Die Corona-Pandemie fordert die deutschen Streitkräfte in mehrfacher Hinsicht: Die Bundeswehr muss unter den erschwerten Bedingungen internationale Einsätze fortführen, zum Beispiel in Mali. Zudem muss sie die seit 2016 begonnene Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung voranbringen. Gleichzeitig unterstützt sie in der akuten Krise die zivilen Behörden in einem bislang unbekannten Ausmaß mit Personal, Material und logistischen Dienstleistungen. Dabei hat sich schnell gezeigt, dass ihre Möglichkeiten bei solchen Katastrophenfällen begrenzt sind. Die Pandemie offenbart vorhandene Probleme, etwa bei Führungsstrukturen, wirft aber auch neue Fragen auf, etwa über den Umgang mit biologischen Bedrohungen. Es ist bereits jetzt absehbar, dass sich die Rahmenbedingungen für die Bundeswehr langfristig verändern werden, von den internationalen sicherheitspolitischen Herausforderungen bis hin zu den politischen und wirtschaftlichen Folgen. Daher sollte die Krise genutzt werden, um notwendige interne Reformen anzustoßen.
Im März 2020 gaben die USA und mehrere europäische Staaten bekannt, dass sie ihre gemeinsame Militärübung »DEFENDER-Europe 20«, die größte seit Ende des Kalten Krieges, aufgrund der Corona-Pandemie abbrechen. Eigentlich wollten sie gemeinsam üben, Truppen quer durch Europa zu bewegen. Doch das Risiko war zu groß, damit der Verbreitung des Virus Vorschub zu leisten. Mitte März 2020 wurden erste Infektionen in den US- und in den europäischen Streitkräften bekannt. Dies hat einerseits die Frage aufgeworfen, wie sich die Pandemie kurzfristig auf die Streitkräfte auswirkt. Andererseits gilt es zu analysieren, welche Folgen die Pandemie mittel- bis langfristig für die Handlungsfähigkeit und den Handlungsrahmen der Bundeswehr haben wird.
Die Rolle der Bundeswehr im akuten Krisenmanagement
Kurzfristig sah sich die Bundeswehr bereits im frühen Stadium der Pandemie mit Unterstützungsgesuchen von Ländern und Kommunen konfrontiert. Grundlage für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist Artikel 35 Grundgesetz (GG); er gestattet neben der grundsätzlichen Amtshilfe von Behörden untereinander (Art. 35 Abs. 1 GG) Amtshilfeersuchen der Bundesländer an die Streitkräfte im Falle von Naturkatastrophen oder bei besonders schweren Unglücksfällen (Abs. 2 und 3). Solchen Unterstützungsleistungen sind jedoch beim Einsatz militärischer Mittel klare Grenzen gesetzt, anders als in europäischen Nachbarländern. Der Einsatz von Soldaten im Inneren, wie etwa in Frankreich im Rahmen des Anti-Terror-Planes »Vigipirate«, sind in Deutschland nicht denkbar.
Seit Anfang April haben alle Bundesländer Amtshilfe bei der Bundeswehr beantragt und erhalten. Die meisten Gesuche konzentrierten sich auf logistische Hilfe. Die Bundeswehr hat auf diese Anfragen mit zahlreichen Unterstützungseinsätzen, dem Aufbau neuer Strukturen sowie der Aktivierung der Reserve reagiert.
Praktische Unterstützung: Erstmals am 19. März 2020 gab der Inspekteur der Streitkräftebasis (SKB) und Nationale Territoriale Befehlshaber bekannt, dass die Bundeswehr vermehrt Unterstützungsleistungen in Deutschland anbieten wird. Am 4. Juni lagen über 632 Amtshilfeanträge vor, davon wurden 344 gebilligt. Schwerpunkte sind die Unterstützung in Alten- und Pflegeheimen sowie die Hilfe für Gesundheitsämter bei der Nachverfolgung von Infektionsketten. Praktisch heißt das, dass die Bundeswehr Personal, Material, Transport anbietet und Infrastruktur bereitstellt.
