Der Green Deal, den die Europäische Kommission 2019 auf den Weg gebracht hat, erfordert eine Neuausrichtung der Energiediplomatie der Europäischen Union (EU). Allerdings sollte die Energiediplomatie nicht auf die Außenkommunikation des Green Deal reduziert werden. Vielmehr wird sie sich mit den tiefgreifenden und vielfältigen geoökonomischen und geopolitischen Veränderungen auseinandersetzen müssen, die die Energiewende mit sich bringt. Deswegen sollte der Aktionsplan der EU-Energiediplomatie von 2015 angepasst werden. Wenn die EU dabei neue Prioritäten setzt, wird sie ein realistisches Gleichgewicht zwischen ihren globalen Bestrebungen und ihren begrenzten finanziellen Mitteln finden müssen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sollte ihre Bemühungen um eine Aufwertung der EU-Energiediplomatie in drei Richtungen intensivieren. Erstens: die bestehenden Prioritäten entsprechend den neuartigen Herausforderungen überprüfen. Zweitens: den geographischen Aktionsradius über die direkte Nachbarschaft hinaus erweitern auf 12 Ankerpartner entlang der afro-euro-asiatischen Ellipse, denen besondere Aufmerksamkeit zukommen sollte. Drittens: das energie-außenpolitische Instrumentarium passend zu fünf neuen Aktionsbereichen nachjustieren, wobei ein realistischer und auf das jeweilige Land zugeschnittener Ansatz einem normativ-ideologischen vorzuziehen ist.
2019 hat die Von-der-Leyen-Kommission den europäischen Green Deal angekündigt, der Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen soll. Darauf folgte im Mai 2020 das Konjunkturprogramm für die nächste Generation als Antwort auf die Covid‑19-Pandemie. Beides hat Konsequenzen für Außenpolitik und Energiediplomatie der EU, da der Green Deal explizit den europäischen Kontinent umfasst und eine globale Führungsrolle für die Union vorsieht, um seine Agenda zu verbreiten.
Die Energiediplomatie der EU wird sich nicht nur am Green Deal ausrichten müssen, sondern auch an den tiefgreifenden geoökonomischen und geopolitischen Veränderungen, die – nicht zuletzt – durch die (vielfältigen) Energiewende(n) weltweit in Gang gesetzt wurden. Diese fundamentalen Umbrüche ergeben sich aus neuen strategischen Technologien und Wertschöpfungsketten rund um erneuerbare Energiequellen; durch Produktion, Handel und Transport von (klimaneutralen) Gasen, etwa Wasserstoff und seinen Folgeprodukten, von Batterien und modernen Speichertechnologien; aus der beschleunigten Digitalisierung der Energiesysteme; aus einer zunehmenden Elektrifizierung der Volkswirtschaften infolge der Energiewende sowie der neuen industriellen Revolution (Industrie 4.0); aus grenzüberschreitenden Stromnetzverbindungen und neuen »Netzgemeinschaften«; schließlich aus Veränderungen der Finanz- und Investitionslandschaft.
Darüber hinaus treiben zum Beispiel China und die USA alternative (und konkurrierende) Visionen für das zukünftige Energiesystem voran. Dies wirkt sich nicht nur auf globale Transformationsprozesse aus, sondern ebenso auf etablierte Partnerschaften – sowohl innerhalb der EU als auch mit Drittländern. Multilaterale Governance Mechanismen der Energietransformation werden untergraben, während wirtschaftliche Fragmentierung und technologisch-normativer Wettbewerb zunehmen.
