Die weltpolitische Lage hat sich für Europa in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Südlich und östlich von Europa mehren sich die Konflikte, Russland und China zeigen zunehmend expansive Tendenzen, und die USA sind als Partner immer weniger verlässlich. Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, dass die Handlungsfähigkeit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) noch immer weit hinter dem zurückfällt, was man von Europa angesichts der Größe seines Binnenmarktes erwarten würde. Häufig wird hierfür das Einstimmigkeitsprinzip verantwortlich gemacht. Eine Auswertung der Daten zur GASP zeigt jedoch, dass sich die Mitgliedstaaten offenkundig mit Maßnahmen symbolischer Politik zufriedengeben. Dieser Zustand wird weder durch Einführung einfacher Mehrheitsentscheidungen noch durch bloße politische Willenserklärungen der Regierungen zu überwinden sein. Der Dialog zur Zukunft Europas sollte als Gelegenheit verstanden werden, der außenpolitischen Handlungsunfähigkeit durch eine Vergemeinschaftung der GASP abzuhelfen.
In den 90er Jahren ging mit der intergouvernementalen Zusammenarbeit in der EU die Erwartung einher, dass die Realisierung einer politischen Union auch in der GASP nur noch eine Frage der Zeit sei. Die Gründung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) 1999, der Stabilitätspakt für Südosteuropa 1999, die beiden Erweiterungsrunden 2004 und 2007 und die mehr als 20 zivilen, militärischen oder zivil-militärischen Missionen bzw. Operationen bis 2009 galten vielen als Meilensteine auf dem Weg zu einer kollektiven europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (siehe SWP-Aktuell 10/2010). Diese Erwartungshaltung besteht bis heute. In der »geopolitischen Kommission« unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen spiegelt sich der Anspruch der neuen Kommission und des Hohen Vertreters (HV) für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell Fontelles. Die EU solle laut Borrell die Sprache der Macht lernen und geopolitisch mit mehr Realismus und innerer Einigkeit handeln. Eine eigensinnige Außenpolitik der Mitgliedstaaten schade ihnen selbst und der Union. In ihrer Rede zur Lage der Union im September 2020 hatte die Kommissionspräsidentin gefordert, in der GASP im Falle von Menschenrechtsverletzungen qualifizierte Mehrheitsentscheidungen bei Ratsbeschlüssen einzuführen und restriktive Maßnahmen zu treffen, also Sanktionen.
Geringer Outcome
Wenige dieser Forderungen wurden bislang erfüllt. Die mangelnde außenpolitische Handlungsfähigkeit zeigt sich in den Resultaten der intergouvernementalen Entscheidungsverfahren, hier verstanden als GASP-Output. Aber wen oder was will die EU mit ihrer GASP erreichen, und welche Wirkung will sie damit erzielen? Die Antwort gibt der GASP-Outcome. Die Wirkungen des GASP-Outputs sind hingegen kaum messbar, da die faktische EU-Politik gegenüber bzw. in Drittstaaten oftmals von den erklärten Zielen abweichen. Ein kursorischer Blick zeigt, wie stark allein in den letzten Monaten die strategischen Interessen der Mitgliedstaaten, aber auch der EU-Institutionen in der GASP differierten. Außenpolitische Blockaden sind zahlreich. Anfang 2019 blockierte Italien Sanktionen gegen Venezuela. Einige Nato-Länder verhinderten mit Rücksicht auf Washington eine Stellungnahme der EU gegen den Kollaps des INF-Abrüstungsvertrags. Polen und Ungarn torpedierten die Schlussfolgerungen eines EU-Gipfels mit arabischen Staaten, weil sie mit Passagen zur Migration nicht einverstanden waren.