In einem ersten größeren Einsatz unterstützte sie zum Beispiel zivile Hilfsorganisationen, Menschen zu versorgen, die an der deutsch-polnischen Grenze im Stau standen, der durch die Grenzschließung und die Einreisebestimmungen entstanden war. Zudem hilft das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) dem Bundesgesundheitsministerium in Zusammenarbeit mit der Beschaffungsorganisation des Bundesfinanzministeriums dabei, dringend benötigte Schutzausstattung zu beschaffen. Darüber hinaus flog die Bundeswehr im März und April 2020 über 20 Intensivpatienten aus stark von Covid‑19 betroffenen Regionen in Italien und Frankreich zur Behandlung nach Deutschland. Als weiteres Zeichen europäischer Solidarität stellte sie medizinisches Material bereit, wie Beatmungsgeräte für Großbritannien, und nutzt ihren Lufttransport für Materialbeschaffung aus China.
Neue temporäre Strukturen: Für dieses Krisenmanagement hat die Bundeswehr neue, temporäre Strukturen aufgebaut: das Einsatzkontingent Hilfeleistung Corona, zusammengesetzt aus Soldaten bestehender Strukturen. Am 26. März 2020 kündigte der Generalinspekteur der Bundeswehr an, vier regionale Führungsstäbe für bis zu 15 000 Soldaten im Rahmen eines Nothilfestabes einzurichten. Diese Soldaten sollen folgende Aufgaben übernehmen:
-
5 500 Soldaten für »Absicherung/Schutz«,
-
6 000 für »Unterstützung der Bevölkerung«,
-
600 Militärpolizisten der Feldjäger für »Ordnungs-/Verkehrsdienst«,
-
18 Dekontaminationsgruppen mit insgesamt etwa 250 Soldaten der ABC-Abwehr für Desinfektionsaufgaben,
-
2 500 Logistiksoldaten mit 500 Lkw für Lagerung, Transport, Umschlag.
Die Soldaten werden dafür in Zugstärke mit unterschiedlichen Bereitschaftszeiten und bei einer Ausfallrate von bis zu 15 Prozent vorgehalten. Das heißt, die Einheiten wären immer noch einsatzfähig, wenn 15 Prozent des Personals ausfielen.
Damit stellt die Bundeswehr erstmals in ihrer Geschichte vorbeugend ein Kontingent für Hilfeleistungen im Inland auf. Dies ist eine Abkehr von der bisherigen Praxis; bislang reagierte sie auf Amtshilfeersuchen mit vorhandenen Strukturen. Das Einsatzkontingent Hilfeleistung Corona folgt dabei der Logik der Auslandseinsätze: Erstens wurden Kräfte und Fähigkeiten aus den gesamten Streitkräften mobilisiert und zu einem neuen Kontingent zusammengestellt. Zweitens sind diese Truppenteile aus ihrer bestehenden Befehlskette herausgelöst und unter dem Kommando des Inspekteurs der SKB zusammengefasst. Dieser ist zusätzlich zu seiner Rolle als Inspekteur der SKB als sogenannter Nationaler Territorialer Befehlshaber zuständig für die Führung der Bundeswehr bei Einsätzen im Inneren.
Das Corona-Hilfskontingent folgt damit einem dezentralen Hierarchieverständnis. Die Führungskompetenz liegt bei einem Inspekteur als Primus inter Pares, nicht bei einem zentralen Element oberhalb der Streitkräfte. Unterhalb des Nationalen Territorialen Befehlshabers steht mit dem Kommando Territoriale Aufgaben und den Landeskommandos einerseits die Verbindungsorganisation zur zivilen Verwaltung, die Amtshilfeanträge annimmt, über sie entscheidet und die Landesregierungen berät. Andererseits werden die tatsächlich eingesetzten Truppen über vier ad hoc eingerichtete regionale Führungsstäbe geführt, die an bestehende Kommandostellen andocken.
Der Anteil des Zentralen Sanitätsdienstes, der zur Unterstützung in der Corona-Krise abgestellt ist, verbleibt indes unter dem Kommando seines Inspekteurs.