Außerdem hatte und hat die Covid‑19-Pandemie einschneidende und langfristige Auswirkungen auf die europäischen wie globalen Energiesysteme. Der weltweite Einbruch der Öl- (und Gas-)Preise wird nicht nur die Stabilität der Volkswirtschaften beeinträchtigen, die vom Export fossiler Brennstoffe abhängig sind, sondern auch die europäische Energieindustrie. Neben diesem unmittelbaren Schock wirken sich mittelfristig global aus: die Unterbrechung der Wind- und Solar-Wertschöpfungsketten, fehlende Investitionen im Energiesektor, Verzögerungen beim Bau kritischer Infrastrukturen und Anlagen zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien, tiefgreifende Veränderungen im Verbrauchsverhalten, die rasche und unkontrollierte Digitalisierung des Energiesektors. Die Transformation hin zu nachhaltigen und widerstandsfähigen Energiesystemen ist wegen der Corona-Krise vordringlich und von zentraler Bedeutung.
Die Energiediplomatie der EU steht nun vor der komplexen Aufgabe, verschiedene Politikfelder auszutarieren: Klima, Industrie, Handel, Entwicklung, Energie, Sicherheit – in bi-, pluri- und multilateralen Formaten.
Strategische Prioritäten für die Transformation
Angesichts dieser Herausforderungen muss die EU erstens ihre Energiediplomatie entlang einiger klarer strategischer Prioritäten neu formulieren; zweitens muss sie anhand dieser Schwerpunkte Schlüsselländer identifizieren, mit denen sie (in Zukunft) zusammenarbeiten will; drittens wird sie ihr Instrumentarium entsprechend ihren strategischen Prioritäten und den identifizierten Partnern neu definieren müssen.
Daher sollte die EU fünf Prioritäten in der Energiediplomatie setzen.
1) Da immer mehr konkurrierende Visionen und Regelwerke für das künftige Energiesystem propagiert werden, ist es für die EU entscheidend, ihre Position bei der Normen- und Standardsetzung zu stärken und transparente Kooperationsmechanismen für technische und regulatorische Fragen zu fördern.
2) In Anbetracht des zunehmend wettbewerbsorientierten geoökonomischen Umfelds – das den Wettbewerb um Marktanteile und die Kontrolle neuer Technologien, Wertschöpfungs- und Lieferketten umfasst – ist die zweite Priorität, die wirtschaftlichen Möglichkeiten für europäische Unternehmen zu stärken und zu verbessern. Das gilt vor allem in angestammten und wachsenden Märkten für erneuerbare Energien, kohlendioxid(CO2)-arme und digitale Technologien.
3) Drittens muss die Sicherheit und Stabilität sowohl der Energieversorgung als auch der Energiesysteme gewährleistet, verbessert und transformiert werden. Die traditionelle Sicherung der Versorgung mit fossilen Brennstoffen, insbesondere Gas, wird während der Transformation bedeutsam bleiben. Allerdings muss die Sicherheit und Stabilität des Systems angesichts der neuartigen Herausforderungen und des veränderten Marktumfeldes ausgedehnt werden, nämlich auf das Stromnetz, CO2-arme oder -neutrale Brennstoffe wie Wasserstoff und seine nachgeschalteten Produkte, ferner auf Rohstoffe, die für Batterien, Speicher und Erzeugungsanlagen wichtig sind. Dieser Ansatz sollte nicht nur auf die soziale und politische Stabilität der EU ausgerichtet sein, sondern ausgeweitet werden auf die der Nachbarländer sowie der Länder, die besonders anfällig für diese Verschiebungen sind (z. B. Petrostaaten, politisch instabile Länder). Energiebeziehungen bieten zwar keinen Königsweg, um die Herausforderungen anzugehen, mit denen diese Länder konfrontiert sind. Dennoch sind sie ein Hebel für die EU, um zu politischer und sozialer Stabilität beizutragen.
4) Viertens sollte das Ziel der nachhaltigen Entwicklung im Energiebereich (SDG 7) prioritär verfolgt werden, um den Zugang zu erschwinglicher, zuverlässiger, nachhaltiger und moderner Energie für alle in den Partnerländern zu gewährleisten.
5) Im Einklang mit dem Green Deal und zur Stärkung des internationalen Systems ist es fünftens notwendig, die multilateralen Kooperationsmechanismen im Rahmen des Pariser Klimaabkommens voranzubringen.
