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Venezuelas Polykrise

Humanitäre Notlage und politische Blockaden – die EU steht in der Verantwortung

SWP-Aktuell 2020/A 66, 07.08.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A66

Forschungsgebiete

Trotz der Auswirkungen der Corona-Krise und der anhaltend hohen Migrations­dynamik zeichnet sich in Venezuela kein Ende der politischen Konfrontation ab. Das politisch-militärische Regime unter der Führung von Präsident Nicolás Maduro erweist sich als sehr resilient. Um sich finanziell am Leben zu halten, stützt es sich immer mehr auf illegale und kriminelle Öl- und Goldgeschäfte. Die internationale Sanktionspolitik hat bislang nicht die erwünschten Brüche im Machtapparat herbei­geführt, auf die viele internationale Akteure und Oppositionsmitglieder gesetzt hatten. Mit Blick auf die für den 6. Dezember 2020 vorgesehenen Parlamentswahlen hat das politische Ränkespiel Maduros erneut begonnen. Mithilfe legalistischer Tricks versucht das Regime die politische Opposition zu schwächen, indem ihre gewählten Repräsentanten abgesetzt und dadurch ihre Wahlchancen reduziert werden. Das politische Spektakel drängt die humanitäre Krise des Landes und den Kollaps des Gesundheitssystems in den Hintergrund – obwohl hierauf die Hauptaufmerksamkeit der inter­nationalen Gemeinschaft liegen sollte.

Einst ein wohlhabendes Land in Latein­amerika, nimmt die Verarmung der Bevöl­ke­rung in Venezuela stetig zu. Seit Jahren steckt das Land in einer tiefen Wirtschaftskrise, deren Symptome eine unaufhaltsame Inflation, eine zusammenbrechende Infra­struktur und die zunehmende Ressourcenknappheit sind; verschärft wird diese Ent­wick­lung durch die Verstaat­lichung der Wirtschaft. Wasser, Lebens­mittel und Medi­kamente sind Mangel­ware oder unerschwing­lich. Dies hat einen regel­rechten Massenexodus ausgelöst – mehr als 5 Millionen Venezolaner sind seit Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr 2014 aus ihrem Heimat­land geflohen. Die verblie­benen 28 Millio­nen Venezolaner kämpfen nicht nur gegen die wirt­schaftliche und politische Krise des Landes, sondern inzwischen auch mit der schweren humanitären Notlage: Die Corona-Pande­mie hat die ohnehin schon komplizierte wirtschaftliche und soziale Situation zusätzlich verschlechtert.

Als sich Anfang 2019 Juan Guaidó, der Präsident der Nationalversammlung, gemäß der Verfassung zum Interimspräsidenten Venezuelas erklärte, gingen viele Beobachter von einer raschen Machttransition aus. Doch heute steht Guaidó trotz der An­erkennung durch fast 60 Staaten, darunter auch Deutschland, die USA und die Mehr­heit der lateinamerikanischen Staaten, an der Spitze einer Übergangsregierung, die kaum etwas bewirken kann. Der erbitterte Machtkampf zwischen Staatschef Nicolás Maduro und Oppositionsführer Guaidó hat das Land politisch tief gespalten. Maduro kann weiterhin auf das Militär zählen, das ihm demonstrativ den Rücken stärkt. Eben­so unterstützen Russland, China und der Iran das Maduro-Regime.

In erster Linie ist es die Bevölkerung, die die Aus­wirkungen der wirtschaftlichen, poli­tischen und vor allem humanitären Krise in Vene­zuela zu spüren be­kommt. Bisher lagen dazu nur wenige belast­bare Daten vor. Mithilfe der ENCOVI-Umfrage 2019/2020 der Katholischen Uni­versität Andrés Bello zu den Lebensbedingungen der venezo­la­ni­schen Bevölkerung entsteht nun ein detail­lierteres Bild der Situation im Land kurz vor dem Ausbruch der Covid‑19-Pandemie.