Daraus ergeben sich zwei große Einsatzsäulen, zum einen das Corona-Unterstützungskontingent, zum anderen die Kräfte des Sanitätsdienstes. Ihre gemeinsame Führungsebene ist erst das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg). Dort wurde ein Corona-Lagezentrum ins Leben gerufen, weil keine dauerhafte Führungseinrichtung vorhanden ist.
Aktivierung von Reservisten: Schließlich rief der Sanitätsdienst der Bundeswehr Mitte März 2020 medizinisch ausgebildete Reservisten auf, sich freiwillig zum Dienst zu melden. Erstens sollten so Personalausfälle in den eigenen Reihen ausgeglichen werden, die durch Schließung von Schulen und Kindertagesstätten entstehen, zweitens sollten die medizinischen Kapazitäten erhöht werden. Da das Reservistenwesen in Deutschland erst vor kurzem wieder in den Fokus gerückt ist, konnten medizinische Fachkräfte nicht direkt angefordert werden. Dem Aufruf folgten über 15 000 Reservisten, von denen 5 500 medizinischen Berufen zugeordnet werden konnten. Herangezogen wurden 550, zum Beispiel in Bundeswehrkrankenhäusern.
Auswirkungen auf internationale Einsätze
Die Corona-Pandemie fordert die Bundeswehr nicht nur im Inneren, sondern erschwert auch die Rahmenbedingungen für ihre derzeit 12 internationalen Einsätze und einsatzgleichen Verpflichtungen. Diese dauern parallel zur Unterstützung in der Corona-Krise fort. Sollte sich die Pandemie weiter ausbreiten, könnte sie die Stabilisierung und die Abschreckungspolitik Deutschlands und seiner Partner beeinträchtigen. So sind in der multinationalen Nato-Battlegroup in Litauen, die Deutschland führt und die Teil des Nato-Abschreckungsdispositivs ist, Covid‑19-Infektionen aufgetreten. Sie war deshalb vorübergehend nur begrenzt handlungsfähig. Hemmend wirkt sich auch aus, dass die politische und militärische Abstimmung in einer multinationalen Organisation wie der Nato durch die aktuellen Beschränkungen schwierig(er) ist.
Auch andere Einsätze sind beeinträchtigt. In Mali, wo Bundeswehrsoldaten im Rahmen der europäischen Ausbildungsmission EUTM malische Sicherheitskräfte ausbilden, wurde der Lehrbetrieb ausgesetzt. Die angedachte Ausweitung des Einsatzes ist momentan praktisch nicht machbar. Weiterhin hat die Bundesregierung Ende März beschlossen, die deutschen Truppen in der Ausbildungsmission im Irak zu reduzieren. Nach der Entscheidung des Irak, Trainings für die eigenen Sicherheitskräfte wegen der Pandemie auszusetzen, haben Frankreich, Großbritannien, Spanien, Portugal und die Niederlande ihre Kontingente teilweise oder ganz abgezogen. Gleichzeitig fiel der Entschluss, den Abzug der deutschen Truppenteile aus Afghanistan zu beschleunigen und Quarantänezeiten im In- und Ausland während des Kontingentwechsels einzuführen. Das ist sinnvoll, wie im Fall des Afghanistan-Einsatzes die bestätigte Infektion eines Soldaten in Masar‑e Scharif zeigt.
Bislang hat die Pandemie die Einsätze zwar erschwert, aber die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr nicht eingeschränkt. Dies liegt an den geringen Infektionszahlen (Stand 4. Juni 2020: 375 bestätigte Infektionen) und an den militärischen Planungen, die stets Puffer beim Personal einkalkulieren. Die erwähnten 15 Prozent Ausfallrate für das Einsatzkontingent Hilfeleistung Corona sind ein Beispiel dafür. Würden allerdings die in der Corona-Struktur verplanten 15 000 Soldaten durchgängig und über einen längeren Zeitraum abgerufen oder würden die Infektionszahlen signifikant steigen, würde die Bundeswehr Gefahr laufen, ihre Auslandseinsätze personell nicht mehr besetzen zu können. Zurzeit ist das aber nicht zu befürchten.
