Trotz der Auswirkungen der Corona-Krise und der anhaltend hohen Migrationsdynamik zeichnet sich in Venezuela kein Ende der politischen Konfrontation ab. Das politisch-militärische Regime unter der Führung von Präsident Nicolás Maduro erweist sich als sehr resilient. Um sich finanziell am Leben zu halten, stützt es sich immer mehr auf illegale und kriminelle Öl- und Goldgeschäfte. Die internationale Sanktionspolitik hat bislang nicht die erwünschten Brüche im Machtapparat herbeigeführt, auf die viele internationale Akteure und Oppositionsmitglieder gesetzt hatten. Mit Blick auf die für den 6. Dezember 2020 vorgesehenen Parlamentswahlen hat das politische Ränkespiel Maduros erneut begonnen. Mithilfe legalistischer Tricks versucht das Regime die politische Opposition zu schwächen, indem ihre gewählten Repräsentanten abgesetzt und dadurch ihre Wahlchancen reduziert werden. Das politische Spektakel drängt die humanitäre Krise des Landes und den Kollaps des Gesundheitssystems in den Hintergrund – obwohl hierauf die Hauptaufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft liegen sollte.
Einst ein wohlhabendes Land in Lateinamerika, nimmt die Verarmung der Bevölkerung in Venezuela stetig zu. Seit Jahren steckt das Land in einer tiefen Wirtschaftskrise, deren Symptome eine unaufhaltsame Inflation, eine zusammenbrechende Infrastruktur und die zunehmende Ressourcenknappheit sind; verschärft wird diese Entwicklung durch die Verstaatlichung der Wirtschaft. Wasser, Lebensmittel und Medikamente sind Mangelware oder unerschwinglich. Dies hat einen regelrechten Massenexodus ausgelöst – mehr als 5 Millionen Venezolaner sind seit Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr 2014 aus ihrem Heimatland geflohen. Die verbliebenen 28 Millionen Venezolaner kämpfen nicht nur gegen die wirtschaftliche und politische Krise des Landes, sondern inzwischen auch mit der schweren humanitären Notlage: Die Corona-Pandemie hat die ohnehin schon komplizierte wirtschaftliche und soziale Situation zusätzlich verschlechtert.
Als sich Anfang 2019 Juan Guaidó, der Präsident der Nationalversammlung, gemäß der Verfassung zum Interimspräsidenten Venezuelas erklärte, gingen viele Beobachter von einer raschen Machttransition aus. Doch heute steht Guaidó trotz der Anerkennung durch fast 60 Staaten, darunter auch Deutschland, die USA und die Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten, an der Spitze einer Übergangsregierung, die kaum etwas bewirken kann. Der erbitterte Machtkampf zwischen Staatschef Nicolás Maduro und Oppositionsführer Guaidó hat das Land politisch tief gespalten. Maduro kann weiterhin auf das Militär zählen, das ihm demonstrativ den Rücken stärkt. Ebenso unterstützen Russland, China und der Iran das Maduro-Regime.
In erster Linie ist es die Bevölkerung, die die Auswirkungen der wirtschaftlichen, politischen und vor allem humanitären Krise in Venezuela zu spüren bekommt. Bisher lagen dazu nur wenige belastbare Daten vor. Mithilfe der ENCOVI-Umfrage 2019/2020 der Katholischen Universität Andrés Bello zu den Lebensbedingungen der venezolanischen Bevölkerung entsteht nun ein detaillierteres Bild der Situation im Land kurz vor dem Ausbruch der Covid‑19-Pandemie.
Das Ausmaß der Wirtschaftskrise
Im Jahr 2014 hat der Verfall des internationalen Ölpreises begonnen; mit ihm nahm auch die Wirtschaftskrise in Venezuela ihren Ausgang. Inzwischen ist das venezolanische Bruttoinlandsprodukt um mehr als 70 Prozent gesunken. 2018 erreichte die Inflationsrate einen Wert von 130 000 Prozent. Gleichzeitig liegt der venezolanische Mindestlohn bei gerade einmal 5 US-Dollar pro Monat. Die ENCOVI-Befragung von fast 17 000 Haushalten in Venezuela hat ergeben, dass knapp 80 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut leben und nicht einmal ihre Grundbedürfnisse sichern können. So ist es kaum verwunderlich, dass rund zwei Drittel der Bevölkerung einen mittleren bis hohen Grad an Ernährungsunsicherheit beklagen und etwa ein Fünftel von Mangelernährung bedroht ist.