In Anbetracht der globalen Reichweite dieser Herausforderungen einerseits und der begrenzten politischen und finanziellen Ressourcen der EU andererseits besteht ein inhärentes Dilemma. Eine Überdehnung der Ambitionen muss vermieden werden, auch im Interesse des Erwartungsmanagements in den jeweiligen Partnerländern. Umfang und Reichweite europäischer Energiepolitik müssen auf den Prüfstand.
Neukartierung der Energiepartner
Die EU wird ihre Prioritäten in Bezug auf Partnerländer und -regionen neu setzen müssen. Angesichts der globalen und systemischen Verschiebungen in der Energielandschaft wird der traditionelle Fokus auf die »europäische Nachbarschaft« nicht ausreichen. Da die EU nicht über unbegrenzte Mittel verfügt, um ihre energiediplomatischen Bemühungen auszuweiten, ist ein Weg die Wahl von besonders interessanten Ankerpartnern.
Um eine neue Landkarte mit Ankerpartnerschaften für die EU-Energiediplomatie zu erstellen, sind folgende Überlegungen zielführend: Welche »historischen« Energiepartnerschaften bleiben bestehen und wie sollen sie modifiziert werden? Was wird sich an der Dynamik und den Formaten der künftigen Zusammenarbeit ändern? Welche neuen Partnerschaften sind in der Ära der Transformation des Energiesystems anzustreben? Wie wird der Werkzeugkasten für die neue Energiediplomatie der EU aussehen?
Strategisch relevante Ankerpartner zu identifizieren ist für die Energiediplomatie der Union wichtig. Die strategische Bedeutung der betreffenden Länder ergibt sich aus den fünf oben entwickelten Prioritäten sowie aus ihrem erklärten Interesse, mit der EU zu kooperieren und sich der europäischen Energie- und Klimaagenda anzuschließen.
Norwegen, das Vereinigte Königreich und der Balkan sind sämtlich Mitglieder des europäischen Wirtschafts- und Regulierungsraums. Sie werden deshalb als »natürliche Partner« betrachtet. Die USA, China und Japan als die drei größten Volkswirtschaften der Welt sind zentrale Akteure bei der Norm- und Regelsetzung sowie der Ausprägung der Energiemärkte. Die EU wird sich daher in jedem Fall mit den Weltbildern auseinandersetzen müssen, die die USA und China exportieren. Deren globaler Einfluss sowie ihre Rivalität, Systemkonkurrenz und forcierte Entkopplung werden massiv auf die EU einwirken und ohnehin Ressourcen binden.
China investiert expansionistisch in kritische Infrastruktur, es verfolgt seine Politik des »ohne normative Auflagen«. Es arbeitet mit nichtdemokratischen Regimen zusammen und versucht, alternative multilaterale Regierungsstrukturen zu schaffen oder bestehende zu transformieren. Die USA nehmen eine isolationistische Haltung ein und haben mit ihrer Strategie der »Energiedominanz« dem Multilateralismus zugunsten nationaler Interessen eine Absage erteilt. Japan wiederum setzt auf eine Energie-Governance, die auf multilateralen Normen basiert. Trotz teilweise konkurrierender Industrieinteressen könnte es sich als entscheidender globaler Verbündeter für die Energiediplomatie der EU erweisen.
Darüber hinaus sollte die EU bewusst in Afroeurasien Ankerpartner suchen, da in diesem kontinentalen Raum die geopolitischen Verschiebungen, die durch die globale(n) Energiewende(n) in Gang gesetzt worden sind, besonders ausgeprägt sind. Auch wenn die EU ihre Hauptbemühungen auf die im nächsten Kapitel aufgeführten Länder fokussiert, sollte sie ihren Dialog und ihr Engagement in Lateinamerika aufrechterhalten, einer der dynamischsten Regionen in puncto Energietransformation. Brasilien und Argentinien sind zum Beispiel unter den Schwellenländern wichtige Ziele für Investitionen in erneuerbare Energien, Chile ist für strategische Rohstoffe von zentraler Bedeutung. Zudem sind die Länder der Region relevante Akteure in den multilateralen Governance-Foren, vor allem im Rahmen der G20.