Schwieriger abzuschätzen sind die indirekten Folgen der pandemiebedingt eingeschränkten Einsätze. Dazu gehört etwa, inwieweit die Stabilisierungserfolge in Mali oder im Irak zurückgeworfen werden, wenn die Ausbildung der lokalen Sicherheitskräfte unterbleibt. Im Irak verzeichnet die Bundeswehr beispielsweise vermehrt Übergriffe auf lokale Sicherheitskräfte.
Die Pandemie offenbart alte Strukturprobleme
Zwar konnte die Bundeswehr schnell Unterstützung anbieten und betreibt erfolgreiches Krisenmanagement. Jedoch treten dabei bekannte Probleme deutlich zu Tage, die darüber hinaus einen langfristigen Kriseneinsatz erschweren würden. Sie betreffen vor allem Führungsstrukturen, Personal und Reservistenwesen.
Führungsstrukturen: Die aktuellen Unterstützungsleistungen unterstreichen die bestehenden Unklarheiten und strukturellen Defizite in der Grundgliederung der Streitkräfte. Dass mit dem Unterstützungskontingent und der sanitätsdienstlichen Hilfeleistung zwei getrennte operative Säulen parallel existieren, bedeutet zusätzlichen, aber vermeidbaren Koordinationsaufwand und Effizienzverlust. Außerdem weicht es vom militärischen Grundsatz der Führung aus einer Hand ab. Das Konstrukt der regionalen Führungsstäbe hingegen ist unter den gegebenen Voraussetzungen zweckmäßig, da es schnelle Führungsfähigkeit ermöglicht, die regionalen Besonderheiten Rechnung trägt. Zudem werden so die Landeskommandos als Verbindungsorganisation entlastet. Es ist trotzdem ein Symptom des übergeordneten Problems, dass den derzeitigen Führungsstrukturen ein zentrales Führungsorgan fehlt, bei dem die verschiedenen Stränge zusammenlaufen, zum Beispiel im BMVg.
Insgesamt zeigt eine Herausforderung wie die aktuelle Pandemie, dass die Bundeswehr von einer Reform ihrer Führungsstrukturen profitieren würde. Hierfür können die nun gewonnenen Erkenntnisse hilfreich sein. Die neuen Strukturen, wie die kurzfristig geschaffenen Lagezentren auf den verschiedenen Führungsebenen, sollten evaluiert werden. Das ad hoc eingerichtete Corona-Lagezentrum etwa könnte als Nukleus für ein Führungselement dienen, das ohnehin aufzubauen wäre, um die Herausforderungen der Landes- und Bündnisverteidigung zu meistern. Auf diese Weise könnten Erfahrungswerte genutzt werden, eingespielte Strukturen eine Grundlage bilden.
Personal: Der Einsatz der Bundeswehr in der Pandemie verdeutlicht, wie dünn ihre Personaldecke tatsächlich ist.
Insgesamt hält die Bundeswehr bis zu 32 000 Soldaten für die Unterstützung in der Corona-Krise bereit. Diese Zahl setzt sich zusammen aus den genannten 15 000 Soldaten des Kontingents Hilfeleistung Corona sowie 17 000 Soldaten des Zentralen Sanitätsdienstes. Dabei handelt es sich um Planungsgrößen: Das Personal steht bereit, ist jedoch nicht komplett im Einsatz.
Bei einer Gesamtstärke von circa 183 000 Soldaten sind 32 000 auf den ersten Blick eine gut zu verkraftende Anzahl. Doch selbst zu Hochzeiten der Auslandseinsätze 2009 hatte die Bundeswehr weniger Soldaten über das Jahr verteilt im Einsatz, nämlich circa 25 600. Deutlich mehr – 32 000 – Soldaten abzustellen, und das zusätzlich zu laufenden Verpflichtungen (wie den Einsätzen in Mali), ist ein enormer Personalaufwand, den die Bundeswehr langfristig kaum stemmen kann. Der Sanitätsdienst stieß schon Anfang April personell an seine Grenzen.
