Wie alle anderen europäischen Länder wurden auch die Visegrád-Staaten von der Covid-19-Pandemie erfasst. Anders als in Süd- und Teilen Westeuropas ließ sich hier aber eine explosionsartige Verbreitung des Virus verhindern. Mit diesem Erfolg im Rücken und den sozialökonomischen Konsequenzen der Pandemie vor Augen haben sich Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn nun in der EU positioniert. Obwohl sie Differenzen hinsichtlich der Brüsseler Finanzpakete haben, werden sie durch die Krisenbewältigung nicht strategisch auseinanderdividiert. Für Deutschland wird es weiter von Bedeutung sein, die vier Länder europapolitisch einzubinden und überdies gemeinsam Wege zu finden, um das wirtschaftliche Fundament der Beziehungen zu sichern.
Auch in den Visegrád-Staaten wurde nach Ausbruch des Virus rasch ein Set von Eindämmungsmaßnahmen umgesetzt. Es kam zu Grenzschließungen und Lockdowns, zudem wurden finanzielle Stabilisierungspakete aufgelegt. Bis auf Polen, wo lokale Infektionsherde unter anderem in schlesischen Kohlegruben nach wie vor ein Problem darstellen, haben sich die Kurven erfasster Fälle überall abgeflacht. Daher schwenkten auch die Staaten Ostmitteleuropas auf ein gelockertes Krisenmanagement um. Ein Blick auf Wirtschaft, Innen- und Außenpolitik bietet nun erste Eindrücke möglicher Trends in den dortigen Ländern und erlaubt Prognosen, womit ihre Partner in der EU zu rechnen haben.
Wirtschaftliche Anpassungen
Wie anderswo ergeben sich auch in den Visegrád-Ländern erhebliche wirtschaftliche Verwerfungen infolge der Corona-Krise. Die hochgradige Orientierung am Export, bislang ein Motor des Wachstums, könnte zu einem zusätzlichen Hemmschuh werden. Ausfuhren machen in der Tschechischen Republik, in Ungarn und der Slowakei drei Viertel bis fast 100 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. In Polen ist das Verhältnis mit 55 Prozent niedriger. Dort können auch der relativ große Binnenmarkt des Landes sowie EU-Gelder – wie nach der Finanzkrise 2008/ 2009 – als Puffer fungieren. Polen könnte zu einem Hauptnutznießer des europäischen »Wiederaufbaufonds« werden.
Insgesamt lässt sich hoffen, dass der Abschwung im östlichen Europa milder verlaufen wird als etwa im Süden des Kontinents – mit Ausnahme der Slowakei, die wohl besonders anfällig ist und der ein BIP-Rückgang von 9 Prozent droht. Doch auch dort könnte (sofern es keine neue Krisenwelle gibt) schon 2021 wieder Wachstum eintreten, laut Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) mit Werten zwischen 2 Prozent und 4,6 Prozent. Ähnlich wie nach 2008/2009 ist daher eine Fortführung »negativer Konvergenz« denkbar – das heißt, die Kontraktion könnte hier weniger stark als an der südlichen Peripherie ausfallen. Ungeachtet dessen kommen auf die Region große Anpassungsprozesse zu. Schlüsselindustrien wie der Autobau, der durch Digitalisierung und Klimapolitik ohnehin vor einem Umbruch steht, sind von der Krise hart getroffen. Die Pandemie wird hier Herausforderungen beschleunigen und vertiefen. Dabei bestehen Hoffnungen, dass Produktionszweige nach Europa rückverlagert und Lieferketten verkürzt werden könnten. Ob »Nearshoring« ins östliche Mitteleuropa stattfinden wird, ist aber keineswegs sicher. Gegenläufige Faktoren sind der Lohnanstieg der letzten Jahre, Fachkräftemangel und steigende Energiepreise.
