. Parteitag (2017) bekräftigte den Zentralismus und Xis absoluten Macht­anspruch und ließ keine Nachfolgeregelung für ihn als Partei- und Staatschef erkennen. Seine jüngsten Positionsgewinne unterstreichen den Eindruck, dass er sich für die Zeit nach 2022 in Stellung bringt.

Außenpolitisch nutzt China die Covid-19-Krise, um die Beziehungen zu anderen Staaten mittels »Maskendiplomatie« zu stär­ken. Hier geht es unter anderem um Hilfs­lieferungen von medizinischer Schutz­ausrüstung ins Ausland. Peking versucht zudem, einen Impfstoff gegen das Virus zu finden. Dafür werden chinesische Vakzine auch im Ausland getestet; im Gegenzug ver­spricht man vorrangigen Zugang zum Impf­stoff. Chinas Gesundheitsdiplomatie wird öffentlichkeitswirksam inszeniert und stellt das Land als »Retter der Welt« dar. In einer Rede am 8. September 2020 sagte Xi: »China hat mit seinen praktischen Maß­nahmen geholfen, das Leben von Dutzenden Millio­nen Menschen auf der Welt zu retten.«

Politische Stärkung im Inneren – zunehmende Skepsis von außen

Die Maßnahmen, die die KPCh ergriffen hat, um Corona einzudämmen, stoßen bei der Mehrheit der Bevölkerung auf Zustimmung. Die Massentests etwa sind für die Bürger kostenlos, und die Überwachung scheint vielen tatsächlich ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Auch die Regie­rungssicht, das chinesische System sei über­legen, findet Unterstützung. Nach einer Umfrage des YouGov-Cambridge Globalism Project sind 88 Pro­zent der Chinesen von der Führungsstärke ihrer Regierung in der Covid-19-Krise über­zeugt. Auch wenn die Pandemie im Land noch nicht ganz über­wunden ist, wie die Massentests zeigen, so trägt in der Bevölkerung doch das Narrativ vom Sieg über das Virus. Das Vertrauen in die Regierung ist gewachsen.

Dabei besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der chinesischen Bevölkerung und der Sicht im Aus­land. Bei einer Umfrage des Pew Research Center in 14 Industrienationen meinten 61 Prozent, dass Chinas Umgang mit dem Virus schlecht sei. Außerdem sprachen durchschnittlich 78 Prozent der Befragten Xi Jinping ab, in globalen Fragen das Rich­tige zu tun. Dieser Imageverlust ist in erster Linie auf Chinas Verhalten gegenüber der Pandemie zurückzuführen. Die massive Propaganda hat sich zwar innenpolitisch als erfolgreich erwiesen, war außenpolitisch jedoch kontraproduktiv, vor allem in den Industrienationen. In Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas mag das chine­sische Narrativ eher verfangen haben.

Dabei dürften die Gründe für die wachsende China-Skepsis im westlichen Ausland nicht nur in der Covid-19-Krise zu finden sein. Die Lage der Menschenrechte in Xinjiang und Tibet wird immer kritischer gesehen, nicht anders die Situation in Hongkong. Eine große Rolle spielt zudem wohl das demonstrativ konfrontative Auf­treten chinesischer Diplomaten (»Wolfskriegerdiplomatie«), ebenso Pekings robus­tere Außenpolitik im Südchinesischen Meer oder gegenüber Nachbarstaaten wie Taiwan und Indien. Schließlich hat auch die wach­sende sino-amerikanische Rivalität in ande­ren Industrienationen den Blick für die sicherheitspolitischen Herausforderungen geschärft, die von China ausgehen.

Ehrgeizige Entwicklungspläne – problematische Umsetzung

Aufgrund der pandemiebedingten Wachstumsdelle wird China sein selbstgestecktes Ziel, das nationale Einkommen von 2011 bis 2020 zu verdoppeln, knapp verfehlen. An den langfristigen Entwicklungsplänen wird aber eisern festgehalten. 2025 soll China in zehn wertschöpfungsintensiven Industriesektoren an der Weltspitze stehen. Bis 2035 will das Land sein Volkseinkommen abermals verdoppeln und globale tech­nologische Standards setzen. Und 2049 – hundert Jahre nach Gründung der Volks­republik – soll China nicht nur modern, stark und wohlhabend sein, sondern die führende Industrienation. Damit sich Kurs halten lässt, setzt der kürzlich verabschiedete Fünfjahresplan bemerkenswerte neue Akzente. Orientierung geben nicht mehr quantitative Wachstumsziele, sondern qua­li­tative Vorgaben. So soll der technologische Innovationsprozess an Tiefe und Breite gewinnen, damit China vom Ausland un­abhängiger wird. Die neue Leitlinie der »dualen Kreisläufe«, die aus Binnen- und Außenwirtschaft bestehen sollen, erhebt den Binnensektor zum Wachs­tumsmotor.