Das Ausmaß der Wirtschaftskrise

Im Jahr 2014 hat der Verfall des internationalen Ölpreises begonnen; mit ihm nahm auch die Wirt­schaftskrise in Venezuela ihren Ausgang. Inzwischen ist das venezolanische Brutto­inlandsprodukt um mehr als 70 Pro­zent gesunken. 2018 erreichte die Infla­tionsrate einen Wert von 130 000 Pro­zent. Gleichzeitig liegt der vene­zolanische Mindestlohn bei gerade einmal 5 US-Dollar pro Monat. Die ENCOVI-Befragung von fast 17 000 Haushalten in Venezuela hat ergeben, dass knapp 80 Prozent der Bevöl­kerung in extremer Armut leben und nicht einmal ihre Grundbedürfnisse sichern können. So ist es kaum verwunderlich, dass rund zwei Drittel der Bevölkerung einen mittleren bis hohen Grad an Ernährungsunsicherheit beklagen und etwa ein Fünftel von Mangel­ernährung bedroht ist.

Millionen Venezolaner hoffen deswegen auf ein besseres Leben im Ausland. Zwischen 2017 und 2019 haben rund 2,3 Millio­nen Bürger das Land verlassen, mehrheitlich Männer. Als Folge davon werden mittler­weile 60 Pro­zent der Haus­halte von Frauen geführt. Der Großteil nannte als Hauptgrund für die Emigration die Suche nach Arbeit. In keinem Land Lateinamerikas ist der Anteil der Erwerbs­tätigen niedriger als in Venezuela, denn 44 Prozent der Bevölke­rung, die älter als 15 Jahre sind, sind wirt­schaftlich inaktiv. Dabei zeichnet sich auf dem Arbeitsmarkt in allen Alters­gruppen eine deutlich geringere Beschäftigungsrate der Frauen ab. Daher sind es neben älteren Menschen hauptsächlich Frauen, die ver­mehrt auf Rücküberwei­sungen aus dem Aus­land angewiesen sind.

Hinzu kommt: Mehr als die Hälfte der Kinder aus der ärmsten Bevölkerungsschicht können die 12-jährige Schulbildung nicht beenden. Betrachtet man den Zu­gang zu Bildung der 18- bis 24-Jährigen, fällt auf, dass der Anteil der tertiären Bildung im Jahr 2014 noch bei 48 Prozent lag, sich im Zeitraum 2019/2020 aber nahezu halbiert hat. Dies gilt in besonderem Maße für die von der Mittelschicht bevorzugten privaten Bildungseinrichtungen, da sich viele Fami­lien die Gebühren für Studium oder Aus­bildung nicht mehr leisten können. Durch die Pandemie werden sich die Bildungs­möglichkeiten tendenziell weiter verschlech­tern und die schulischen Unterbrechungen vergrößern. Fast 9 Millionen Kinder sind von der Schulschließung im Zuge der Corona-Pandemie betroffen.

Die Pandemie verschärft die Krise

Am 13. März 2020 wurden erste Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus in Vene­zuela bekannt. Die Regierung hat daraufhin den nationalen Notstand aus­gerufen und wenige Tage später eine landes­weite Qua­ran­täne verhängt.

Die Pandemie traf das ohnehin schon de­so­late Gesundheitssystem völlig unvorbereitet. Eines der gravierendsten Probleme ist die instabile Wasserversorgung, besonders im ländlichen Raum; 2019 hatten 70 Pro­zent der Krankenhäuser nur eingeschränkten Zugang zu Wasser. Darüber hinaus klagten 63 Prozent der Einrichtungen über Stromausfälle. Grundsätzlich ist der Gesund­heitssektor schlecht ausgestattet: Im ganzen Land sind nur 84 Intensivbetten vorhanden, in 9 von 10 Krankenhäusern mangelt es an Medikamenten und medizi­nischer Aus­rüs­tung, selbst Seife und Des­infektions­mittel fehlen in den meisten Fällen. Mittler­weile müssen Familien das notwendige Material für die medizinische Behandlung selbst bereitstellen. Allerdings sind Güter wie Wasser, Schutzkleidung oder Spritzen in Venezuela Mangelware oder auf­grund der Inflation unerschwinglich. Daher ver­suchen die Bürger das Nötigste in den Nach­bar­ländern zu bekom­men. Im Zuge der Pande­mie wurden die Grenzen jedoch wei­test­gehend geschlossen. Also bleibt nur der venezolanische Schwarz­markt, aber auch dort kostet ein Mund­schutz etwa 2 US-Dollar. Das ist selbst für Ärzte unbezahlbar, deren monatliches Einkom­men zwischen 6 und 15 US-Dollar liegt.