Innenpolitik und Gesellschaft
Kurzfristig zeichnen sich in der Innenpolitik der vier Länder keine substantiellen Verschiebungen ab. Die Zustimmung für die Regierungsparteien ist nicht wesentlich gesunken, eher haben sie bislang davon profitiert, dass an der »epidemiologischen Front« Erfolge zu verbuchen waren. Zwar ändert dies wenig am verbreiteten Misstrauen gegenüber der Leistungsfähigkeit von Politik und Verwaltung, doch konnten die Regierenden in der Region immerhin Legitimationsgewinne erzielen, indem sich die Dynamik der Corona-Verbreitung herunterregeln ließ.
Dieser Eindämmungsbonus kann sich aber leicht verflüchtigen und zu einem Krisenmalus werden. Dann nämlich, wenn die wirtschaftlichen Folgen der Anti-Corona-Maßnahmen durchschlagen oder wenn neue lokale Hotspots auftreten, die sich nur schwer einbremsen lassen und den Eindruck von Ineffektivität erzeugen. Die polnische Präsidentschaftswahl Ende Juni und Anfang Juli ist vermutlich die letzte Abstimmung in den Visegrád-Ländern, die abgehalten wird, bevor der sozialökonomische Abschwung sich verschärfen dürfte. Ob oppositionelle Akteure krisenbedingt Auftrieb erhalten werden, ist keineswegs ausgemacht. Nach der Finanzkrise implodierte 2010 in Ungarn das Regierungslager, während man in Polen mit der Bürgerplattform am Bewährten festhielt. Dort könnte die regierende PiS heute allerdings Schwierigkeiten bekommen, sollten Sparmaßnahmen ihr Projekt eines polnischen Wohlfahrtsstaates gefährden.
Differenzen bei EU-Finanzen
Mit der Corona-Krise sind auch für die Visegrád-Staaten die finanziellen Hilfspakete der EU in den Mittelpunkt der Europapolitik gerückt, ebenso die Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR), die nun in einem neuen Kontext stehen. Dabei haben sich schon bald erhebliche Interessenunterschiede gezeigt. Polen und – mit kleineren Vorbehalten – die Slowakei unterstützen den deutsch-französischen Vorschlag bzw. die Initiative der EU-Kommission für einen 750 Milliarden Euro umfassenden Wiederaufbaufonds. Beide Länder würden klar zu dessen Nutznießern gehören. Dieses »Next Generation EU«-Instrument wird dagegen in der bisher kursierenden Form von der Tschechischen Republik und Ungarn scharf kritisiert. Grund ist nicht nur, dass sie im relativen Vergleich weniger Mittel erhalten würden (die Slowakei könnte fast ebenso viel Zuschüsse und Garantien bekommen wie das doppelt so einwohnerstarke Ungarn) oder vielleicht – im tschechischen Fall – zu Nettobeiträgern würden. Vielmehr lehnen Prag und Budapest unter anderem die Kriterien der Mittelvergabe ab. Unter anderem soll das Ausmaß der Arbeitslosigkeit in den Jahren 2015 bis 2019 herangezogen werden, also ein Sachverhalt, der lange vor der Pandemie bestand. Auch der slowakische Wirtschaftsminister und Vizeregierungschef Richard Sulík sieht den Aufwuchs der EU-Finanzen ordnungspolitisch »nicht weit vom Wahnsinn«, obwohl er den Wiederaufbaufonds mit Blick auf die Belange seines eigenen Landes bejaht.
Die Interessendivergenzen zwischen den prospektiven Gewinnern und jenen, die unzufrieden sind mit dem Umverteilungsschema der Kommission, werden aber keineswegs zu einem Riss in der Gruppe führen. Bei den Visegrád-Gipfeln im mährischen Lednice Anfang Juni und einen Monat später in Warschau gab es zwar nur eine oberflächliche Einigung, der zufolge sich alle vier Länder für eine »gerechte« Ausgestaltung des Wiederaufbaufonds einsetzen. Doch die Kernbotschaft, dass (gemessen am BIP) reichere Mitgliedstaaten im Süden nicht von weniger wohlhabenden aus dem Ostteil der EU finanziert werden sollen, vereint im Grunde alle östlichen Mitglieder – auch mit Blick auf die MFR-Verhandlungen. Ebenso teilt man das Interesse daran, bei den sich abzeichnenden Finanzflüssen (zusätzlich 8 bis 9 Prozent des Bruttonationaleinkommens durch »Next Generation«-Zuschüsse und Garantien für Polen und die Slowakei) mehr Flexibilität zu erreichen. Erwünscht sind insbesondere Spielräume bei der für die Länder schwierigen Ausrichtung auf Greening und Digitalisierung sowie eine bessere Fähigkeit zur Absorption der Finanzmittel.