Gleichzeitig waren 2019 in der Bundeswehr circa 23 000 Dienstposten nicht besetzt. Gerade in Spezialverwendungen und bei Fachkräften können zusätzliche Verpflichtungen zur Überlastung von Schlüsselpersonal führen. So stehen etwa sanitätsdienstliche Fähigkeiten, die im Inland gebunden sind, für internationale Einsätze nicht mehr zur Verfügung. Insgesamt schrumpft das personelle Polster der Bundeswehr unter Berücksichtigung der bestehenden Verpflichtungen empfindlich; dies kann langfristig die Durchhaltefähigkeit aktueller wie künftiger Einsätze infrage stellen.
Die angespannte Personalsituation könnte sich noch verschärfen, sollte sich die Pandemie negativ auf die Personalentwicklung der Bundeswehr auswirken, insbesondere auf die Rekrutierung. Im laufenden Einstellungsjahr könnte der Personalbestand nicht wie geplant wachsen. Dies liegt zum Beispiel daran, dass pandemiebedingt unklar ist, ob und wann Ausbildungen begonnen werden können. Möglicherweise können die Einstellungsroutinen für die einzelnen Laufbahnen nicht planmäßig stattfinden und mittelfristig Dienstposten nicht besetzt werden, weil dafür vorgesehenes Personal nicht zum geplanten Zeitpunkt eingestellt werden konnte oder laufende Ausbildungspläne nicht zeitgerecht erfüllt wurden. Aufgrund des spezifischen Personalprofils der Bundeswehr ließe sich dies auch nicht durch Quereinstellungen kompensieren. Die Folge in Form von fehlendem oder nicht ausreichend qualifiziertem Personal wäre über mehrere Jahre hinweg spürbar. Obwohl sich erfahrungsgemäß in wirtschaftlichen Krisen die Rekrutierungslage für die Streitkräfte verbessert, wird das diese Lücken kaum füllen können.
Materialreserve: Im Rahmen der Pandemie wurde offensichtlich, dass die Reserven von kritischen Gütern wie Schutzkleidung unzureichend waren, und zwar sowohl die Reserven der Bundesregierung als auch diejenigen der Bundeswehr. Der Sanitätsdienst geriet mit seinen zwei Materiallagern schnell an seine Grenze.
Tatsächlich hat die Bundeswehr in den letzten Jahren ihre Lagerhaltung grundlegend verändert. Im Rahmen der Sparmaßnahmen wurden viele Standorte geschlossen, darunter auch die sogenannten ortsfesten logistischen Einrichtungen (Depots) für die Materialbevorratung und ‑versorgung. Seit 2002 ist die Zahl der Depots und spezialisierten Zentren von über 100 auf 34 gesunken. Dies wurde begründet mit den niedrigeren Personalzahlen, damit einhergehendem geringerem Materialbedarf sowie Spardruck. Die Bundeswehr verringerte so ihre kostenintensiven Materialbestände, die sie im Krisenfall hätte bereitstellen oder selbst verwenden können. Stattdessen wollte sie sich bei Bedarf direkt bei der zivilen Wirtschaft ausrüsten, was sich als unrealistisch erwies. Ähnlich erging es der Reservelazarettorganisation, über die die Bundeswehr im Kalten Krieg mit bis zu 170 000 Betten verfügte. 2007 wurde sie aufgelöst. Zwar waren Reservelazarette nicht für Pandemien wie Covid‑19 ausgelegt, hielten aber medizinisches Material vorrätig, das auch bei Pandemien hätte genutzt werden können.