Doch nicht nur das Material ist knapp; ebenso mangelt es an Personal. Mehr als die Hälfte der Ärzte und Pflegekräfte haben inzwischen das Land verlassen. Folglich werden zahlreiche Eingriffe abgesagt und notwendige medizinische Therapien unter­brochen. Auf eine Operation muss man in Venezuela ein halbes Jahr warten.

Die Regierung verschweigt das Ausmaß der Pandemie

Die Regierung Maduro ist währenddessen bemüht, die Veröffentlichung epidemiologischer Daten zu verhindern. Ärzte und Journalisten, die sich öffentlich zum Aus­maß der humanitären Krise äußern, werden von der Regierung verfolgt und mit Repres­sionen bedroht. Espacio Público, eine Orga­nisation, die sich für Meinungsfreiheit in Venezuela einsetzt, dokumentierte bereits zahlreiche Fälle von Drohungen und will­kürlichen Festnahmen von Journalisten, die Kritik am Umgang der Regierung mit der Pandemie übten. Auch die Web­seite ›coronavirusvenezuela.info‹, eingerichtet von der Opposition unter Führung Juan Guaidós, um die Bevölkerung für die Pande­mie zu sensibilisieren und sie zu informieren, wurde nach kurzer Zeit von dem staat­lichen Internetbetreiber CANTV blockiert.

Das gesamte Ausmaß der Krise ist des­halb nicht bekannt. Einmalig veröffentlichte die Regierung epidemiologische Daten, denen zufolge Ende Mai 1 121 bestätigte Covid‑19-Infizierte und 10 Todesfälle in Venezuela gezählt wurden. Insgesamt 697 691 Corona-Tests habe die Regierung durchführen lassen. Die Testergebnisse einer Privatklinik in Caracas konfiszierte das Maduro-Regime jedoch umgehend, mit der Begründung, dass ausschließlich staat­liche Behörden Daten erheben sollen. Aus diesem Grund bezweifeln Medien und inter­nationale Organisationen die Verlässlichkeit der Angaben seitens der Regierung stark. Laut den Vereinten Nationen (VN) sind die tatsächlichen Zahlen wesentlich höher: Ende Juli 2020 lagen die Covid‑19-Infek­tio­nen bei 16 571, die Zahl der Toten bei 151.

Das Virus kehrt die Migrations­ströme um

Besonders die Migrationsbewegungen er­höhen die Gefahr, dass sich das Virus über die Landesgrenzen hinweg ausbreitet. Von den rund 5,1 Millionen geflüchteten Vene­zolanern halten sich derzeit 4,3 Millio­nen in Lateinamerika und der Karibik auf. Ziel­länder der Migration sind vor allem Kolum­bien und Peru. Mehr als die Hälfte der rund 900 000 Asylanträge von Vene­zolanern wur­den in Peru gestellt. Bislang wur­den aber nur gut 10 Pro­zent aller Anträge an­erkannt. Über 2,6 Mil­lionen Venezolaner leben mit einer Aufenthaltsgenehmigung legal in einem lateinamerikanischen Nachbarstaat.

Die schwierige wirtschaftliche und soziale Situation wegen der Covid‑19-Pan­demie er­schüttert indes die gesamte Region und hat sowohl die Kapazitäten als auch die Hilfs­bereitschaft der Nachbarländer stark strapa­ziert. Derweil sind mehr als 80 000 Vene­zo­laner in ihre Heimat zurückgekehrt, knapp die Hälfte von ihnen bereits Mitte März mit Beginn der Quarantäne und der Schlie­ßung der kolumbianischen Grenzen. Rund 45 000 weitere Flüchtlinge und Migranten kamen zwischen Anfang April und Mitte Mai zurück. Aufgrund der Corona-Pande­mie können die Geflüchteten auch im Aus­land kein Geld mehr verdienen. Doch in Venezuela ist die Situation auf dem Arbeits­markt nicht besser. 43 Prozent der Haus­halte gaben im Rahmen der ENCOVI-Um­frage an, dass sie wegen der Restriktionen im Zuge der Pandemie nicht mehr arbeiten können oder an Einkommen verloren haben.

