Ist es eine Ironie des Schicksals, dass die Corona-Pandemie, die Ende 2019 auf dem Tiermarkt von Wuhan wohl ihren Anfang nahm, Chinas Aufstieg nun einen mächtigen Schub verleiht? Als erste Zwischenbilanz ist jedenfalls festzuhalten, dass sich Pekings drakonische, teils inhumane Maßnahmen der Seuchenbekämpfung als äußerst erfolgreich erwiesen haben. Die Eindämmung von Covid-19 in der Volksrepublik ermöglichte eine Rückkehr zur Normalität und legte den Grundstein für einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung. Die Führung von Partei und Staat nutzt diese Errungenschaften politisch im In- und Ausland. Chinas effektive Krisenbewältigung – epidemiologisch, ökonomisch, politisch – weist das Land am Jahresende 2020 als Krisengewinner aus. Doch ist fraglich, wie nachhaltig die wirtschaftlichen und politischen Erfolge sind.
Während in Europa und auf dem amerikanischen Kontinent die Covid-19-Infektionszahlen wieder deutlich angestiegen sind und die wirtschaftliche Konjunktur vor einem neuerlichen Einbruch steht, scheint China nur so vor Kraft zu strotzen. Bei sehr niedrigen Infektionszahlen und spürbar anziehender Wirtschaftsaktivität profilieren sich Partei und Staat nach innen wie außen als Vertreter eines Systems, das den USA und dem Westen überlegen sei.
Erfolgreiche Eindämmung
Augenscheinlich hat China die Pandemie hinter sich gelassen. Während der arbeitsfreien »goldenen Woche« Anfang Oktober waren Hunderte Millionen Chinesen auf Reisen. Eine zweite Infektionswelle konnte verhindert werden. Laut Johns-Hopkins-Universität meldete China im November nur 1 382 neue Corona-Fälle und vier Tote. Seit Beginn der Pandemie steckten sich im Land – bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden – 93 898 Menschen mit dem Virus an, 4 748 starben daran (Stand 10.12.2020). Die Zahlen sind also drastisch gefallen, auch wenn die Kriterien, nach denen sie von der Regierung erhoben werden, intransparent und daher infrage zu stellen sind.
Zu den Maßnahmen im Kampf gegen Corona gehört unter anderem das ständige »Tracken« der Bürger mittels einer Gesundheits-App, die jeder auf seinem Smartphone haben muss. Die App ermöglicht es der Regierung, Infektionsketten nachzuverfolgen, Quarantänepflichten zu überwachen und so die Virenausbreitung unter Kontrolle zu bringen. Auch andere Instrumente kommen zum Einsatz. Die Regierung bedient sich digitaler wie physischer Methoden, um die Bewegungsfreiheit der Menschen massiv einzuschränken, wenn sie es für notwendig hält. Bei Reisen innerhalb des Landes gibt es etwa eine 14-tägige Quarantänepflicht an zugewiesenen Orten, die durchgehend überwacht werden. In zwei Städten, in denen Neuinfektionen bekannt wurden, hat die Regierung zudem Massentests angeordnet. Mitte Oktober wurden 9 Millionen Menschen in Qingdao wegen zwölf bestätigter Covid-19-Fälle getestet, zwei Wochen später dann die 4,7 Millionen Einwohner Kashgars.
V-förmige Konjunkturerholung
In China, wo die Pandemie ihren Anfang nahm, brach die Konjunktur bereits im ersten Quartal 2020 ein, und zwar um für dortige Verhältnisse spektakuläre 10,7 Prozent (gegenüber dem Vorquartal). Nach erfolgreicher Infektionseindämmung stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im zweiten und dritten Quartal aber wieder V-förmig an – um 12,4 Prozent bzw. 3,6 Prozent. Laut Prognosen des Internationalen Währungsfonds wird Chinas Wirtschaft im Gesamtjahr um 1,9 Prozent expandieren und mittelfristig auf den alten Wachstumspfad zurückkehren. 2020 dürfte die Volksrepublik überhaupt das einzige G20-Mitglied mit positiver Wachstumsrate sein. Chinas Anteil am globalen Bruttosozialprodukt wird sprunghaft steigen, und die Kräfteverhältnisse in der Weltwirtschaft werden sich entsprechend zugunsten des Landes verändern.
Träger des Aufschwungs waren vor allem Export und öffentliche Ausgaben. So hat Chinas Regierung ein Konjunkturpaket in Höhe von rund 4,6 Prozent des BIP aufgelegt und teilweise schon implementiert. Mit dem Ziel, die soziale Stabilität zu wahren, wurden private Haushalte bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen entlastet, die Arbeitslosenhilfe wurde ausgeweitet. Wie schon oft finanzierte der Staat über eine zusätzliche Kreditaufnahme Investitionen in die Infrastruktur, dieses Mal vor allem in Gesundheitswesen und digitalem Bereich. Während die meisten ausländischen Konkurrenten wegen Lockdowns unter Engpässen litten, profitiert der chinesische Export von der Lieferfähigkeit des Landes.