Millionen Venezolaner hoffen deswegen auf ein besseres Leben im Ausland. Zwischen 2017 und 2019 haben rund 2,3 Millionen Bürger das Land verlassen, mehrheitlich Männer. Als Folge davon werden mittlerweile 60 Prozent der Haushalte von Frauen geführt. Der Großteil nannte als Hauptgrund für die Emigration die Suche nach Arbeit. In keinem Land Lateinamerikas ist der Anteil der Erwerbstätigen niedriger als in Venezuela, denn 44 Prozent der Bevölkerung, die älter als 15 Jahre sind, sind wirtschaftlich inaktiv. Dabei zeichnet sich auf dem Arbeitsmarkt in allen Altersgruppen eine deutlich geringere Beschäftigungsrate der Frauen ab. Daher sind es neben älteren Menschen hauptsächlich Frauen, die vermehrt auf Rücküberweisungen aus dem Ausland angewiesen sind.
Hinzu kommt: Mehr als die Hälfte der Kinder aus der ärmsten Bevölkerungsschicht können die 12-jährige Schulbildung nicht beenden. Betrachtet man den Zugang zu Bildung der 18- bis 24-Jährigen, fällt auf, dass der Anteil der tertiären Bildung im Jahr 2014 noch bei 48 Prozent lag, sich im Zeitraum 2019/2020 aber nahezu halbiert hat. Dies gilt in besonderem Maße für die von der Mittelschicht bevorzugten privaten Bildungseinrichtungen, da sich viele Familien die Gebühren für Studium oder Ausbildung nicht mehr leisten können. Durch die Pandemie werden sich die Bildungsmöglichkeiten tendenziell weiter verschlechtern und die schulischen Unterbrechungen vergrößern. Fast 9 Millionen Kinder sind von der Schulschließung im Zuge der Corona-Pandemie betroffen.
Die Pandemie verschärft die Krise
Am 13. März 2020 wurden erste Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus in Venezuela bekannt. Die Regierung hat daraufhin den nationalen Notstand ausgerufen und wenige Tage später eine landesweite Quarantäne verhängt.
Die Pandemie traf das ohnehin schon desolate Gesundheitssystem völlig unvorbereitet. Eines der gravierendsten Probleme ist die instabile Wasserversorgung, besonders im ländlichen Raum; 2019 hatten 70 Prozent der Krankenhäuser nur eingeschränkten Zugang zu Wasser. Darüber hinaus klagten 63 Prozent der Einrichtungen über Stromausfälle. Grundsätzlich ist der Gesundheitssektor schlecht ausgestattet: Im ganzen Land sind nur 84 Intensivbetten vorhanden, in 9 von 10 Krankenhäusern mangelt es an Medikamenten und medizinischer Ausrüstung, selbst Seife und Desinfektionsmittel fehlen in den meisten Fällen. Mittlerweile müssen Familien das notwendige Material für die medizinische Behandlung selbst bereitstellen. Allerdings sind Güter wie Wasser, Schutzkleidung oder Spritzen in Venezuela Mangelware oder aufgrund der Inflation unerschwinglich. Daher versuchen die Bürger das Nötigste in den Nachbarländern zu bekommen. Im Zuge der Pandemie wurden die Grenzen jedoch weitestgehend geschlossen. Also bleibt nur der venezolanische Schwarzmarkt, aber auch dort kostet ein Mundschutz etwa 2 US-Dollar. Das ist selbst für Ärzte unbezahlbar, deren monatliches Einkommen zwischen 6 und 15 US-Dollar liegt.
Doch nicht nur das Material ist knapp; ebenso mangelt es an Personal. Mehr als die Hälfte der Ärzte und Pflegekräfte haben inzwischen das Land verlassen. Folglich werden zahlreiche Eingriffe abgesagt und notwendige medizinische Therapien unterbrochen. Auf eine Operation muss man in Venezuela ein halbes Jahr warten.