Zudem wurden mindestens 510 der Rück­kehrenden positiv auf Covid‑19 getestet. Die Regierung verordnete ihnen daraufhin eine strikte Quarantäne und sperrte sie in Qua­ran­tänelager ein. Dort müssen die Infi­zier­ten unter teilweise unmenschlichen Bedin­gungen ausharren, auf engstem Raum, ohne Strom oder Wasser. Gleichzeitig instru­mentalisiert die sozialistische Regie­rung die infizierten Rückkehrer für ihr politisches Kalkül: Das Maduro-Regime wirft den Nachbarländern vor, den Geflüch­teten den Zugang zu medizinischer Behand­lung zu verweigern und sie als »Biowaffen« im An­griff gegen Venezuela zurückzuschicken.

Maduro sieht die Schuld bei den anderen

Maduro nennt als Ursache der aktuellen humanitären Krise gern die US-amerika­nischen Sanktionen. Erste Sanktionen wurden jedoch schon unter der Obama-Administration im Jahr 2015 eingeführt und berühren explizit keine humanitären Transaktionen. Vorrangig zielen sie auf einzelne Funktionäre des Maduro-Regimes ab, deren Vermögen eingefroren und denen die Einreise in die USA untersagt wurde. Maduro selbst steht ebenso auf der Sank­tionsliste. Inzwischen ist auch die Erdöl­industrie betroffen; seit 2019 müssen alle Zahlungen an den staatlichen Erdölkonzern PDVSA auf ein Sperrkonto erfolgen. Dadurch bricht Venezuela die wichtigste Einnahmequelle weg.

Im Zuge dessen ist in dem erdölreichen Land sogar Benzin zu einem knappen Gut geworden. Ungeachtet der landesweiten Quarantäne bilden sich lange Schlangen vor den Tankstellen. Daher lieferte die mit dem Maduro-Regime verbündete iranische Regierung Ende Mai 2020 Treibstoff nach Venezuela – sehr zum Missfallen der USA, die den Iran gleichermaßen mit Wirtschafts­sanktionen belegt haben. Auch China, ein weiterer Verbündeter Maduros, unterstützt das Regime in der Corona-Krise mit mehr als 46 Tonnen medizinischem Material und Schutzkleidung.

Die Europäische Union (EU) hat ebenfalls Sanktionen gegen Venezuela verhängt, die sich in erster Linie gegen einzelne Personen richten. 36 Mitglieder der Maduro-Regie­rung, die für Menschenrechtsverletzungen und Verhinderung demokratischer Ver­fahren verantwortlich gemacht werden, wurden mit einem Einreiseverbot in die EU und einer Vermögenssperre sanktioniert. Außer­dem verbietet die EU bereits seit November 2017 den Export von Waffen und militärischer Ausrüstung nach Venezuela.

Im März hat Staatschef Nicolás Maduro den Internationalen Währungsfonds (IWF) um einen Notfallkredit aus dem Corona-Krisenfonds in Höhe von 5 Milliarden US-Dollar gebeten. Dieser wurde jedoch abge­lehnt, da die internationale Anerkennung der Regierung Maduro in Frage stehe und sich zahlreiche IWF-Mitgliedstaaten zu Juan Guaidó bekennen.

Regierung und Opposition kooperieren im Zeichen der Pandemie-Krise

Trotz des internen Machtkampfes zwischen Staatschef Maduro und Interimspräsident Guaidó haben sich Regierung und Opposition Anfang Juni verständigt mit dem Ziel, die Pandemie durch eine gemeinsame Stra­te­gie zu bekämpfen und mithilfe der Pan­amerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO) die nötigen finanziellen Mittel dafür zu beschaffen. Der Opposition zufolge sollen Gelder aus dem »Fonds zur Befreiung Vene­zuelas«, der zuvor von den USA gesperrt worden war, für humanitäre Hilfsmaßnah­men in Venezuela verwendet werden. Dar­über hinaus teilte die spanische Regie­rung mit, eingefrorene Gelder des venezolanischen Regimes an die PAHO transferiert zu haben, damit diese zur Bewältigung der Pandemie eingesetzt werden können.

Diese Vereinbarung könnte als Muster dienen, um unter dem Dach internationaler Organisationen an einer Verbesserung der Lage der Bevölkerung zu arbeiten, ohne dass die Machtfrage geklärt ist. Ein solcher Weg könnte schrittweise auf andere Bereiche ausgedehnt werden, um die humanitäre Notlage der Bevölkerung zu lindern.