Potentielle Folgen der Pandemie für Finanzierung und Ausrüstung
Die Materiallage der Bundeswehr ist bereits jetzt kritisch, da die Ausrüstung aufgrund jahrelanger Sparmaßnahmen und interner Misswirtschaft oft mangelhaft und veraltet ist. Darauf weist der Wehrbeauftragte des Bundestages regelmäßig in seinen Jahresberichten hin. Schon heute kann die Bundeswehr die Kontingente für internationale Einsätze oder einsatzgleiche Verpflichtungen, zum Beispiel für die schnelle Eingreiftruppe der Nato, die Very High Readiness Joint Task Force (VJTF), oft nur ausrüsten, wenn sie Material aus mehreren Verbänden zusammenführt. Die Einsatzbereitschaft von Großgerät wie Panzern oder Flugzeugen ist wegen fehlender Ersatzteile reduziert. Dieses Problem wird spätestens 2023 wieder akut, wenn die Bundeswehr turnusmäßig die Führung der VJTF übernehmen und einen Großteil des Personals und der Ausrüstung stellen wird. Im Zuge der Vollausstattung der Bundeswehr ist geplant, ihre Materiallage bis 2031 grundlegend zu verbessern. Doch ist dies bisher finanziell nicht hinterlegt.
Infolge der Corona-Pandemie könnte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Europäischen Union (EU) 2020 nach Schätzungen der britischen Zeitschrift The Economist um 7,4 Prozent fallen, deutlich stärker als der Einbruch um 4,5 Prozent, den die EU 2009 verzeichnet hatte, dem schlimmsten Jahr der Finanzkrise. Es ist davon auszugehen, dass potentielle Sparmaßnahmen auch die Verteidigungshaushalte der EU-Staaten treffen werden.
Sollten die bislang geplanten moderaten Steigerungen des deutschen Verteidigungsetats ausgesetzt werden oder signifikant geringer ausfallen, könnten sich die bestehenden Material- und Personalprobleme der Bundeswehr weiter verschärfen. Der seit 2014 initiierten Sanierung drohte dann ein Stillstand. Die eingeleiteten Trendwenden in den Bereichen Personal, Finanzen und Material könnten kaum fortgesetzt werden. Anstehende teure Rüstungsgroßprojekte kämen unter Druck, etwa das deutsch-französisch-spanische Future Combat Air System (FCAS) zur Entwicklung der nächsten Generation eines Kampfflugzeugsystems. Laut Eckwertebeschluss zur mittelfristigen Finanzplanung sollen wesentliche Großvorhaben finanziert werden, um gemäß dem Fähigkeitsprofil der Bundeswehr Fähigkeitslücken zu schließen. Ziel ist, die mit den EU- und Nato-Partnern verabredeten Fähigkeitsziele zu erreichen. Explizit genannt sind unter anderem Projekte wie das FCAS.
Diese Priorisierung ist sinnvoll, da sie den Fortschritt in einigen Vorhaben sichert. Trotzdem gilt, dass zur Erfüllung des Fähigkeitsprofils eine gesicherte Finanzlinie notwendig ist. Das sogenannte Fähigkeitsprofil der Bundeswehr bildet (zusammen mit der Konzeption der Bundeswehr – KdB) die militärische Ableitung des Weißbuches von 2016: Es übersetzt die politischen Ziele der Bundesregierung in militärische Fähigkeiten und beschreibt, wie diese bis 2031 erreicht werden sollen. Jeder Einschnitt bedeutet daher konkrete Einbußen für die Bundeswehr und damit Lücken bei den Zusagen für EU und Nato.
Zudem würde eine Stagnation oder Kürzung der Verteidigungsausgaben erneut die Frage aufwerfen, wann Deutschland seiner Zusage an die Nato nachkommen wird, bis 2024 die geforderten 2 Prozent seines BIP für Verteidigung auszugeben. Bereits heute sorgt die Nichterfüllung für Irritationen bei Nato-Partnern (2019 waren es 1,38 Prozent). Denn schon vor der Pandemie erlaubte die im mittelfristigen Finanzplan veranschlagte Finanzierungslinie nicht, diese Zusage einzuhalten. Bis 2024 sinkt die BIP-Quote (nach heutigen Planungen) real sogar. Erste Schätzungen legen nahe, dass der BIP-Anteil des Verteidigungshaushaltes durch die Pandemie zunächst kurzfristig auf circa 1,5 Prozent ansteigt und danach stetig auf 1,35 Prozent absinkt.