Die Regierung verschweigt das Ausmaß der Pandemie
Die Regierung Maduro ist währenddessen bemüht, die Veröffentlichung epidemiologischer Daten zu verhindern. Ärzte und Journalisten, die sich öffentlich zum Ausmaß der humanitären Krise äußern, werden von der Regierung verfolgt und mit Repressionen bedroht. Espacio Público, eine Organisation, die sich für Meinungsfreiheit in Venezuela einsetzt, dokumentierte bereits zahlreiche Fälle von Drohungen und willkürlichen Festnahmen von Journalisten, die Kritik am Umgang der Regierung mit der Pandemie übten. Auch die Webseite ›coronavirusvenezuela.info‹, eingerichtet von der Opposition unter Führung Juan Guaidós, um die Bevölkerung für die Pandemie zu sensibilisieren und sie zu informieren, wurde nach kurzer Zeit von dem staatlichen Internetbetreiber CANTV blockiert.
Das gesamte Ausmaß der Krise ist deshalb nicht bekannt. Einmalig veröffentlichte die Regierung epidemiologische Daten, denen zufolge Ende Mai 1 121 bestätigte Covid‑19-Infizierte und 10 Todesfälle in Venezuela gezählt wurden. Insgesamt 697 691 Corona-Tests habe die Regierung durchführen lassen. Die Testergebnisse einer Privatklinik in Caracas konfiszierte das Maduro-Regime jedoch umgehend, mit der Begründung, dass ausschließlich staatliche Behörden Daten erheben sollen. Aus diesem Grund bezweifeln Medien und internationale Organisationen die Verlässlichkeit der Angaben seitens der Regierung stark. Laut den Vereinten Nationen (VN) sind die tatsächlichen Zahlen wesentlich höher: Ende Juli 2020 lagen die Covid‑19-Infektionen bei 16 571, die Zahl der Toten bei 151.
Das Virus kehrt die Migrationsströme um
Besonders die Migrationsbewegungen erhöhen die Gefahr, dass sich das Virus über die Landesgrenzen hinweg ausbreitet. Von den rund 5,1 Millionen geflüchteten Venezolanern halten sich derzeit 4,3 Millionen in Lateinamerika und der Karibik auf. Zielländer der Migration sind vor allem Kolumbien und Peru. Mehr als die Hälfte der rund 900 000 Asylanträge von Venezolanern wurden in Peru gestellt. Bislang wurden aber nur gut 10 Prozent aller Anträge anerkannt. Über 2,6 Millionen Venezolaner leben mit einer Aufenthaltsgenehmigung legal in einem lateinamerikanischen Nachbarstaat.
Die schwierige wirtschaftliche und soziale Situation wegen der Covid‑19-Pandemie erschüttert indes die gesamte Region und hat sowohl die Kapazitäten als auch die Hilfsbereitschaft der Nachbarländer stark strapaziert. Derweil sind mehr als 80 000 Venezolaner in ihre Heimat zurückgekehrt, knapp die Hälfte von ihnen bereits Mitte März mit Beginn der Quarantäne und der Schließung der kolumbianischen Grenzen. Rund 45 000 weitere Flüchtlinge und Migranten kamen zwischen Anfang April und Mitte Mai zurück. Aufgrund der Corona-Pandemie können die Geflüchteten auch im Ausland kein Geld mehr verdienen. Doch in Venezuela ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt nicht besser. 43 Prozent der Haushalte gaben im Rahmen der ENCOVI-Umfrage an, dass sie wegen der Restriktionen im Zuge der Pandemie nicht mehr arbeiten können oder an Einkommen verloren haben.
Zudem wurden mindestens 510 der Rückkehrenden positiv auf Covid‑19 getestet. Die Regierung verordnete ihnen daraufhin eine strikte Quarantäne und sperrte sie in Quarantänelager ein. Dort müssen die Infizierten unter teilweise unmenschlichen Bedingungen ausharren, auf engstem Raum, ohne Strom oder Wasser. Gleichzeitig instrumentalisiert die sozialistische Regierung die infizierten Rückkehrer für ihr politisches Kalkül: Das Maduro-Regime wirft den Nachbarländern vor, den Geflüchteten den Zugang zu medizinischer Behandlung zu verweigern und sie als »Biowaffen« im Angriff gegen Venezuela zurückzuschicken.