Inkohärenz zeichnet sich auch schon seit längerer Zeit in der Politik der EU im Nahen und Mittleren Osten ab. Im Konflikt zwischen den USA und Iran, der im Januar 2020 in der Tötung des iranischen Generals Soleimani und im iranischen Angriff auf eine US-amerikanische Militärbasis im Irak gipfelte, offenbarte sich eine doppelte Trennlinie in der GASP. Einerseits versuchte sich die EU als Mittler zu positionieren und rief wiederholt zu Deeskalation auf. Andererseits unterminieren die zahlreichen und sich teils widersprechenden Institutionen die außenpolitische Glaubwürdigkeit der EU. So gab die EU kein gutes Bild ab, als sich der neue Ratspräsident Charles Michel zur Tötung Soleimanis äußerte, bevor der HV eine Erklärung abgegeben hatte, was auf einen interinstitutionellen Machtkampf in der EU-Außendarstellung hindeutete.
Auch zwischen den Mitgliedstaaten dominierte Uneinigkeit. Deutschland, Frankreich und Großbritannien (E3-Staaten) unterstützten die USA, was von anderen Mitgliedstaaten nicht mitgetragen wurde. Die eigens gegründete Handelsgesellschaft Instex, die unter Vermeidung US-amerikanischer Sanktionen Handel mit dem Iran ermöglichen soll, ist bisher wenig effektiv. Zwar traten ihr bis April 2020 neben Deutschland, Frankreich und Großbritannien sechs weitere europäische Staaten bei (Belgien, Dänemark, Finnland, die Niederlande, Norwegen und Schweden). Doch konnte Instex bislang nur eine einzige Transaktion durchführen, und die betraf Medizinprodukte und damit eine Kategorie von Waren, die ohnehin von den Sekundärsanktionen der USA ausgenommen ist.
Die EU hat es auch nicht vermocht, eine gemeinsame Politik zur Initiative der Trump-Administration zu formulieren, eine Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina zu finden. Ungeachtet dessen kritisierte der HV Borrell die amerikanischen Vorschläge scharf und sprach von einer Abkehr von internationalen Vereinbarungen. Ein ähnliches Muster zeigte sich nach der Videokonferenz der EU-Außenminister im Mai 2020. Sie konnten sich dabei nicht auf ein gemeinsames Vorgehen gegen israelische Annexionen des Westjordanlands einigen. Gleichzeitig rief der HV dazu auf, Israel stärker unter Druck zu setzen, und erklärte, ein unilaterales Vorgehen der israelischen Regierung in Jerusalem hätte Konsequenzen.
Die Mitgliedstaaten ließen auch die Aufrufe des HV Ende August 2020 unbeantwortet, militärische Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, um das UN-Waffenembargo für Libyen im Rahmen der EU-Operation Irini durchzusetzen. Die Uneinigkeit der EU-Staaten äußert sich auch darin, dass Politiken gegeneinander ausgespielt werden. Seitdem im östlichen Mittelmeer reiche Gasvorkommen entdeckt wurden, streiten sich die Türkei, Zypern und Griechenland heftig um deren Ausbeutung. Erst nach vielen Wochen hat Zypern Anfang Oktober 2020 sein Veto gegen Sanktionen aufgegeben, die gegen belarussische Vertreter des Regimes von Präsident Alexander Lukaschenko verhängt werden sollten.
Deutlich zum Ausdruck brachte der HV Borrell die Uneinigkeit, als er im Mai 2020 in einem Beitrag in mehreren europäischen Tageszeitungen zu diplomatischer Disziplin mahnte und die Mitgliedstaaten aufforderte, dem chinesischen »divide et impera«-Ansatz gemeinsam entgegenzutreten. Die Diskrepanz zwischen dem Anspruch des neuen HV und den divergierenden Positionen der Mitgliedstaaten trat ein weiteres Mal zutage, als der chinesische Volkskongress Ende Mai 2020 Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam den Auftrag erteilte, ein neues Sicherheitsgesetz für die Sonderverwaltungszone zu erlassen. Trotz Borrells Forderung nach einer »robusteren« Strategie gegenüber China gelang es den Mitgliedstaaten erst nach mehreren Anläufen, sich im Juli 2020 auf gemeinsame Maßnahmen zu einigen, etwa einen Stopp der Ausfuhr von Überwachungstechnologien und Dual-use-Gütern.