Unabhängig von der Kritik der Partner in EU und Nato zeichnen sich weitere Probleme ab, wenn der Verteidigungsetat reduziert wird: erstens eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit der Bundeswehr, zum Beispiel wegen fehlender Ausrüstung. Die Bundeswehr kann viele Aufgaben nur unter größten Anstrengungen ausführen, wie die Führung der VJTF. Es geht darum, notwendige Fähigkeiten zu erhalten, eingegangene Verpflichtungen in EU und Nato zu erfüllen und europäische Kooperationsvereinbarungen wie das FCAS voranzutreiben. Hinzu kommt: Für die erfolgreiche Durchführung von Großprojekten wie dem FCAS ist langfristige Planungssicherheit nötig. Erst wenn die erforderlichen Mittel offiziell verplant sind, können Beschaffungsbehörden Projekte ausschreiben.
Zweitens steht Deutschlands Glaubwürdigkeit als Partner auf dem Spiel. Denn Planungssicherheit ist auch auf internationaler Ebene wichtig. Die Bundesregierung hat sich als militärischer Anlehnungspartner für 20 Staaten in Europa positioniert, etwa mit dem Rahmennationenkonzept in der Nato. Darauf richten Partner bereits ihr Handeln aus und begeben sich in Abhängigkeit von Deutschland, wie die Integration deutscher und niederländischer Heereskräfte zeigt. Weitere Staaten, zum Beispiel Ungarn, orientieren sich immer stärker an Deutschland, etwa indem sie deutsche Ausrüstung beschaffen. Kann Deutschland Zusagen nicht einhalten, wirkt sich das negativ auf Kooperationen aus, auf seine Partner und letztlich auf die europäische Handlungsfähigkeit.
Erste Rückschlüsse aus der Krise
Die Corona-Pandemie hat bekannte Probleme in der Bundeswehr offenbart und droht, diese zu verschärfen. Generelle Lehren können erst nach der Pandemie gezogen werden; erste Schlussfolgerungen lassen sich jedoch schon jetzt formulieren.
Umfassende Sicherheitsvorsorge: Die größte Herausforderung besteht darin, anstehende Reformen von einem umfassenden Sicherheitsansatz leiten zu lassen. Dieser behält internationales Krisenmanagement (IKM) und Landes-/Bündnisverteidigung (LV/BV) im Blick und vermeidet, lediglich die von der Pandemie aufgezeigten Probleme der Bundeswehr anzugehen.
Das Weißbuch von 2016 definiert neben LV/BV und IKM auch den Heimatschutz als wesentliche Aufgabe der Bundeswehr. Letzterer spielt aktuell eine bislang nicht gekannte Rolle, fallen doch die Unterstützungsleistungen zur Eindämmung von Covid‑19 darunter. Dennoch besteht kein Anlass, die in der KdB 2018 definierte Gleichrangigkeit aller Aufgaben der Bundeswehr aufzuheben und den Schwerpunkt (allein) auf den Katastrophenschutz zu legen. Die Bedrohungslage in den Bereichen Bündnisverpflichtungen und Stabilisierung hat sich nicht geändert, die Bundeswehr muss diese Aufgaben auch in Zukunft wahrnehmen können.
Seit der Wiedervereinigung haben sich die Streitkräfte stets auf eine der ihr vorgegebenen Aufgaben konzentriert und aufgrund finanzieller Engpässe unter anderem das Beschaffungswesen daran orientiert. Seit den Einsätzen im Jugoslawienkonflikt lag der Fokus auf dem internationalen Krisenmanagement sowie einsatzbedingtem Sofortbedarf. Dies spiegelte sich in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2011 wider, die die Bundeswehr auf Stabilisierungsoperationen ausrichteten. Nach der Annexion der Krim 2014 beschlossen die Nato-Staaten indes eine Refokussierung auf LV/BV, während Stabilisierung vergleichsweise an Bedeutung verlor. Das Weißbuch 2016 und die KdB 2018 verankern die neue Priorisierung, dementsprechend werden seitdem Ausbildung und Ausrüstung den Anforderungen der LV/BV angepasst. Im Beschaffungswesen bedeutet das zum Beispiel zusätzliche Panzer und die Vollausstattung von drei Divisionen des Heeres. Mit der Corona-Pandemie ist die Aufgabe des Schutzes der Bevölkerung in den Mittelpunkt gerückt. Nichtsdestotrotz sollte eine ausschließliche Ausrichtung an diesen neuen, durch die Pandemie entstandenen Herausforderungen vermieden werden.