Allerdings ist nicht zu erkennen, inwiefern sich diese Leitlinie von dem seit 15 Jah­ren (vergeblich) verfolgten Ziel unterscheidet, das eigene Wirtschaftswachstum gleichgewichtiger zu gestalten. Im Zuge der Pandemie hat sich der ohnehin geringe Fortschritt bei der erwünschten makroökonomischen Umsteuerung in Luft aufgelöst. Der Anteil des privaten Konsums an der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage verharrt auf einem historisch einzigartig niedrigen Niveau von unter 40 Prozent. Spiegelbildlich sind Chinas Bruttoanlageinvestitionen viel zu hoch; sie sind ineffizient, verschwen­derisch, ressourcenbelastend und Ursache wachsender innerer Verschuldung. Das von Investitionen und Exporten getra­gene Wirt­schaftswachstum Chinas ist daher nicht nachhaltig, so dass mittelfristig rück­läufige Wachstumsraten, wenn nicht Einbrüche unvermeidbar sind. Bereits seit mehreren Jahren stagnieren Produktivitätsentwicklung und Zahl der Erwerbstätigen. Die inne­re Verschuldung ist auf 280 Prozent des BIP gestiegen, und eine wachsende Zahl von Staatsunternehmen ist technisch insolvent.

Um eine Finanz- und Schuldenkrise ab­zuwenden, müsste China eine makroökonomische Kehrtwende im liberalen Sinne vollziehen. Erfordern würde ein solcher Kurswechsel eine Einkommensumverteilung zugunsten von Arbeitnehmern und Landbevölkerung, spürbare Verbesserungen in der öffentlichen Renten- und Gesundheitsversorgung sowie den zügigen Abbau von industriellen Überkapazitäten und Immobilien-Leerständen. Ob Partei und Staat politisch wie ideologisch in der Lage sind, entsprechend umzusteuern, steht angesichts der zögerlichen Herangehensweise der chinesischen Wirtschaftspolitik aber ganz grundsätzlich in Frage. Denn nicht Reformen sind die Priorität der seit 2012 amtierenden Xi-Administration, son­dern die Stärkung des Führungsanspruchs der KPCh. Demgemäß hat die Staatswirtschaft in der zurückliegenden Dekade ein Comeback erfahren, und marktwirtschaft­liche Reformen wurden zurückgefahren.

Vor diesem Hintergrund und angesichts eines zunehmend konfrontativen Umfelds in der Weltwirtschaft ist China nicht gut aufgestellt, um die ökonomischen und strukturellen Herausforderungen zu bewäl­tigen, die ihm bevorstehen. Bei rückläufigem Wachstum und abnehmender Vertei­lungsmasse werden die steigenden Ausga­ben für Gesundheit, Altersrenten, Umwelt und Klima immer schwieriger zu finanzieren sein. Wie Chinas ehrgeizige Entwicklungspläne so realisiert werden können, erscheint schwer vorstellbar.

Schlussfolgerungen für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik

Angesichts der absehbaren wirtschaftlichen Schwierigkeiten scheint Chinas Führung davon getrieben zu sein, die gegenwärtige Phase der Stärke nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Zu erwarten ist deshalb, dass Peking noch selbstbewusster auftreten wird, als das jetzt bereits der Fall ist. Dies dürften auch Deutschland und die EU zu spüren bekommen. China wird weniger kompromissbereit sein, wenn es um Ver­handlungen im Bereich Handel und Inves­titionen geht, und noch schwieriger dürfte es sein, Gespräche zur Menschenrechtslage in der Volksrepublik zu führen. Umso wichtiger ist eine starke und geschlossene Haltung der EU gegenüber China. Auch sollte Deutschland fortsetzen, was in jüngs­ter Zeit schon angestoßen wurde: die Neu­strukturierung der deutsch-chinesischen Beziehungen. Dies bedeutet, dass Deutschland die europäische Strategie praktisch zur Geltung bringen muss, wonach China Ko­o­perationspartner und wirtschaftlicher Wett­be­werber, aber auch systemischer Riva­le – vor allem beim Regierungsmodell – ist. Das kann nur im europäischen Kon­text ge­lingen: als Teil einer Neustrukturierung der europäisch-chinesischen Beziehungen.

Dr. Hanns Günther Hilpert ist Leiter der Forschungsgruppe Asien.
Dr. Angela Stanzel ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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