Grafik 1 |
Quelle: Minna Ålander / Annegret Bendiek / Paul Bochtler, Datenerhebung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Berlin: SWP-Forschungsgruppe EU / Europa, Arbeitspapier (AP) 2020/Nr. 02, November 2020, <https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/ products/arbeitspapiere/AP_022020_Alander_et_al_Datenerhebung_GASP-Output.pdf>. |
An all diesen Fällen lässt sich Folgendes ablesen: Die Mitgliedstaaten versuchen eifersüchtig ihre nationalen Kompetenzen zu schützen und unternehmen keinerlei ernsthafte Anstrengungen, ihre Uneinigkeit auf supranationaler Ebene zu überwinden. Und die EU-Institutionen sind ebenso wenig einig darüber, wer die Außenvertretung der EU übernehmen und die politische Verbindlichkeit nach innen herstellen soll.
GASP-Output
Dem geringen Outcome der GASP entspricht ein wenig ergebnisorientierter Output (siehe FG EU / Europa, 2020/AP 02). Die GASP und die anderen Unionspolitiken sind nach Artikel 40 EU-Vertrag (EUV) durch jeweils spezifische Verfahren der internen Willensbildung strikt getrennt. Gesetzgebung ist in der GASP ausgeschlossen. Die wesentlichen GASP-Beschlüsse – sei es die Einsetzung einer GSVP-Mission, der Beschluss von Sanktionen oder die Positionierung der EU in zentralen außenpolitischen Fragen – werden vom Rat für Auswärtige Angelegenheiten (RfAA) gefasst (vgl. FG EU / Europa, 2020 / AP 02, Tab. 1, S. 7). Doch seine politisch bindenden Beschlüsse haben keine direkte rechtliche Wirkung für die Mitgliedstaaten.
Eine Analyse der EUR-Lex-Datenbank ergibt, dass der Rat in den Jahren 2009 bis 2020 506 Beschlüsse zu Sanktionen, 245 Beschlüsse über Missionen und Operationen der EU, 123 zur Ernennung von Sonderbeauftragten und 86 Beschlüsse zu Waffenkontrollregimen gefasst hat (Grafik 1, S. 4). Weitere 94 Beschlüsse betrafen institutionelle Neuerungen wie die Schaffung von Agenturen oder andere Vereinbarungen und Abkommen. Insgesamt hat der Rat seit 2009 1 045 politische bindende, aber rechtlich unverbindliche Beschlüsse in der GASP gefasst und in anderen Politikbereichen 1 146 legislative Rechtsakte erlassen.
Die Zahlen deuten auf eine wachsende Diskrepanz zwischen dem relativ hohen quantitativen Output im Kontext der GASP und einer faktisch mangelhaften ergebnisorientierten Politik gegenüber Drittstatten hin. Tatsächlich hat die EU seit 2009 lediglich 114 Wahlbeobachtungen, 12 militärische Operationen und 25 andere Missionen (humanitär, rechtsstaatlich, polizeilich) durchgeführt und ihren Anspruch auf eine politische und wirtschaftliche Transformation der Nachbarstaaten zurückgenommen (siehe das Buch von A. Bendiek, Europa verteidigen). Derzeit laufen davon nur noch 6 militärische Operationen und 11 zivile Missionen der EU. Gegenwärtig gibt es 7 Sonderbeauftragte für Drittstaaten bzw. Regionen, die in Artikel 33 EUV vorgesehen sind. Im Vergleich dazu hat die ebenfalls intergouvernemental angelegte Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zwar weniger Resolutionen verabschiedet, unterhält dafür aber aktuell insgesamt 16 zivile Feldoperationen. Der OSZE gehören immerhin 57 Teilnehmerstaaten an, ihr Geltungsraum erstreckt sich über drei Kontinente (Asien, Europa, Nordamerika), in ihm leben über eine Milliarde Einwohner.