Maduro sieht die Schuld bei den anderen
Maduro nennt als Ursache der aktuellen humanitären Krise gern die US-amerikanischen Sanktionen. Erste Sanktionen wurden jedoch schon unter der Obama-Administration im Jahr 2015 eingeführt und berühren explizit keine humanitären Transaktionen. Vorrangig zielen sie auf einzelne Funktionäre des Maduro-Regimes ab, deren Vermögen eingefroren und denen die Einreise in die USA untersagt wurde. Maduro selbst steht ebenso auf der Sanktionsliste. Inzwischen ist auch die Erdölindustrie betroffen; seit 2019 müssen alle Zahlungen an den staatlichen Erdölkonzern PDVSA auf ein Sperrkonto erfolgen. Dadurch bricht Venezuela die wichtigste Einnahmequelle weg.
Im Zuge dessen ist in dem erdölreichen Land sogar Benzin zu einem knappen Gut geworden. Ungeachtet der landesweiten Quarantäne bilden sich lange Schlangen vor den Tankstellen. Daher lieferte die mit dem Maduro-Regime verbündete iranische Regierung Ende Mai 2020 Treibstoff nach Venezuela – sehr zum Missfallen der USA, die den Iran gleichermaßen mit Wirtschaftssanktionen belegt haben. Auch China, ein weiterer Verbündeter Maduros, unterstützt das Regime in der Corona-Krise mit mehr als 46 Tonnen medizinischem Material und Schutzkleidung.
Die Europäische Union (EU) hat ebenfalls Sanktionen gegen Venezuela verhängt, die sich in erster Linie gegen einzelne Personen richten. 36 Mitglieder der Maduro-Regierung, die für Menschenrechtsverletzungen und Verhinderung demokratischer Verfahren verantwortlich gemacht werden, wurden mit einem Einreiseverbot in die EU und einer Vermögenssperre sanktioniert. Außerdem verbietet die EU bereits seit November 2017 den Export von Waffen und militärischer Ausrüstung nach Venezuela.
Im März hat Staatschef Nicolás Maduro den Internationalen Währungsfonds (IWF) um einen Notfallkredit aus dem Corona-Krisenfonds in Höhe von 5 Milliarden US-Dollar gebeten. Dieser wurde jedoch abgelehnt, da die internationale Anerkennung der Regierung Maduro in Frage stehe und sich zahlreiche IWF-Mitgliedstaaten zu Juan Guaidó bekennen.
Regierung und Opposition kooperieren im Zeichen der Pandemie-Krise
Trotz des internen Machtkampfes zwischen Staatschef Maduro und Interimspräsident Guaidó haben sich Regierung und Opposition Anfang Juni verständigt mit dem Ziel, die Pandemie durch eine gemeinsame Strategie zu bekämpfen und mithilfe der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO) die nötigen finanziellen Mittel dafür zu beschaffen. Der Opposition zufolge sollen Gelder aus dem »Fonds zur Befreiung Venezuelas«, der zuvor von den USA gesperrt worden war, für humanitäre Hilfsmaßnahmen in Venezuela verwendet werden. Darüber hinaus teilte die spanische Regierung mit, eingefrorene Gelder des venezolanischen Regimes an die PAHO transferiert zu haben, damit diese zur Bewältigung der Pandemie eingesetzt werden können.
Diese Vereinbarung könnte als Muster dienen, um unter dem Dach internationaler Organisationen an einer Verbesserung der Lage der Bevölkerung zu arbeiten, ohne dass die Machtfrage geklärt ist. Ein solcher Weg könnte schrittweise auf andere Bereiche ausgedehnt werden, um die humanitäre Notlage der Bevölkerung zu lindern.