Ankerpartner in der afro-euro-asiatischen Ellipse
Anhand der fünf oben genannten Prioritäten lassen sich zwölf Ankerpartner identifizieren, die geographisch in einer afro-euro-asiatischen Ellipse liegen – einem mehr oder weniger zusammenhängenden Raum, der die unmittelbare Nachbarschaft der EU im Osten und Süden nicht nur einschließt, sondern über sie hinausgeht (s. Grafik). Die Rangliste der Länder ergibt sich aus ihrer Relevanz hinsichtlich dieser Prioritäten, konkret: aus der gewichteten Bewertung ihres Leistungsniveaus in Bezug auf die fünf Prioritäten der EU, kombiniert mit den qualitativen Einschätzungen der Autorinnen und des Autors, inwiefern diese Länder zur Zusammenarbeit in Fragen der Energiewende bereit sind, und ihrer allgemeinen strategischen Relevanz.
Die Ergebnisse zeigen drei Kategorien von Ländern auf: einerseits solche, die bereits mit der EU in Energiefragen erfolgreich zusammenarbeiten (z. B. die Energiedialoge EU–Indien, EU–Algerien und EU–Ägypten). Andererseits Länder, die mit der EU kooperieren, wobei die bestehenden Formate und Instrumente aber überdacht werden müssen – da einige Partnerschaften, insbesondere mit Russland und der Ukraine, traditionell ausgerichtet sind, das heißt auf die Versorgungssicherheit der EU. Schließlich Länder, die bisher eher eine Randrolle spielen und in denen sich die EU viel stärker engagieren sollte, etwa Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Kasachstan und Usbekistan.
Indien ist im Bereich der Regel- und Normsetzung von strategisch herausragender Bedeutung. Das Land hat eine zentrale Rolle für das Pariser Abkommen inne, da es der drittgrößte CO2-Emittent ist. Indien plant, seine Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 2005 um 35 Prozent zu reduzieren und den Anteil seiner nichtfossilen Stromerzeugungskapazitäten bis 2030 auf 40 Prozent (oder 450 GW) zu erhöhen. Das Investitionsklima für ausländische Investitionen ist günstig, außerdem steigt der Energiebedarf. Zugang zu Strom und sauberer Energie zum Kochen ist für eine nachhaltige Entwicklung entscheidend.
Die Ukraine ist nicht nur als Nachbarland der EU von großem strategischem Gewicht. Sie ist ferner Mitglied der Energiegemeinschaft und damit des gemeinsamen Energiemarktes. Überdies möchte Kiew sich an den Green Deal der EU anschließen. Traditionell ist die Ukraine Transitland für Erdgas, künftig auch Partner für die Erzeugung, den Transport und die Speicherung emissionsarmer oder ‑neutraler Gase. Nicht zuletzt soll das Land 2025 mit dem kontinentaleuropäischen Stromnetz synchronisiert sein. Energieeffizienz und der Ausbau erneuerbarer Energien werden durch den Regulierungsrahmen gefördert.
Ägypten hat eine geostrategisch wichtige Lage, ist Gas- und Stromumschlagplatz und daher von enormer Bedeutung für die EU, gerade mit Blick auf Norm- und Standardsetzung. Aufgrund seines wachsenden Industriesektors, seines Heimatmarktes von 98 Millionen Menschen, seines rasch steigenden Strombedarfs, seiner ehrgeizigen Ziele in Bezug auf erneuerbare Energien und seiner Pläne zur Steigerung der Energieeffizienz ist es ein vielversprechender Partner für Europa. Die industrielle Basis (Wind-, PV- und CSP-Technologie) und der regulatorische Rahmen bieten echte Chancen für die europäische Wirtschaft.