Allein in den ersten vier Monaten seit Pandemiebeginn erreichten die internationalen Hilfsprogramme zur Covid‑19-Be­kämp­fung 1 Million Menschen in Vene­zuela. Im Rahmen der humanitären Unter­stützung stehen aktuell die Themen »Wasser, Sanitäranlagen und Hygiene« (WASH), Gesundheit und Ernährungs­sicherheit im Vordergrund. Auch Deutschland engagiert sich bei der internationalen humanitären Hilfe – so ist beispielsweise das Technische Hilfswerk Partner des soge­nannten WASH-Clusters. Bislang konnte der Cluster 416 000 Perso­nen, 30 Kranken­häuser und 89 Schulen durch einen ver­besserten Zu­gang zu sauberem Wasser und mit Hygiene­produkten unterstützen.

Laut des Amtes der VN für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) werden 2020 für die Finanzierung der huma­nitären Hilfe in Venezuela 750 Millio­nen US-Dollar benötigt. Dies bedeutet einen Anstieg von 65 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 72 Millionen US-Dollar davon sollen direkt zur Bekämpfung von Covid‑19 verwendet werden.

Die internationale Flüchtlingshilfe

Flüchtlinge und Migranten aus Venezuela sollen in den 17 Aufnahmeländern in Latein­amerika und der Karibik mit 1,4 Milliarden US-Dollar unterstützt werden. Bei der Um­setzung des Regional Refugee and Migrant Response Plan (RMRP) kooperieren das VN-Flüchtlings­kommis­sariat (UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit einer Reihe von regionalen und nationalen Akteuren. Rund 3 Millionen geflüchtete Venezolaner und 1 Million Per­sonen aus den Bevölkerungen in den Aufnahmeländern sollen von den Hilfen profitieren.

Von hoher Priorität ist die soziale Inte­gration. Häufig sind Geflüchtete von staat­lichen Sozialhilfen und dem nationalen Gesundheitssystem ausgeschlossen, beson­ders wenn ihr Aufenthaltsstatus unklar ist oder Dokumente fehlen. Seit dem Ausbruch der Covid‑19-Pandemie haben viele Geflüch­tete ihre Lebensgrundlage verloren. Durch Ausgangssperre und Pandemie-Restrik­tio­nen konnten vor allem Beschäftigte des informellen Sektors nicht mehr arbeiten. Rund 44 Prozent der vene­zola­ni­schen Flücht­­linge und Migranten in Kolum­bien, Ecua­dor und Peru gehen die meiste Zeit einer unregel­mäßigen Tätigkeit nach. Ohne finan­zielle Rücklagen können diese Men­schen weder ihre Grund­bedürfnisse decken noch ihre Miete zahlen, wodurch zahl­rei­che Geflüchtete obdachlos geworden sind. Hinzu kommt, dass sie in solch einer pre­kären Situation nur schwer Quarantäne- und Schutzmaßnahmen gegen eine Covid‑19-Infektion einhalten können.

Viele lateinamerikanische Staaten zeigten sich den Geflüchteten aus Venezuela gegen­über zunächst solida­risch und öffneten ihre Grenzen. Dennoch bedeutet die Versorgung Tausender geflüch­teter Venezolaner erheb­liche Lasten für die Regierungen und Bevöl­kerungen der Aufnahmeländer. Durch die Corona-Pandemie hat sich die Lage in der gesamten Region zugespitzt, sodass die öffent­liche Infrastruk­tur der Nachbarländer an ihre Grenzen stößt und die Gastfreundschaft der Bürger langsam nachlässt.

Um venezolanische Flüchtlinge und Mig­ranten sowie die aufnehmenden Nach­bar­länder in der Region zu unterstützen, orga­nisierten die EU und die spanische Regie­rung Ende Mai eine inter­nationale Geber­konferenz. Insgesamt wur­den Hilfen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro zugesagt, wovon die EU und ihre Mit­glied­staaten 231 Millio­nen Euro beisteuern. Über­dies will die Euro­päische Kommission 144 Millionen Euro bereitstellen für un­mit­tel­bare humanitäre Hilfe sowie für Konflikt­prävention und langfristige Ent­wick­lungs­projekte. Auch die Europäische Investitions­bank (EIB) beteiligt sich an der Finanzie­rung und stellte einen Kredit in Höhe von 400 Mil­lionen Euro für die Unter­stützung der auf­nehmenden Länder in der Region in Aussicht.