Visegrád wird also nicht über EU-Finanzfragen auseinanderdriften. Dies gilt schon deshalb, weil nach Ende der Verhandlungen über MFR und Wiederaufbaufonds wieder Themen auf die Tagesordnung kommen werden, bei denen die vier Länder ähnlich ausgerichtet sind – von Migration über den Binnenmarkt bis zur EU-Zukunftsdebatte.
Selbstbewusstsein in neuer Ungewissheit
Das östliche Mitteleuropa ging unsicher in die erste Welle der Corona-Pandemie, zeigt sich aber selbstbewusst, während diese vorläufig abebbt. Die Performanz bei der Einhegung des Virus war hier deutlich besser als in anderen Teilen Europas. Rasches Handeln, durchgreifende Maßnahmen, aber auch geringe Konnektivität haben verhindert, dass die Fallzahlen hochschossen. In Konkurrenz mit West- und Südeuropa sieht man sich daher auf der erfolgreichen Seite.
Als ein Schlüsselfaktor wird dabei das Agieren des Staates betrachtet. In diesem Kontext kam es auch in den Visegrád-Ländern nach Ausbruch der Pandemie zu einer ausgeprägten Gubernativlastigkeit im Krisenmanagement. Mit Abflauen der ersten Welle wurden aber restriktive Maßnahmen allerorts weitgehend zurückgenommen. Dies gilt im Grundsatz auch für Ungarn, das viel Aufmerksamkeit erhielt, als es temporär einen »Gefahrenzustand« verhängte. Eine der Hauptfolgen von Corona in den Visegrád-Ländern wird daher weniger eine weitere Machtzentralisierung sein als vielmehr die Tendenz zur Etatisierung und zur Bekräftigung von Souveränität. So sieht man sich in der Wirksamkeit von Grenzschließungen bei Krisenlagen ebenso bestätigt wie in der Notwendigkeit, autonome Versorgungssysteme und nationale Champions auf- oder auszubauen.
Eine andere Folge der Corona-Krise in der Region dürfte ein weiterer Versicherheitlichungsschub sein. Dabei geht es nicht nur um die neuartige Erfahrung der Pandemie als sicherheitspolitische Dimension von Gesundheitsrisiken. Cyber-Angriffe auf tschechische Krankenhäuser zur Hochphase der Virusausbreitung verstärkten das Gefühl der Verwundbarkeit, ebenso zahlreiche Versuche von Desinformation. Die neuen nationalen Sicherheitsstrategien Polens und Ungarns, die im Frühjahr verabschiedet wurden, thematisieren bzw. betonen gesundheitliche, aber auch identitätspolitische Risiken. Hier zeigt sich die weiter wachsende Relevanz eines »ontologischen« Sicherheitsverständnisses in den Ländern der Region. Dies wird wohl zu Ausbau und Verschränkung sekuritärer Systeme führen, aber auch vielen »weichen« Themen – etwa der Wertepolitik oder der öffentlichen Daseinsfürsorge – eine sicherheitspolitische Komponente verleihen.