Allein in den ersten vier Monaten seit Pandemiebeginn erreichten die internationalen Hilfsprogramme zur Covid‑19-Bekämpfung 1 Million Menschen in Venezuela. Im Rahmen der humanitären Unterstützung stehen aktuell die Themen »Wasser, Sanitäranlagen und Hygiene« (WASH), Gesundheit und Ernährungssicherheit im Vordergrund. Auch Deutschland engagiert sich bei der internationalen humanitären Hilfe – so ist beispielsweise das Technische Hilfswerk Partner des sogenannten WASH-Clusters. Bislang konnte der Cluster 416 000 Personen, 30 Krankenhäuser und 89 Schulen durch einen verbesserten Zugang zu sauberem Wasser und mit Hygieneprodukten unterstützen.
Laut des Amtes der VN für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) werden 2020 für die Finanzierung der humanitären Hilfe in Venezuela 750 Millionen US-Dollar benötigt. Dies bedeutet einen Anstieg von 65 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 72 Millionen US-Dollar davon sollen direkt zur Bekämpfung von Covid‑19 verwendet werden.
Die internationale Flüchtlingshilfe
Flüchtlinge und Migranten aus Venezuela sollen in den 17 Aufnahmeländern in Lateinamerika und der Karibik mit 1,4 Milliarden US-Dollar unterstützt werden. Bei der Umsetzung des Regional Refugee and Migrant Response Plan (RMRP) kooperieren das VN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit einer Reihe von regionalen und nationalen Akteuren. Rund 3 Millionen geflüchtete Venezolaner und 1 Million Personen aus den Bevölkerungen in den Aufnahmeländern sollen von den Hilfen profitieren.
Von hoher Priorität ist die soziale Integration. Häufig sind Geflüchtete von staatlichen Sozialhilfen und dem nationalen Gesundheitssystem ausgeschlossen, besonders wenn ihr Aufenthaltsstatus unklar ist oder Dokumente fehlen. Seit dem Ausbruch der Covid‑19-Pandemie haben viele Geflüchtete ihre Lebensgrundlage verloren. Durch Ausgangssperre und Pandemie-Restriktionen konnten vor allem Beschäftigte des informellen Sektors nicht mehr arbeiten. Rund 44 Prozent der venezolanischen Flüchtlinge und Migranten in Kolumbien, Ecuador und Peru gehen die meiste Zeit einer unregelmäßigen Tätigkeit nach. Ohne finanzielle Rücklagen können diese Menschen weder ihre Grundbedürfnisse decken noch ihre Miete zahlen, wodurch zahlreiche Geflüchtete obdachlos geworden sind. Hinzu kommt, dass sie in solch einer prekären Situation nur schwer Quarantäne- und Schutzmaßnahmen gegen eine Covid‑19-Infektion einhalten können.
Viele lateinamerikanische Staaten zeigten sich den Geflüchteten aus Venezuela gegenüber zunächst solidarisch und öffneten ihre Grenzen. Dennoch bedeutet die Versorgung Tausender geflüchteter Venezolaner erhebliche Lasten für die Regierungen und Bevölkerungen der Aufnahmeländer. Durch die Corona-Pandemie hat sich die Lage in der gesamten Region zugespitzt, sodass die öffentliche Infrastruktur der Nachbarländer an ihre Grenzen stößt und die Gastfreundschaft der Bürger langsam nachlässt.
Um venezolanische Flüchtlinge und Migranten sowie die aufnehmenden Nachbarländer in der Region zu unterstützen, organisierten die EU und die spanische Regierung Ende Mai eine internationale Geberkonferenz. Insgesamt wurden Hilfen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro zugesagt, wovon die EU und ihre Mitgliedstaaten 231 Millionen Euro beisteuern. Überdies will die Europäische Kommission 144 Millionen Euro bereitstellen für unmittelbare humanitäre Hilfe sowie für Konfliktprävention und langfristige Entwicklungsprojekte. Auch die Europäische Investitionsbank (EIB) beteiligt sich an der Finanzierung und stellte einen Kredit in Höhe von 400 Millionen Euro für die Unterstützung der aufnehmenden Länder in der Region in Aussicht.