Trotz alledem sind von den insgesamt benötigten 1,4 Milliarden US-Dollar zur Um­setzung des Regional Refugee and Migrant Response Plan bislang weniger als 20 Prozent der Finanzierung gesichert. Ohne eine ent­sprechende finanzielle Unterfütterung kann die Migrationsproblematik die gesamte süd­amerikanische Region erfassen und eine Krisensymptomatik entwickeln, die in den jeweiligen Aufnahmeländern massive poli­tische Verwerfungen zur Folge haben kann.

Dimensionen eines europäischen Handlungsansatzes

Für die EU ist der Moment günstig, um gezielte Impulse zu setzen, denn die Auf­merksamkeit der venezolanischen Kontra­henten gilt den beiden für sie zentralen Wahlen dieses Jahres, nämlich den US-Präsident­schaftswahlen und den nationalen Parla­mentswahlen in Venezuela.

Die nationalen Ereignisse in Venezuela werden zuweilen in übermäßiger Weise »von außen« bestimmt: durch die Einschätzung inter­nationaler Beobachter und durch ihre Einordnung in geo­politische Kalküle der strategischen Konkurrenz der USA mit China und Russ­land. Dies geschieht mit­unter zum Nachteil Guaidós. Der Auf­bau einer internationalen Unterstützer­allianz ist zum Schwerpunkt seines Handelns ge­worden; die Stärkung der nationalen Op­positionsfront hat er dem­gegenüber vernach­lässigt. Gleichzeitig ver­tieft sich die inter­nationale Isolierung der Maduro-Regierung, sodass sie immer mehr in das kleine Lager verbliebener Unter­stützer getrieben wird.

Regierung und Opposition blicken auf die Wahl des US-Präsidenten im November, um daraus für sich ein neues politisches Momentum generieren zu können. Damit sind von beiden Seiten bis dahin kaum neue Impulse zu erwarten. Dies schafft für die EU unter der deutschen Ratspräsidentschaft die Möglichkeit, sich intensiv für die Verbesserung der huma­nitären Lage der Bevölkerung einzu­setzen und dabei mit kleinen Schritten voranzukommen. Voraus­setzung dafür ist jedoch die Bereitschaft, sich aus festgefügten politi­schen Positionen zu lösen und die humanitäre Dimension in den Vordergrund zu rücken.

Europäische Fehleinschätzungen korrigieren

Zwar konnte die am 29. Juni 2020 vom Maduro-Regime verfügte Ausweisung der EU-Botschafterin in Venezuela noch ab­gewendet werden, doch ist ersichtlich, dass sich die Maduro-Regierung weiter in eine politische Isolierung hineinbewegt. Dies kann nicht im Interesse Europas und der venezolanischen Bevölkerung sein. Es muss vielmehr darum gehen, Kommunikationskanäle aufrechtzuerhalten und Wege für humanitäre Hilfe zu eröffnen. Dies bedeu­tet aber auch, bestimmte politische Posi­tio­nen zu überprüfen:

  • Humanitäre Hilfe unterstützt vor allem die Bevölkerung. Das Kalkül, damit würde letztlich das Maduro-Regime ge­stärkt, geht insoweit fehl, als man zurzeit nicht mit einem unmittelbaren Machtwechsel rechnen kann, dessen Ein­treten durch humanitäre Hilfe verzögert würde.

  • Die internationale Gemeinschaft kann die geschwächte nationale Opposition nicht ersetzen, bei Letzterer liegt das Heft des Handelns. Sie muss sich – trotz aller Widernisse seitens des Maduro-Regimes – festigen und zu gemeinsamem Handeln finden. In den sogenannten G4-Parteien der Opposition (Acción Democrática, Primero Justicia, Un Nuevo Tiempo und Voluntad Popular) wurden wichtige Pos­ten administrativ mit regierungsnahen Personen nachbesetzt, sofern sie nicht gleich ganz verboten wurden. In der gegen­wärtigen Lage bieten sich ihnen nur schlechte Optionen, faire Wahlen sind nicht zu erwarten. Es ist absehbar, dass nur eine informelle Allianz erfolgreich sein kann, um bei den Wahlen anzu­treten. Dafür werden Verhandlungen mit den Regierungsinstitutionen (dem regierungstreuen Nationalen Wahlrat und dem Obersten Gerichtshof) notwendig sein, denen man sich nicht verschließen sollte.