Russland ist der wichtigste Energielieferant der EU und ihr größter Nachbar. Die Dekarbonisierung der EU wird Russlands Einnahmen schrumpfen lassen. Deswegen ist Kooperation mit Russland im Bereich erneuerbare Energien, Methanemissionen, Wasserstoff und Energieeffizienz nötig, nicht nur um die Folgen der Transformation für die russische Wirtschaft abzufedern, sondern auch um Russland für eine grünere Zukunft zu gewinnen und das Land im Pariser Abkommen zu halten. Russland ist nicht zuletzt ein wesentlicher Partner für einen Dialog über technische und regulatorische Fragen – als Norm- und Standardsetzer in der Eurasischen Wirtschaftsunion.
Die Türkei ist mit dem kontinentaleuropäischen Stromnetz synchronisiert und als Transitland für Erdgas relevant. Geostrategisch ist sie als Brücke zwischen Europa und Asien, dem Kaukasus, dem Nahen Osten und dem östlichen Mittelmeerraum bedeutsam. Die Türkei gehört zur EU-Zollunion. Außerdem hat sie Regeln, Normen und Standards im liberalisierten Strommarkt übernommen und bietet Kooperationschancen bei erneuerbaren Energien, CleanTech und Energieeffizienz.
Auch Algerien, wichtiger Öl- und Gaslieferant der EU, wird von der Dekarbonisierung der Union stark betroffen sein. Letztere könnte das Land bei der Anpassung unterstützen, zum Beispiel bei der Energiemarktreform, bei Energiesparmaßnahmen und der Umsetzung ehrgeiziger Pläne für den Ausbau erneuerbarer Energien. Algerien ist ein relevanter Ankerpartner bei der regionalen Stromnetzintegration, darüber hinaus bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Bereich der Energieeffizienz und der Windkraft-Wertschöpfungsketten.
Marokko ist mit dem europäischen Festlandnetz synchronisiert und möchte sich zu einer regionalen Stromdrehscheibe entwickeln. Sein Erneuerbaren-Potenzial und sein günstiger regulatorischer Rahmen machen es zu einem attraktiven Markt für europäische Technologie, insbesondere für Parabolrinnen-Solarkraftwerke (CSP) und Wind, ebenso für Elektrolyseure. Da Investitionen und Technologietransfers aus China und der Golfregion zunehmen, wäre eine stärkere Präsenz der EU auch von strategischer Bedeutung. Schließlich sind die marokkanischen Emissions- und Erneuerbare-Energien-Ziele ehrgeizig und gehören zu den wenigen national festgelegten Beiträgen (NDCs), die mit den Zielen des Pariser Abkommens vereinbar sind.
Indonesien ist ein maßgeblicher Produktionsstandort für Erneuerbaren-Technologie in Ostasien. Zwar ist sein wirtschaftliches Potenzial im Bereich der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz beachtlich, aber bisher wurden kaum Projekte realisiert; es mangelt an Investitionen, ein transparenter Regulierungsrahmen fehlt. Mit Blick auf das Pariser Abkommen sollte die EU überlegen, wie sie diesen großen CO2-Emittenten und eines der bevölkerungsreichsten Länder der Welt bei dem Ziel unterstützen kann, seine Emissionen bis 2040 um 41 Prozent zu reduzieren im Vergleich zu einem »business as usual«-Szenario.
Saudi-Arabien, größter Ölexporteur der Welt, strebt eine Energiewende an, um einen Dreiklang der Ziele zu erreichen: wirtschaftliche Diversifizierung, nachhaltige Entwicklung, Stabilität. In seiner Vision 2030 setzt Riad in großem Stil auf die Entwicklung einer Kreislauf-Kohlenstoff-Wirtschaft, auf CleanTech und die Vertiefung der Wertschöpfungsketten sowie auf Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz. Saudi-Arabien spielt auch eine Schlüsselrolle bei der Schaffung eines regionalen Elektrizitätsmarktes. Dies alles eröffnet Chancen für EU-Unternehmen und ist Anreiz für die EU, die regulatorische und wirtschaftliche Kooperation auszubauen.