Propagandistische Instrumentalisierung
Als Staats- und Parteichef Xi Jinping am 10. März 2020 die Provinzhauptstadt Wuhan besuchte, das Zentrum des Corona-Ausbruchs, war nach Pekings Verständnis bereits der »Sieg« der Kommunistischen Partei (KPCh) über das Virus errungen. Einmal mehr habe sich damit erwiesen, so Tenor der massiven Covid-19-Propaganda, dass das sozialistische System chinesischer Prägung den westlichen Demokratien und insbesondere den USA überlegen sei.
Eigentlicher Sieger der Pandemie ist jedoch Xi selbst. Medien des Landes verbreiten die »Chroniken von Xis Führung in Chinas Kampf gegen das Virus«. Dies zeigt, dass der KPCh in der öffentlichen Wahrnehmung eine untergeordnete Rolle zugewiesen wird. Dagegen konnte Xi die Krise nutzen, um die Herrschaftsstrukturen zu zentralisieren und seine eigene Machtposition weiter zu festigen. Besonders relevant ist dies mit Blick auf die Vorbereitung des 20. Parteitags, der 2022 stattfinden wird. Bereits der 19. Parteitag (2017) bekräftigte den Zentralismus und Xis absoluten Machtanspruch und ließ keine Nachfolgeregelung für ihn als Partei- und Staatschef erkennen. Seine jüngsten Positionsgewinne unterstreichen den Eindruck, dass er sich für die Zeit nach 2022 in Stellung bringt.
Außenpolitisch nutzt China die Covid-19-Krise, um die Beziehungen zu anderen Staaten mittels »Maskendiplomatie« zu stärken. Hier geht es unter anderem um Hilfslieferungen von medizinischer Schutzausrüstung ins Ausland. Peking versucht zudem, einen Impfstoff gegen das Virus zu finden. Dafür werden chinesische Vakzine auch im Ausland getestet; im Gegenzug verspricht man vorrangigen Zugang zum Impfstoff. Chinas Gesundheitsdiplomatie wird öffentlichkeitswirksam inszeniert und stellt das Land als »Retter der Welt« dar. In einer Rede am 8. September 2020 sagte Xi: »China hat mit seinen praktischen Maßnahmen geholfen, das Leben von Dutzenden Millionen Menschen auf der Welt zu retten.«
Politische Stärkung im Inneren – zunehmende Skepsis von außen
Die Maßnahmen, die die KPCh ergriffen hat, um Corona einzudämmen, stoßen bei der Mehrheit der Bevölkerung auf Zustimmung. Die Massentests etwa sind für die Bürger kostenlos, und die Überwachung scheint vielen tatsächlich ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Auch die Regierungssicht, das chinesische System sei überlegen, findet Unterstützung. Nach einer Umfrage des YouGov-Cambridge Globalism Project sind 88 Prozent der Chinesen von der Führungsstärke ihrer Regierung in der Covid-19-Krise überzeugt. Auch wenn die Pandemie im Land noch nicht ganz überwunden ist, wie die Massentests zeigen, so trägt in der Bevölkerung doch das Narrativ vom Sieg über das Virus. Das Vertrauen in die Regierung ist gewachsen.
Dabei besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der chinesischen Bevölkerung und der Sicht im Ausland. Bei einer Umfrage des Pew Research Center in 14 Industrienationen meinten 61 Prozent, dass Chinas Umgang mit dem Virus schlecht sei. Außerdem sprachen durchschnittlich 78 Prozent der Befragten Xi Jinping ab, in globalen Fragen das Richtige zu tun. Dieser Imageverlust ist in erster Linie auf Chinas Verhalten gegenüber der Pandemie zurückzuführen. Die massive Propaganda hat sich zwar innenpolitisch als erfolgreich erwiesen, war außenpolitisch jedoch kontraproduktiv, vor allem in den Industrienationen. In Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas mag das chinesische Narrativ eher verfangen haben.
Dabei dürften die Gründe für die wachsende China-Skepsis im westlichen Ausland nicht nur in der Covid-19-Krise zu finden sein. Die Lage der Menschenrechte in Xinjiang und Tibet wird immer kritischer gesehen, nicht anders die Situation in Hongkong. Eine große Rolle spielt zudem wohl das demonstrativ konfrontative Auftreten chinesischer Diplomaten (»Wolfskriegerdiplomatie«), ebenso Pekings robustere Außenpolitik im Südchinesischen Meer oder gegenüber Nachbarstaaten wie Taiwan und Indien. Schließlich hat auch die wachsende sino-amerikanische Rivalität in anderen Industrienationen den Blick für die sicherheitspolitischen Herausforderungen geschärft, die von China ausgehen.