Trotz alledem sind von den insgesamt benötigten 1,4 Milliarden US-Dollar zur Umsetzung des Regional Refugee and Migrant Response Plan bislang weniger als 20 Prozent der Finanzierung gesichert. Ohne eine entsprechende finanzielle Unterfütterung kann die Migrationsproblematik die gesamte südamerikanische Region erfassen und eine Krisensymptomatik entwickeln, die in den jeweiligen Aufnahmeländern massive politische Verwerfungen zur Folge haben kann.
Dimensionen eines europäischen Handlungsansatzes
Für die EU ist der Moment günstig, um gezielte Impulse zu setzen, denn die Aufmerksamkeit der venezolanischen Kontrahenten gilt den beiden für sie zentralen Wahlen dieses Jahres, nämlich den US-Präsidentschaftswahlen und den nationalen Parlamentswahlen in Venezuela.
Die nationalen Ereignisse in Venezuela werden zuweilen in übermäßiger Weise »von außen« bestimmt: durch die Einschätzung internationaler Beobachter und durch ihre Einordnung in geopolitische Kalküle der strategischen Konkurrenz der USA mit China und Russland. Dies geschieht mitunter zum Nachteil Guaidós. Der Aufbau einer internationalen Unterstützerallianz ist zum Schwerpunkt seines Handelns geworden; die Stärkung der nationalen Oppositionsfront hat er demgegenüber vernachlässigt. Gleichzeitig vertieft sich die internationale Isolierung der Maduro-Regierung, sodass sie immer mehr in das kleine Lager verbliebener Unterstützer getrieben wird.
Regierung und Opposition blicken auf die Wahl des US-Präsidenten im November, um daraus für sich ein neues politisches Momentum generieren zu können. Damit sind von beiden Seiten bis dahin kaum neue Impulse zu erwarten. Dies schafft für die EU unter der deutschen Ratspräsidentschaft die Möglichkeit, sich intensiv für die Verbesserung der humanitären Lage der Bevölkerung einzusetzen und dabei mit kleinen Schritten voranzukommen. Voraussetzung dafür ist jedoch die Bereitschaft, sich aus festgefügten politischen Positionen zu lösen und die humanitäre Dimension in den Vordergrund zu rücken.
Europäische Fehleinschätzungen korrigieren
Zwar konnte die am 29. Juni 2020 vom Maduro-Regime verfügte Ausweisung der EU-Botschafterin in Venezuela noch abgewendet werden, doch ist ersichtlich, dass sich die Maduro-Regierung weiter in eine politische Isolierung hineinbewegt. Dies kann nicht im Interesse Europas und der venezolanischen Bevölkerung sein. Es muss vielmehr darum gehen, Kommunikationskanäle aufrechtzuerhalten und Wege für humanitäre Hilfe zu eröffnen. Dies bedeutet aber auch, bestimmte politische Positionen zu überprüfen:
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Humanitäre Hilfe unterstützt vor allem die Bevölkerung. Das Kalkül, damit würde letztlich das Maduro-Regime gestärkt, geht insoweit fehl, als man zurzeit nicht mit einem unmittelbaren Machtwechsel rechnen kann, dessen Eintreten durch humanitäre Hilfe verzögert würde.
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Die internationale Gemeinschaft kann die geschwächte nationale Opposition nicht ersetzen, bei Letzterer liegt das Heft des Handelns. Sie muss sich – trotz aller Widernisse seitens des Maduro-Regimes – festigen und zu gemeinsamem Handeln finden. In den sogenannten G4-Parteien der Opposition (Acción Democrática, Primero Justicia, Un Nuevo Tiempo und Voluntad Popular) wurden wichtige Posten administrativ mit regierungsnahen Personen nachbesetzt, sofern sie nicht gleich ganz verboten wurden. In der gegenwärtigen Lage bieten sich ihnen nur schlechte Optionen, faire Wahlen sind nicht zu erwarten. Es ist absehbar, dass nur eine informelle Allianz erfolgreich sein kann, um bei den Wahlen anzutreten. Dafür werden Verhandlungen mit den Regierungsinstitutionen (dem regierungstreuen Nationalen Wahlrat und dem Obersten Gerichtshof) notwendig sein, denen man sich nicht verschließen sollte.