Kasachstan wird – zusammen mit Usbekistan – ein entscheidender Ankerpartner der EU in Zentralasien sein, wenn es um grenzüberschreitende Wasser- und Energiefragen, die regionale Netz(re)integration sowie den Stromhandel geht. Das Land strebt eine wirtschaftliche Diversifizierung an und fördert ausländische Direktinvestitionen im Fertigungssektor von erneuerbaren Technologien. Kasachstan ist das zweitwichtigste Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion und ein Hauptziel chinesischer Investitionen in Stromerzeugung in Zentralasien. Deshalb wird die EU-Partnerschaft mit dem Land ausschlaggebend sein für die Förderung von EU-Regeln, ‑Normen und ‑Standards in der Region.
Usbekistan spielt ebenfalls eine Rolle für eine tiefere regionale Zusammenarbeit im Energiebereich (Reaktivierung des zentralasiatischen Stromsystems, Wasser-Energie-Land-Nexus). Die angekündigten Strommarktreformen und die aktuelle diplomatische Öffnung des Landes bieten gute Anknüpfungspunkte für eine regulatorische und wirtschaftliche Kooperation. Die hohe Energieintensität, der steigende Energiebedarf und das rasche Wirtschaftswachstum machen den Markt für europäische Unternehmen attraktiv. Auch die unzuverlässige Stromversorgung in ländlichen Gebieten und wiederholte Stromausfälle sind gute Gründe für eine Zusammenarbeit mit der EU.
Die Vereinigten Arabischen Emirate sind Vorreiter bei den Erneuerbaren, als Gastland der Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien (IRENA), als Investor in anderen Regionen und bei multilateraler Kooperation. Die VAE sind überdies Teil der regionalen Netzintegration. Damit wären sie ein wichtiger Partner für die EU, wenn es darum geht, Technologiestandards zu exportieren, in regionale und globale Wertschöpfungsketten zu investieren und globale Foren für die Energiediskussion zu stärken.
Aufwertung des energiediplomatischen Instrumentariums der EU
Die Auswahl der 12 Ankerpartner innerhalb der afro-euro-asiatischen Ellipse ist prioritär, um den Aktionsradius der Energiediplomatie der EU im Rahmen des Green Deal zu bestimmen, zumal angesichts begrenzter Mittel und wachsender globaler Herausforderungen. Des Weiteren müssen die Instrumente entsprechend angepasst und erweitert werden.
Die EU sollte dabei keinen streng normbasierten »one size fits all«-Ansatz verfolgen. Im Gegenteil: Die politische Lage, die Ausgangssituation, die definierten Transformationspfade und die Gewichtung der Klimapolitik sind bei den jeweiligen Ankerpartnern sehr unterschiedlich. Das erfordert einen flexiblen und gut bestückten Instrumentenkasten. Die bereits vorhandenen Instrumente sollten entlang der folgenden fünf überarbeiteten Aktionsbereiche konsolidiert, verbessert und operationalisiert werden.
1) Normativ-regulatorischer Austausch und Transfer. Dieser Bereich umfasst Reformen des Energiemarktes, Netzkodizes und ‑entgelte, technische Normen und Zertifikate für den Netzbetrieb, den Handel mit und die Erzeugung von erneuerbaren Energien und ›sauberen‹ Gasen. Hierfür müssen die bereits bestehenden Instrumente angepasst werden. Bilaterale Energiedialoge und ‑partnerschaften sollten den Austausch über technische und regulatorische Fragen auf Arbeitsebene einbeziehen. Sie sollten über allgemeine Erklärungen und Memoranda of Understanding hinausgehen, beiderseits verbindlich sein, ihre Umsetzung überprüft werden.
Zwar gibt es teilweise Foren für eine solche Zusammenarbeit, sie werden aber wenig strategisch genutzt. Unerlässlich ist ein kontinuierlicher Austausch zwischen den Übertragungsnetzbetreibern und Regulierungsbehörden auf EU-Ebene (ENTSO-E/G und ACER) und ihren Pendants in den Ländern, die an den EU-Strommarkt (TEİAŞ und EMRA in der Türkei, Ukrenergo und NEURC in der Ukraine, ONEE und ANRE in Marokko usw.) und ‑Gasmarkt angeschlossen sind oder sich ihnen angleichen wollen.