Der GASP-Output stellt zudem die rechtliche Sonderstellung der GASP innerhalb der Vertragskonstruktion in Frage. Formal gehen aus den Entscheidungsverfahren der GASP keine Gesetzgebungsakte hervor. Mit der Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der GASP wären für die Mitgliedstaaten rechtlich bindende Entscheidungen möglich. Hinweise auf das auswärtige Handeln der EU über die GASP hinaus geben die Daten zu öffentlichen Abstimmungen im RfAA, die der Rat der EU mit dem öffentlich zugänglichen Dokumentenregister und im Rahmen der »Open Data Initiative« zur Verfügung stellt. Eine Analyse dieser Daten zeigt, dass in anderen Ratsformationen in den Jahren 2009 bis 2020 insgesamt 92 Entscheidungen im Politikbereich »Auswärtiges« getroffen wurden. Jede der insgesamt zehn Ratsformationen kann Rechtsakte im Namen des gesamten Rates erlassen. Der RfAA hat 36 Gesetzgebungsakte verabschiedet, die jedoch keinen Bezug zur GASP haben.
Insgesamt drängt sich die Frage auf, welchen Sinn und Zweck die vertraglich verankerte Sonderrolle der GASP gemäß Artikel 40 EUV hat. Sollen die Entscheidungsverfahren in der GASP effizienter und rechtlich bindend sein, dann ist es notwendig, die Sonderrolle der GASP durch ihre Vergemeinschaftung zu beenden.
Sanktionen statt Politik
Restriktive Maßnahmen der EU wie Sanktionen liegen im Graubereich zwischen einer Ergebnis- und einer Symbolpolitik. Robert Blackwill und Jennifer Harris argumentieren in ihrem Buch War by Other Means, dass Sanktionen kostengünstiger sind als Operationen und Missionen, wenn es gilt, ein bestimmtes außenpolitisches Ziel zu erreichen. Sanktionen können flexibel und gezielt gegen Einzelpersonen, Entitäten oder Drittstaaten verhängt werden. So ist es nicht verwunderlich, dass einer der wenigen Felder, in denen die GASP gehandelt hat bzw. noch handelt, die Annahme von Sanktionsbeschlüssen ist.
Grafik 2 |
Quelle: Minna Ålander / Annegret Bendiek / Paul Bochtler, Datenerhebung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Berlin: SWP-Forschungsgruppe EU / Europa, Arbeitspapier (AP) 2020/Nr. 02, November 2020, <https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/ products/arbeitspapiere/AP_022020_Alander_et_al_Datenerhebung_GASP-Output.pdf>. |
Restriktive Maßnahmen (Art. 215 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union), konkret Wirtschaftssanktionen gegen Drittstaaten und Einzelpersonen, sind an der Schnittstelle zwischen dem auswärtigen Handeln und der GASP angesiedelt. Sanktionsverordnungen können nur mit einem einstimmig getroffenen Beschluss des Europäischen Rats initiiert werden. Seit 2009 haben sich die Mitglieder des Rats auf insgesamt 1 264 Sanktionsdokumente einigen können. Hierunter fallen sowohl Sanktionsbeschlüsse als auch Sanktionsverordnungen. Von 2009 bis 2019 ist die Zahl der jährlich verhängten oder abgeänderten Sanktionen von 21 auf 152 angestiegen (Grafik 2). Darunter fällt aber auch eine nicht zu vernachlässigende Zahl von Beschlüssen zur Fortsetzung oder Erweiterung bereits geltender Sanktionen. Bei lediglich 47 handelt es sich um erstmals getroffene restriktive Maßnahmen, ausweislich der Website sanctionsmap.eu, einem EU-Projekt, das Rechtsakte zu Sanktionen veröffentlicht.