Deutschland und Visegrád
Diese Entwicklungen in den Visegrád-Ländern können sich je nach weiterem Verlauf der Pandemie verändern, neue Faktoren können hinzutreten. Aus deutscher Sicht resultieren aber bereits einige Merkposten aus dem bisher zu Beobachtenden. Die enge wirtschaftliche Verflechtung der Bundesrepublik mit den vier Ländern bleibt auch in und nach der Krise bestehen. Dieses »ökonomische Fundament« der gegenseitigen Beziehungen befindet sich aber in einer Belastungsprobe – und es könnte künftig auch Spannungen generieren. Wichtige mitteleuropäische Industriezweige werden einen schwierigen Transformationsprozess durchlaufen; dafür sorgen Digitalisierung, Klimapolitik und Rezessionsdruck. Dies droht auch auf das Verhältnis zwischen Deutschland und den Visegrád-Ländern durchzuschlagen, etwa wenn es um Fragen von Produktionsstandorten und Stellenabbau geht. Es wird daher wichtig sein, frühzeitig Innovations- und Anpassungsdialoge mit den Partnern aus der Region zu führen. Ziel muss sein, die bislang politisch stabilisierenden Wirtschaftsbande nicht zu einem Konfliktfeld werden zu lassen und einer Erosion des bisherigen »mitteleuropäischen« Industrie- und Wirtschaftsmodells entgegenzutreten. Neue Anknüpfungspunkte ergeben sich unter anderem aus dem zusehends pragmatischen Verhältnis der Länder zur Klimapolitik, die selbst in Polen nicht mehr in Frage gestellt wird. Stimmen aus der Region, die ein Abbremsen der klimapolitischen Ambitionen der EU in der Krise forderten, sind schnell verhallt. Sie haben innenpolitische Bedeutung oder kommen von »industrienahen« politischen Akteuren. Insgesamt scheint man aber zu dem Schluss gelangt zu sein, dass Greening in der EU nicht mehr abwendbar ist. Daher geht es jetzt eher darum, sich die erwähnte Flexibilität oder Übergangshilfen (etwa aus dem Just Transition Fund) zu sichern.
Außen- und sicherheitspolitisch muss sich Deutschland darauf einstellen, dass in einer Ära neuer internationaler Ungewissheit alle vier Länder ihre bisherigen Rückversicherungs- und Balancepolitiken verstärken werden. Polen dürfte sein Verhältnis zu den USA vertiefen, Ungarn weiter eine pragmatische, »multivektorale« Politik gegenüber den Großmächten verfolgen. Gleichwohl öffnen sich alle Visegrád-Länder für Debatten über europäische Souveränität, verstanden als Zugewinn an Autonomie bei sensitiven Wirtschaftszweigen. Die Reorganisation von Lieferketten oder der Ausbau von Infrastrukturen in der EU bzw. in Mitteleuropa avancieren daher zu zentralen Themen im Dialog.
Was die Konflikte um die neuen EU-Finanzinstrumente angeht, dürften sich nach Abschluss der Verhandlungen die Unterschiede zwischen den »frugalen Zwei« in der Gruppe (Tschechien, Ungarn) und den großen Nutznießern rasch relativieren. Für Deutschland bleibt es aber wichtig, mit Blick auf das neue Gewicht des europäischen Südens und den bislang starren europapolitischen Ansatz der »frugalen Vier« (Österreich, Dänemark, Niederlande und Schweden) die Visegrád-Länder weiter im Spiel zu halten. Zum einen sind deren Sorgen vor einer Rückkehr deutsch-französischer Dominanz zu entkräften, zum anderen gilt es, die Europapolitik zu diversifizieren und die Einheit der EU zu unterstreichen. Dies erfordert ein effektives, aber umsichtiges Handeln bei Streitthemen wie Rechtsstaatlichkeit und Migration und einen sichtbaren Einsatz auf Kooperationsfeldern. Das Format von Visegrád plus Deutschland-Konsultationen zur Östlichen Partnerschaft könnte daher durch einen ähnlichen Prozess der fünf Länder zu digitaler und klimapolitischer Innovation ergänzt werden. In der Perspektive wäre ein Deutschland-Visegrád-Gipfel hierzu oder zu Fragen der Klima- und Energiepolitik denkbar.
Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A61