Darüber hinaus ist der regulatorische Austausch mit den entsprechenden regionalen Institutionen, wie zum Beispiel MEDREG oder der Energieabteilung der Eurasischen Wirtschaftskommission (EAEU), von hoher Relevanz. Um den Austausch zu intensivieren und den Transfer und Handel von sauberen Technologien und Energieträgern voranzubringen, sollten neue Forschungsprogramme und Exzellenzcluster etabliert werden. Ferner sollten die Ausbildung von Fachkräften / Herstellern, die Zusammenarbeit bei der Lizenzvergabe und bei gewerblichen Schutzrechten, schließlich bi- und multilaterale Rahmenbedingungen befördert werden.
2) Nutzung von Marktchancen in globalen und regionalen klimaneutralen Energieliefer- und -wertschöpfungsketten. Diese Zielsetzung ist für viele der identifizierten Partner relevant. Dafür werden die bestehenden Energiedialoge und ‑partnerschaften jedoch nicht ausreichen. Deswegen könnte erstens die EU-Energiediplomatie die Neu- und Aushandlung von Assoziierungsabkommen, vertieften und umfassenden Freihandelszonen, Partnerschafts- und Kooperationsabkommen sowie Präferenzhandelsabkommen beschleunigen. Auf diese Weise würde der Zugang zu entstehenden lokalen und regionalen Produktionsnetzwerken gesichert. Da es sich bei vielen europäischen Firmen im Bereich Energieeffizienz und Erneuerbare um kleine und mittlere Unternehmen handelt, wird es zweitens erforderlich sein, die europäischen Handelskammern stärker einzubeziehen und sich mit ihnen sowie mit Finanzinstitutionen wie der Europäischen Investitionsbank (EIB) besser zu koordinieren. Dadurch würde der Marktzugang in den Ankerpartnerländern erleichtert und gefördert. Lokalisierung und Regionalisierung von Wertschöpfung (local content rules) sind hier ein Thema.
3) Interkonnektivität der Stromnetze vorantreiben. Initiativen zur Stärkung der grenzüberschreitenden und regionalen Stromnetzverbindung sind über die afro-euro-asiatische Ellipse hinweg in Gang gekommen, vor allem in Zentralasien, am Golf und in Nordafrika. Auch China setzt im Rahmen seiner Konnektivitätsstrategie und der getätigten Investitionen (GEIDCO und BRI) verstärkt Normen und Standards. Ziel ist, dass die Anbindung der Stromnetze in diesen Regionen in einer Art und Weise erfolgt, die der Stabilität dieser Länder, ihrer nachhaltigen Entwicklung und der Erreichung der Pariser Klimaziele förderlich ist. Um dies sicherzustellen, sollte die Energiediplomatie der EU die Energiedialoge – bilateral und multilateral – mit den wichtigsten potenziellen Stromdrehscheiben (Saudi-Arabien, Usbekistan, Ägypten, Marokko) neu ausrichten. Der Schwerpunkt der Maßnahmen der EU sollte auf technischer und regulatorischer Unterstützung liegen. Zudem sollte sie eine finanzielle Förderung von Investitionen in physische Verbindungsleitungen in Betracht ziehen, über die EIB und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung.
Die EU-Energiediplomatie könnte diese Dialoge aufwerten: als einen wesentlichen Teil der Konnektivitätsstrategie der EU und regionaler Initiativen wie der Östlichen Partnerschaft, der neuen Zentralasienstrategie und der Kooperation im Mittelmeerraum. Beispielsweise sind Initiativen wie »Grünes Zentralasien« wichtige erste Schritte, um Länder in einen Dialog über den Klimawandel einzubinden; wünschenswert wäre, dass sie durch einen stärkeren Fokus auf regionale Energie- und Stromnetz-Integration flankiert werden. Auch die institutionelle Zusammenarbeit mit dem Golf-Kooperationsrat könnte ausgebaut werden.