Im Jahr 2014 ist die höchste Inzidenz zu beobachten. Damals hat die EU neue Sanktionen gegen Russland, die Terrororganisation »Islamischer Staat« (ISIS) und gegen die syrische Regierung erlassen. Aktuell hält die EU gegen 30 Regime bzw. Organisationen Sanktionen aufrecht, davon sind 23 autonome Sanktionen der EU. Die restlichen 7 Sanktionen dienen dazu, VN-Resolutionen in EU-Recht umzusetzen.
Anstieg von Pressemitteilungen
Der Rat der EU tagt in der Regel monatlich unter Vorsitz des HV als RfAA. Seit 2009 sind 172 öffentlich zugängliche und 4 nicht öffentliche Protokolle von Ratssitzungen entstanden. Die Protokolle zeigen, dass viele Tagesordnungspunkte nicht in Schlussfolgerungen überführt wurden. Ratsschlussfolgerungen sollen die Haltung der EU zu Fragen mit politischer Bedeutung, zu Krisensituationen oder Konflikten förmlich darlegen.
Der mit Ausnahme der Sanktionsregime geringe verbindliche Outcome und Output des Rates geht mit einem wachsenden rhetorischen Engagement der EU einher. Seitdem Josep Borrell Fontelles am 1. Dezember 2019 sein Amt als neuer Hoher Vertreter angetreten hat, zeichnet sich ein neuer Politikstil ab. Dabei werden Pressemitteilungen dort genutzt, wo einstimmige Beschlüsse im Rat, die gemeinsame Standpunkte oder Aktionen nach sich ziehen, nicht zustande kommen. Und wenn eine Ratsschlussfolgerung zustande kam, wird in Pressemitteilungen die Haltung der EU zu Fragen von großer politischer Bedeutung, zu Krisensituationen oder Konflikten dargelegt.
Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) und der HV haben seit 2014 2 053 Pressemitteilungen zu außen- und sicherheitspolitischen Themen verfasst (Grafik 3). Mehr als die Hälfte davon (1 206) sind Erklärungen. Allein 78 Pressemitteilungen bezogen sich auf Ratsschlussfolgerungen, lediglich 47 auf Menschenrechts- und politische Dialoge. Ein beträchtlicher Teil (315 Pressemitteilungen) spiegelt die hohe kalendarische Dichte diplomatischer Treffen des HV mit Vertreterinnen und Vertretern von Drittstaaten und internationalen Organisationen wider.
Die zahlreichen Pressemitteilungen können aber nicht über die mangelnde Ergebnisorientierung der GASP hinwegtäuschen. Dieser Mangel wiederum zeigt nicht nur, wie schwierig es im Rat ist, einen außen- und sicherheitspolitischen Konsens zu finden; er zeigt noch viel mehr, dass es auf der politischen Ebene des Rates zwar den politischen Willen zu einer intergouvernemental, aber nicht zur vergemeinschafteten Außen- und Sicherheitspolitik zu geben scheint, um so in wichtigen Fragen gemeinsame Standpunkte zu vertreten und international Verantwortung zu übernehmen.
Die Erwartungs- und Fähigkeitslücke
Unterschiedliche strategische Interessen, außenpolitische Traditionen und Vorstellungen über die institutionelle Ausgestaltung der GASP, inklusive das Einstimmigkeitsgebot, werden seit langer Zeit in der Literatur als Argumente angeführt, um die Ineffizienz der GASP zu erklären.