Ehrgeizige Entwicklungspläne – problematische Umsetzung
Aufgrund der pandemiebedingten Wachstumsdelle wird China sein selbstgestecktes Ziel, das nationale Einkommen von 2011 bis 2020 zu verdoppeln, knapp verfehlen. An den langfristigen Entwicklungsplänen wird aber eisern festgehalten. 2025 soll China in zehn wertschöpfungsintensiven Industriesektoren an der Weltspitze stehen. Bis 2035 will das Land sein Volkseinkommen abermals verdoppeln und globale technologische Standards setzen. Und 2049 – hundert Jahre nach Gründung der Volksrepublik – soll China nicht nur modern, stark und wohlhabend sein, sondern die führende Industrienation. Damit sich Kurs halten lässt, setzt der kürzlich verabschiedete Fünfjahresplan bemerkenswerte neue Akzente. Orientierung geben nicht mehr quantitative Wachstumsziele, sondern qualitative Vorgaben. So soll der technologische Innovationsprozess an Tiefe und Breite gewinnen, damit China vom Ausland unabhängiger wird. Die neue Leitlinie der »dualen Kreisläufe«, die aus Binnen- und Außenwirtschaft bestehen sollen, erhebt den Binnensektor zum Wachstumsmotor.
Allerdings ist nicht zu erkennen, inwiefern sich diese Leitlinie von dem seit 15 Jahren (vergeblich) verfolgten Ziel unterscheidet, das eigene Wirtschaftswachstum gleichgewichtiger zu gestalten. Im Zuge der Pandemie hat sich der ohnehin geringe Fortschritt bei der erwünschten makroökonomischen Umsteuerung in Luft aufgelöst. Der Anteil des privaten Konsums an der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage verharrt auf einem historisch einzigartig niedrigen Niveau von unter 40 Prozent. Spiegelbildlich sind Chinas Bruttoanlageinvestitionen viel zu hoch; sie sind ineffizient, verschwenderisch, ressourcenbelastend und Ursache wachsender innerer Verschuldung. Das von Investitionen und Exporten getragene Wirtschaftswachstum Chinas ist daher nicht nachhaltig, so dass mittelfristig rückläufige Wachstumsraten, wenn nicht Einbrüche unvermeidbar sind. Bereits seit mehreren Jahren stagnieren Produktivitätsentwicklung und Zahl der Erwerbstätigen. Die innere Verschuldung ist auf 280 Prozent des BIP gestiegen, und eine wachsende Zahl von Staatsunternehmen ist technisch insolvent.
Um eine Finanz- und Schuldenkrise abzuwenden, müsste China eine makroökonomische Kehrtwende im liberalen Sinne vollziehen. Erfordern würde ein solcher Kurswechsel eine Einkommensumverteilung zugunsten von Arbeitnehmern und Landbevölkerung, spürbare Verbesserungen in der öffentlichen Renten- und Gesundheitsversorgung sowie den zügigen Abbau von industriellen Überkapazitäten und Immobilien-Leerständen. Ob Partei und Staat politisch wie ideologisch in der Lage sind, entsprechend umzusteuern, steht angesichts der zögerlichen Herangehensweise der chinesischen Wirtschaftspolitik aber ganz grundsätzlich in Frage. Denn nicht Reformen sind die Priorität der seit 2012 amtierenden Xi-Administration, sondern die Stärkung des Führungsanspruchs der KPCh. Demgemäß hat die Staatswirtschaft in der zurückliegenden Dekade ein Comeback erfahren, und marktwirtschaftliche Reformen wurden zurückgefahren.
Vor diesem Hintergrund und angesichts eines zunehmend konfrontativen Umfelds in der Weltwirtschaft ist China nicht gut aufgestellt, um die ökonomischen und strukturellen Herausforderungen zu bewältigen, die ihm bevorstehen. Bei rückläufigem Wachstum und abnehmender Verteilungsmasse werden die steigenden Ausgaben für Gesundheit, Altersrenten, Umwelt und Klima immer schwieriger zu finanzieren sein. Wie Chinas ehrgeizige Entwicklungspläne so realisiert werden können, erscheint schwer vorstellbar.
Schlussfolgerungen für deutsche Außen- und Sicherheitspolitik
Angesichts der absehbaren wirtschaftlichen Schwierigkeiten scheint Chinas Führung davon getrieben zu sein, die gegenwärtige Phase der Stärke nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Zu erwarten ist deshalb, dass Peking noch selbstbewusster auftreten wird, als das jetzt bereits der Fall ist. Dies dürften auch Deutschland und die EU zu spüren bekommen. China wird weniger kompromissbereit sein, wenn es um Verhandlungen im Bereich Handel und Investitionen geht, und noch schwieriger dürfte es sein, Gespräche zur Menschenrechtslage in der Volksrepublik zu führen. Umso wichtiger ist eine starke und geschlossene Haltung der EU gegenüber China. Auch sollte Deutschland fortsetzen, was in jüngster Zeit schon angestoßen wurde: die Neustrukturierung der deutsch-chinesischen Beziehungen. Dies bedeutet, dass Deutschland die europäische Strategie praktisch zur Geltung bringen muss, wonach China Kooperationspartner und wirtschaftlicher Wettbewerber, aber auch systemischer Rivale – vor allem beim Regierungsmodell – ist. Das kann nur im europäischen Kontext gelingen: als Teil einer Neustrukturierung der europäisch-chinesischen Beziehungen.
Dr. Hanns Günther Hilpert ist Leiter der Forschungsgruppe Asien.
Dr. Angela Stanzel ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien.
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doi: 10.18449/2020A99