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Das Interesse des Maduro-Regimes an wirtschaftlicher Stabilität und Berechenbarkeit der ökonomischen Möglichkeiten des Landes sollte dazu genutzt werden, ein weiteres Abdriften wirtschaftlichen Handelns in die Illegalität zu vermeiden. Überlegungen zu einem Wiederaufbauplan für das Land, die die Machtfrage zunächst ausklammern, könnten sich lohnen.
Humanitäre Hilfe grenzübergreifend anlegen
Politisch und operativ ist zu empfehlen, die humanitäre Hilfe für Venezuela und venezolanische Migranten im Ausland als Gesamtpaket zu gestalten. Jenseits des jüngst von den Vereinten Nationen vorgelegten Plans für Antworten auf die humanitäre Notlage, der eng auf den nationalen Rahmen beschränkt bleibt, gilt es, regionales und grenzübergreifendes Planen und Vorgehen zu intensivieren. Es kann dazu beitragen, durch konkretes Handeln unter der Ägide internationaler oder regionaler Organisationen die politischen Konfrontationen in Venezuela abzubauen.
Die EU sollte sich weiter für die Umsetzung einer vollständig finanzierten humanitären Mission »Venezuela« im In- und Ausland stark machen. Die internationale Geberkonferenz Ende Mai war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Oberste Priorität sollte die Verbesserung der katastrophalen Zustände in den venezolanischen Krankenhäusern haben. In diesem Zusammenhang könnten Vereinbarungen erzielt werden, die den Widerstand der Regierung gegen eine Öffnung des Landes für humanitäre Hilfe umgehen. Eine stabile Wasser- und Stromversorgung sowie ein vorrangiger Zugang des Gesundheitswesens zu den landesweit knappen Treibstoffen sind zentral; nur so kann die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung verbessert werden.
Darüber hinaus sollte die Lima-Gruppe – deren 14 amerikanische Mitgliedstaaten eine Rückkehr zur Demokratie in Venezuela anstreben und Oppositionsführer Guaidó unterstützen – gemeinsam mit den USA und der EU den Druck auf die Regierung Maduro erhöhen, damit im ganzen Land Covid‑19-Tests jenseits staatlicher Stellen durchgeführt und verlässliche epidemiologische Daten veröffentlicht werden können. Vermutlich ist die Dunkelziffer hoch, sodass bisher keine realistische Einschätzung der Infektionslage im Land möglich ist.
Der erweiterte Einsatz unabhängiger Experten kann für mehr Transparenz sorgen, wodurch die humanitäre Hilfe zielgerichtet geplant und koordiniert werden kann. Außerdem müssen sich Hilfsorganisationen ungehindert im Land bewegen können und ihre Arbeit darf nicht weiter politisiert werden. Schließlich sollte die EU darauf hinwirken, dass Ärzte und Pflegekräfte nicht länger verfolgt werden und Repressionen ausgesetzt sind.
Die humanitäre Krise hat ein weibliches Gesicht
Die ENCOVI-Studie hat deutlich gezeigt, dass Frauen eine maßgebliche Rolle spielen, wenn es darum geht, die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern. In mehr als der Hälfte der Haushalte stellen Frauen den Familienvorstand und sind Hauptverdienerinnen. Da sich überwiegend männliche Haushaltsmitglieder für die Emigration entschieden haben, ist eine extreme Abhängigkeit der zurückgebliebenen Teilfamilien von Zuwendungen aus dem Ausland entstanden, während sich gleichzeitig eine geringere Erwerbstätigkeit von Frauen herausgebildet hat. Damit befinden sich Frauen – angesichts unsicherer finanzieller Unterstützung durch Verwandte – in einer doppelten Armutsfalle.
Dieser dramatischen Situation sollte mit spezifischen Hilfsprogrammen zur Einkommenssicherung weiblicher Haushaltsvorstände und ihrer Familien entgegengewirkt werden. Entsprechende Erfahrungen aus basisnahen Programmen (etwa über elektronische Geldkarten) liegen in Lateinamerika vor und könnten schnell umgesetzt werden.