4) Globale Reichweite des Green Deal und des Pariser Abkommens voranbringen. In Anbetracht alternativer Visionen und Ansätze zum Thema Klimawandel (z. B. diejenigen Chinas und der gegenwärtigen US-Regierung) und der noch verbreiteten Klimawandelskepsis verhallt das traditionell normativ unterlegte Narrativ der EU oft ungehört. Die EU könnte indes ihre Partnerschaften langfristig und nachhaltig auf eine tragfähige Basis stellen: Dazu müsste sie nachhaltiges Wirtschaftswachstum, die Bekämpfung der lokalen Umweltverschmutzung sowie die Förderung grüner Finanzierung, Elektrifizierung und integrierter Energiesysteme ins Zentrum der Partnerschaften rücken, anstatt direkt eine Senkung der CO2-Emissionen oder den Ausstieg aus der Kohle zu fordern.
5) Stärkung der multilateralen und regionalen Governance. Um die systemischen Herausforderungen anzugehen, die sich angesichts der Energietransformation(en) abzeichnen, werden multi- und plurilaterale Governance-Plattformen gebraucht – auf globaler Ebene. Die EU sollte bestehende Institutionen stärken, insbesondere das Ziel »Nachhaltige Energie für alle« der Vereinten Nationen (SDG 7), die Internationale Energieagentur, IRENA, die Internationale Partnerschaft für die Zusammenarbeit im Bereich der Energieeffizienz und den Modernisierungsprozess der Energiecharta. Außerdem sollte sie die Kooperation im Rahmen der G-Formate vorantreiben. Allerdings sind Formate wie die G20 vor dem Hintergrund der sino-amerikanischen Rivalität, protektionistischer Rhetorik und der Fragmentierung der Energiemärkte immer weniger funktionsfähig.
In Anbetracht regionaler Fragmentierung und des Wettbewerbs um Einflusssphären ist es für die EU ebenso wichtig, regionale Zusammenarbeit zu intensivieren. Dafür müssen neue regionale Governance-Mechanismen eingerichtet oder vorhandene aufgewertet sowie eine klare Agenda definiert werden. In diesem Sinne sollte sich die Union mit den Partnerländern – idealerweise beginnend mit den 12 identifizierten Ankerpartnern der afro-euro-asiatischen Ellipse – darüber beraten, wie der konstruktive Dialog zu den vordringlichen Fragen fortgesetzt und ausgebaut werden kann: zu Transit, Anbindung an das Stromnetz, Investitionen, Schutz der Rechte des geistigen Eigentums, Technologietransfer im Bereich saubere Energie, Cybersicherheit der Energiesysteme usw. Ein logischer erster Schritt könnte sein, die einschlägigen Arbeitsgruppen innerhalb der EU und die nationalen Institutionen dieser (Gruppen von) Länder(n), die nationalen Regulierungsbehörden sowie Vertreter der Unternehmen zusammenzubringen, die kritische Infrastrukturen bereitstellen.
Schließlich, und das ist essenziell, muss die neue Energiediplomatie der EU mit einem wesentlichen Merkmal ausgestattet werden – mit strategischer Geduld. Ohne ihre eigenen strategischen Interessen und Werte aufzugeben, muss die EU dennoch berücksichtigen, dass die Entwicklungen auf ihrem eigenen Energiemarkt, in ihrem eigenen Energiesystem und die der Partnerländer ungleichzeitig verlaufen.
Maria Pastukhova ist Forschungsassistentin, Dr. Jacopo Maria Pepe Mitarbeiter und Dr. Kirsten Westphal Leiterin des Projekts »Energiewende und Geopolitik« in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Das Projekt wird vom Auswärtigen Amt gefördert.
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doi: 10.18449/2020A65
(Aktualisierte und ins Deutsche übersetzte Fassung von SWP Comment 31/2020)