  • Das Interesse des Maduro-Regimes an wirt­schaftlicher Stabilität und Berechenbarkeit der ökonomischen Möglichkeiten des Landes sollte dazu genutzt werden, ein weiteres Abdriften wirtschaftlichen Han­delns in die Illegalität zu vermeiden. Über­legungen zu einem Wiederaufbauplan für das Land, die die Machtfrage zu­nächst ausklammern, könnten sich lohnen.

Humanitäre Hilfe grenz­übergreifend anlegen

Politisch und operativ ist zu empfehlen, die humanitäre Hilfe für Venezuela und venezolanische Migranten im Ausland als Gesamtpaket zu gestalten. Jenseits des jüngst von den Vereinten Nationen vor­gelegten Plans für Antworten auf die humanitäre Notlage, der eng auf den natio­nalen Rahmen beschränkt bleibt, gilt es, regionales und grenzübergreifendes Planen und Vorgehen zu intensivieren. Es kann dazu beitragen, durch konkretes Handeln unter der Ägide internationaler oder regio­naler Organisationen die politischen Konfrontationen in Venezuela abzubauen.

Die EU sollte sich weiter für die Umsetzung einer vollständig finanzierten huma­nitären Mission »Venezuela« im In- und Ausland stark machen. Die internationale Geber­konferenz Ende Mai war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Oberste Priorität sollte die Verbesserung der kata­stro­phalen Zustände in den venezolanischen Krankenhäusern haben. In diesem Zusammenhang könnten Vereinbarungen erzielt werden, die den Widerstand der Regierung gegen eine Öffnung des Landes für humanitäre Hilfe umgehen. Eine stabile Wasser- und Stromversorgung sowie ein vor­rangiger Zugang des Gesundheitswesens zu den landesweit knappen Treibstoffen sind zentral; nur so kann die Gesundheits­ver­sorgung der Bevölkerung verbessert werden.

Darüber hinaus sollte die Lima-Gruppe – deren 14 amerikanische Mitgliedstaaten eine Rückkehr zur Demokratie in Venezuela anstreben und Oppositionsführer Guaidó unterstützen – gemeinsam mit den USA und der EU den Druck auf die Regierung Maduro erhöhen, damit im ganzen Land Covid‑19-Tests jenseits staatlicher Stellen durchgeführt und verlässliche epidemiologische Daten veröffentlicht werden können. Ver­mutlich ist die Dunkelziffer hoch, so­dass bisher keine realistische Einschät­zung der Infektionslage im Land möglich ist.

Der erwei­terte Einsatz unabhängiger Experten kann für mehr Transparenz sorgen, wodurch die humanitäre Hilfe ziel­gerichtet geplant und koordiniert werden kann. Außerdem müssen sich Hilfsorganisationen ungehindert im Land bewegen können und ihre Arbeit darf nicht weiter politisiert werden. Schließlich sollte die EU darauf hinwirken, dass Ärzte und Pflegekräfte nicht länger verfolgt werden und Repressionen ausgesetzt sind.

Die humanitäre Krise hat ein weibliches Gesicht

Die ENCOVI-Studie hat deutlich gezeigt, dass Frauen eine maßgebliche Rolle spielen, wenn es darum geht, die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern. In mehr als der Hälfte der Haushalte stellen Frauen den Familienvorstand und sind Haupt­ver­die­ne­rinnen. Da sich überwiegend männ­liche Haushaltsmitglieder für die Emigra­tion ent­schieden haben, ist eine extreme Ab­hängig­keit der zurückgebliebenen Teil­familien von Zuwendungen aus dem Aus­land ent­standen, während sich gleichzeitig eine geringere Erwerbstätigkeit von Frauen her­ausgebildet hat. Damit be­finden sich Frauen – angesichts unsiche­rer finan­ziel­ler Unterstützung durch Verwandte – in einer doppelten Armutsfalle.

Dieser dramatischen Situation sollte mit spezifischen Hilfsprogrammen zur Einkom­menssicherung weiblicher Haushaltsvorstände und ihrer Familien entgegengewirkt werden. Entsprechende Erfahrungen aus basisnahen Programmen (etwa über elek­tro­nische Geldkarten) liegen in Lateinamerika vor und könnten schnell umgesetzt werden.