Angesichts der Polarisierung im Land werden Hilfsmaßnahmen und die Arbeit humanitärer Organisationen zunehmend politisiert. Die Versorgung und Ernährungssicherung dürfen nicht länger für politische Machtspiele instrumentalisiert werden, denn ausgetragen werden diese auf dem Rücken der Bevölkerung. Verschiedene Gründe sprechen dafür, insbesondere präventive Maßnahmen wieder aufzunehmen: Allein zwischen 2015 und 2016 ist die Müttersterblichkeit in Venezuela um fast 66 Prozent gestiegen, eine Tendenz, die weiter anhält – auch wenn staatliche Stellen dies bestreiten. Das Land verzeichnet eine hohe Zahl von Teenager-Schwangerschaften. Schließlich stehen nicht genügend HIV-Tests für schwangere Frauen zur Verfügung.
Die Unsicherheit auf den Straßen, Angst und Stress bei der Suche nach Lebensmitteln sind zusätzliche Belastungen, die gerade Frauen zu spüren bekommen und die durch die Pandemie verstärkt werden, denn Quarantäneregeln und die Versorgung der Familie geraten miteinander in Widerspruch.
Das Sanktionsregime nachjustieren
Seit dem Jahr 2017 haben die USA immer strengere Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela verhängt. Diese Sanktionen haben den Zugang der Regierung zu ausländischen Finanzierungen begrenzt, ihre Möglichkeiten zum Verkauf von Vermögenswerten eingeschränkt und sie in jüngster Zeit daran gehindert, den Vereinigten Staaten Öl zu verkaufen. Außerdem kann das Maduro-Regime nicht länger über international angelegte Devisen- und Goldbestände verfügen. Die Folge ist eine De‑facto-Dollarisierung des Landes, die all jene vom Zugang zu Lebensmitteln und Waren ausschließt, die keine Devisen haben.
Finanz- und Wirtschaftssanktionen sollten jedoch in keiner Weise die humanitäre Hilfe behindern. In dieser Hinsicht hat sich die EU sachdienlicher verhalten, obwohl auch sie bislang wenige positive Handlungsanreize gesetzt hat. Hier könnte sie einen Unterschied machen und Formate entwickeln, die humanitäre Initiativen für Venezuela mit positiven Impulsen versehen. Erste Erfahrungen mit der Tätigkeit kirchlicher Hilfswerke und privater Initiativen können als Ansporn dienen. Niemand sollte aufgrund der Sanktionen vor humanitärem Engagement zurückschrecken. Dauerhafte Transaktionskanäle, beispielsweise mithilfe der PAHO, könnten eingerichtet werden und einen Abbau bürokratischer Hindernisse ermöglichen.
Schutz der Zivilgesellschaft
Besonders die venezolanische Zivilbevölkerung muss gestärkt und geschützt werden. Ein zentraler Ansatzpunkt wären Menschenrechtsorganisationen wie Espacio Público oder Fundaredes. Ihre Arbeit in Venezuela sollte ermutigt und gefördert werden, sowohl finanziell als auch durch eine engere Vernetzung mit internationalen Organisationen und Medien, sodass Menschenrechtsverletzungen international Konsequenzen nach sich ziehen.
So kann die Expertise von Menschenrechtsverteidigern Grundlage für eine gezielte Sanktionierung sein. Dies hat unter anderem der Bericht der VN-Menschenrechtsbeauftragten Michelle Bachelet unterstrichen, der ein klares Signal für die Fortsetzung des Engagements für Menschenrechte in und außerhalb Venezuelas gesetzt hat. Dabei steht für die innervenezolanische Agenda die Freilassung der politischen Gefangenen an erster Stelle, ebenso die Wahrung der sozialen und wirtschaftlichen Bürgerrechte. Nicht zuletzt dafür ist es entscheidend, dass Rücküberweisungen venezolanischer Bürger im Ausland an ihre Familienangehörigen auch weiterhin von Sanktionen ausgenommen werden, da sie für das wirtschaftliche Überleben in diesem krisengeschüttelten Land überaus wichtig sind.
Claudia Bothe ist Praktikantin der Institutsleitung der SWP.
Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP.
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doi: 10.18449/2020A66