Im Zusammenhang mit der GASP formulierte Christopher Hill, Universitätsprofessor in Oxford, im Jahr 1993 das vielzitierte Theorem der »Capability-Expectations Gap« (CEG), in deutscher Sprache bekannt als die Erwartungs- und Fähigkeitslücke. Hills Ziel war es, »die Funktionen zu untersuchen, die die Europäische Gemeinschaft im internationalen System erfüllen könnte, aber auch die Wahrnehmung ihrer Rolle durch Dritte«. Mit Fähigkeiten meint er konventionelle Instrumente (z. B. Diplomatie), Ressourcen (z. B. Wirtschaftskraft) und Kohärenz (»die Fähigkeit, eine kollektive Entscheidung zu treffen und daran festzuhalten«). Unter Erwartungen versteht er »jene Ambitionen oder Anforderungen an das internationale Verhalten der EU«, die sich »sowohl innerhalb als auch außerhalb der Union ergeben«.
Hill kam zu dem Schluss, dass sich eine Kluft zwischen den außenpolitischen Fähigkeiten der EU und den an sie gerichteten Erwartungen aufgetan habe. Diese Kluft sei »gefährlich«, da sie »zu Debatten über falsche Möglichkeiten sowohl innerhalb der EU als auch zwischen der Union und externen Bittstellern führen könnte«. Eine Analyse der verfügbaren Daten spricht dafür, dass die CEG nach Christopher Hill durchaus existiert. Alle Exekutiven streben nach eigener Aussage eine handlungsfähige GASP an. Doch anders als von ihnen behauptet haben die verantwortlichen Exekutiven Europas in den letzten zehn Jahren keine ernsthaften Bemühungen unternommen, die Lücke zwischen hohen Erwartungen an die GASP und deren Fähigkeiten zu kollektiver Entscheidungsfindung zu schließen.
Keine ernsthaften Reformen …
Quelle: Minna Ålander / Annegret Bendiek / Paul Bochtler, Datenerhebung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Berlin: SWP-Forschungsgruppe EU / Europa, Arbeitspapier (AP) 2020/Nr. 02, November 2020, <https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/ products/arbeitspapiere/AP_022020_Alander_et_al_Datenerhebung_GASP-Output.pdf>. |
Für Beschlüsse im Rahmen der GASP gilt seit ihrer Gründung mit dem Vertrag von Maastricht 1993 bekanntermaßen das Prinzip der Einstimmigkeit. Die lange Serie von Vertragsrevisionen, die es in den letzten Jahrzehnten gab, und das Schicksal des Verfassungsvertrags haben gezeigt, dass im Europäischen Rat kein politischer Wille besteht, hieran etwas zu ändern. Aus dem Fehlen eines Bekenntnisses zur umfänglichen Vergemeinschaftung der GASP resultiert die Forderung, zumindest einige Bereiche wie die Sanktions- oder Menschenrechtspolitik, in denen die Union bisher nur über begrenzte Kompetenzen verfügt und die daher noch nicht der Gemeinschaftsmethode folgen, künftig dem supranationalen Verfahren zu unterwerfen, indem man die Brückenklausel nach Artikel 48 Absatz 7 EUV nutzt. Dies gilt in besonderem Maße für die GASP. Das Bundesverfassungsgericht hat Ende Juni 2009 in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag verfassungsrechtliche rote Linien definiert, die einer Europäisierung der GASP Grenzen setzen.
Die geringe Wertschätzung der Mitgliedstaaten für die GASP kommt auch in deren dürftiger Finanzausstattung zum Ausdruck. Im Zeitraum 2021–2027 soll der Anteil der für die GASP vorgesehenen Mittel mit 2,4 Milliarden Euro weniger als 2,5 Prozent der gesamten Mittel für die Außenpolitik der EU betragen. In den aktuellen Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen zeigen sich wenige Ansätze, diese Mittel aufzustocken. Im Gegenteil: Nach derzeitiger Beschlusslage sollen die Mittel für die GASP sogar um 10,3 Prozent des Volumens im vorherigen Mehrjährigen Finanzrahmen 2014–2020 gekürzt werden.