Angesichts der Polarisierung im Land werden Hilfsmaßnahmen und die Arbeit humanitärer Organisationen zunehmend politisiert. Die Versorgung und Ernährungs­sicherung dürfen nicht länger für politische Machtspiele instrumentalisiert werden, denn ausgetragen werden diese auf dem Rücken der Bevölkerung. Verschiedene Gründe sprechen dafür, insbesondere prä­ventive Maßnahmen wieder aufzunehmen: Allein zwischen 2015 und 2016 ist die Mütter­sterblichkeit in Venezuela um fast 66 Prozent gestiegen, eine Tendenz, die weiter anhält – auch wenn staatliche Stellen dies bestreiten. Das Land verzeichnet eine hohe Zahl von Teen­ager-Schwanger­schaften. Schließlich stehen nicht genügend HIV-Tests für schwangere Frauen zur Verfügung.

Die Unsicherheit auf den Straßen, Angst und Stress bei der Suche nach Lebens­mitteln sind zusätzliche Belastungen, die gerade Frauen zu spüren bekommen und die durch die Pandemie verstärkt werden, denn Qua­rantäneregeln und die Versorgung der Familie geraten miteinander in Widerspruch.

Das Sanktionsregime nach­justieren

Seit dem Jahr 2017 haben die USA immer strengere Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela verhängt. Diese Sanktionen haben den Zugang der Regierung zu aus­ländischen Finanzierungen begrenzt, ihre Möglichkeiten zum Verkauf von Vermögens­werten eingeschränkt und sie in jüngster Zeit daran gehindert, den Ver­einig­ten Staa­ten Öl zu verkaufen. Außerdem kann das Maduro-Regime nicht länger über inter­natio­nal angelegte Devisen- und Gold­bestände verfügen. Die Folge ist eine De‑facto-Dolla­risierung des Landes, die all jene vom Zugang zu Lebensmitteln und Waren aus­schließt, die keine Devisen haben.

Finanz- und Wirtschaftssanktionen soll­ten jedoch in keiner Weise die humanitäre Hilfe behindern. In dieser Hinsicht hat sich die EU sachdienlicher verhalten, obwohl auch sie bislang wenige positive Handlungs­anreize gesetzt hat. Hier könnte sie einen Unterschied machen und Formate ent­wickeln, die humanitäre Initiativen für Vene­zuela mit positiven Impulsen ver­sehen. Erste Erfahrungen mit der Tätigkeit kirch­licher Hilfswerke und privater Initia­tiven können als Ansporn dienen. Niemand sollte aufgrund der Sanktionen vor huma­nitärem Engagement zurückschrecken. Dauerhafte Transaktionskanäle, beispielsweise mithilfe der PAHO, könnten einge­richtet werden und einen Abbau bürokratischer Hindernisse ermöglichen.

Schutz der Zivilgesellschaft

Besonders die venezolanische Zivilbevölkerung muss gestärkt und geschützt werden. Ein zentraler Ansatzpunkt wären Menschen­rechtsorganisationen wie Espacio Público oder Fundaredes. Ihre Arbeit in Venezuela sollte ermutigt und gefördert werden, so­wohl finanziell als auch durch eine engere Vernetzung mit internationalen Organisationen und Medien, sodass Menschenrechts­verletzungen international Konsequenzen nach sich ziehen.

So kann die Expertise von Menschen­rechtsverteidigern Grundlage für eine ge­zielte Sanktionierung sein. Dies hat unter anderem der Bericht der VN-Menschen­rechts­beauf­tragten Michelle Bachelet unter­strichen, der ein klares Signal für die Fort­setzung des Engagements für Menschenrechte in und außerhalb Venezuelas gesetzt hat. Dabei steht für die innervenezolanische Agenda die Freilassung der politischen Ge­fan­genen an erster Stelle, ebenso die Wah­rung der sozialen und wirtschaftlichen Bürger­rechte. Nicht zuletzt dafür ist es entscheidend, dass Rücküberweisungen venezo­la­nischer Bürger im Ausland an ihre Familien­angehörigen auch weiterhin von Sanktionen ausgenommen werden, da sie für das wirtschaftliche Überleben in diesem krisen­geschüttelten Land überaus wichtig sind.

Claudia Bothe ist Praktikantin der Institutsleitung der SWP.

Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364