… und zufriedene Mitgliedstaaten
Die extensive Nutzung von Sanktionen, der Anstieg an Pressemitteilungen und die geringen politischen Bemühungen der Mitgliedstaaten, die Gemeinschaftsmethode als supranationales Beschlussverfahren im Rat der EU einzuführen – all dies legt den Schluss nahe, dass es die Erwartungs- und Fähigkeitslücke, anders als von Christopher Hill behauptet, zumindest intern gar nicht gibt. Es existieren zwar hohe Erwartungen externer Akteure, dass die EU eine ihrer wirtschaftlichen Stärke entsprechende politische und militärische Handlungsfähigkeit an den Tag legt. Die Erwartungen, die innerhalb der EU an sie herangetragen werden, sind dagegen eher gering. Die Differenzierung nach internen und externen Erwartungen und die Erkenntnis, dass die internen geringer sind als die externen, wird von Christopher Hill nicht weiter systematisiert.
Der Anstieg der Zahl an Sanktionen und Pressemitteilungen bei Inexistenz ernsthafter Reformbemühungen zeigt, dass die Kluft nicht zwischen Erwartungen und Fähigkeiten besteht, sondern zwischen Rhetorik und politischem Willen. Die analysierten Daten lassen die Vermutung zu, dass die mitgliedstaatlichen Exekutiven mit dem Status quo der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zufrieden sind, solange sie sich auf Symbolpolitik beschränkt, die vor allem der Kommunikation in die EU dient.
Der verstärkte Rückgriff auf Sanktionen und ihre Effektivität als Politikinstrument werden in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Die Global Sanctions Database des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel zählt von 1950 bis 2016 circa 730 Sanktionsregime. Rund ein Drittel davon wurde offiziell als erfolgreich klassifiziert. Zwei Drittel haben wenig bis gar keine Wirkung erzielt. Vor allem umfassende Sanktionen, die sich auf eine breite Koalition von Staaten über die EU hinaus stützen können oder die gezielt gegen kleine Staaten verhängt werden, hätten der Analyse zufolge die Chance, Verhaltensänderungen herbeizuführen. Sanktionsregime, die nur kleine Teilbereiche umfassen – etwa dass Vermögen von Einzelpersonen gezielt eingefroren werden–, wirkten gegenüber großen Ländern nicht. Damit ist keineswegs gesagt, dass Sanktionen nur Symbolpolitik und wirkungslos sind. Es gibt durchaus anekdotische Hinweise darauf, dass Sanktionen effektiv sein können. Und Symbolpolitik kann nach innen wirken, wenn damit Narrative bedient werden wie etwa das eines »geeinten Europas« oder eines »Europa, das schützt« und wenn damit politische Geschlossenheit demonstriert wird.
Überdies kann eine bewusste strategische Kommunikation durch Pressemitteilungen politisch signalisieren, dass die EU Haltung zeigt, oder sie kann Interesse an einer Region bzw. Akteuren bekunden. Von einem konstruktiven Beitrag zum Konfliktmanagement oder einer ergebnisorientierten Politik lässt sich aber nicht reden. Trotz aller gegenteiligen Rhetorik haben sich Europas Exekutiven mit einer GASP eingerichtet, die sich weitestgehend auf Symbolpolitik beschränkt. Unter den Bedingungen einer vergemeinschafteten GASP könnten Ratsentscheidungen mit qualifizierten Mehrheiten getroffen werden. Mit der Vergemeinschaftung würde die notwendige Parlamentarisierung von Außen- und Sicherheitspolitik auf EU-Ebene realisiert. Will die EU den Multilateralismus auf der Grundlage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fördern, sollte sie als supranationale Organisation diese vertraglich verankerten Prinzipien und Normen eigenständig vertreten.
Dr. Annegret Bendiek ist Wissenschaftlerin der Forschungsgruppe EU / Europa.
Minna Ålander ist Forschungsassistentin der Forschungsgruppe EU / Europa.
Paul Bochtler ist Datenanalyst im Referat Informationsservices der SWP.
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doi: 10.18449/2020A86