Grundlage aller Überlegungen sollte eine 360°-Vorsorge sein, die verschiedene Szenarien in den Blick nimmt sowie deren Auswirkungen auf die einzelnen Aufgaben: von LV/BV über Heimatschutz bis zur humanitären Not- und Katastrophenhilfe. Eine solche Vorsorge erfordert flexible Systeme, umfassende Ausbildungsansätze und anpassungsfähige Strukturen.
Internationale Abstimmung für transnationale Lösungen: Eventuelle Entscheidungen sollten in Absprache mit den Partnern in EU und Nato getroffen werden. Die Finanzierungsprobleme infolge wirtschaftlicher Einbrüche werden mit hoher Wahrscheinlichkeit alle EU- und Nato-Staaten treffen. Daher ist es sinnvoll, sich gegenseitig frühzeitig und ehrlich über etwaige Sparpläne zu informieren, Kooperationsmöglichkeiten auszuloten, reelle Fähigkeitsziele zu definieren und gemeinschaftlich zu priorisieren.
Personelle Aufwuchsfähigkeit: Die Bundeswehr sollte in der Lage sein, innerhalb kürzester Zeit gezielt Reservisten je nach spezifischer Qualifikation einzuberufen. Dafür sollte das Freiwilligkeitsprinzip der Reserve, an dem die Bundeswehr mit der im Oktober 2019 in Kraft getretenen Strategie der Reserve festhält, für einen Zeitraum von zehn Jahren in eine verpflichtende Reserve umgewandelt werden. Diese Kräfte sollten bestehenden Strukturen zugeordnet sein, wie Bundeswehrkrankenhäusern oder Logistikbataillonen, und regelmäßig üben, so dass sie im Krisenfall schnell identifiziert und einsetzbar wären. Der bereits geplante Aufbau einer Datenbank »Reserve hilft« wäre ein erster Schritt und sollte zur verpflichtenden Reserve weiterentwickelt werden. Dabei geht es nicht um eine versteckte Wiedereinführung der Wehrpflicht, sondern um eine bessere Nutzung vorhandener Personalreserven.
Unabhängig davon erhält im Zuge der Pandemie die Diskussion über einen allgemeinen Gesellschaftsdienst neuen Auftrieb. Dieser könnte für alle Personen eines Geburtsjahrganges für zwölf Monate verpflichtend sein und müsste in einem gesellschaftlich relevanten Bereich geleistet werden, zum Beispiel in Form von Mitarbeit in einer deutschen Nichtregierungsorganisation im Ausland, Dienst in einem Krankenhaus oder Militärdienst. Schätzungen zufolge beträfe das circa 700 000 Menschen eines Geburtsjahrganges.
Pandemievorsorge verbessern: Der Einsatz atomarer, biologischer und chemischer Kampfstoffe gehört zu den militärischen Bedrohungsszenarien, auf die sich die Bundeswehr vorbereiten muss. Die Streitkräfte wären allerdings kaum mehr in der Lage, sich selbst gegen großflächige ABC-Ereignisse über die eigene Schutzausstattung hinaus zu schützen, geschweige denn die deutsche Bevölkerung. Auch im Bereich ABC-Schutz wurde stark gekürzt. Die ABC-Abwehrtruppe der Bundeswehr umfasst heute noch zwei Bataillone, insgesamt circa 2 250 Soldaten (1990: acht Bataillone). Die notwendigen Schutzausstattungen sind nicht mehr flächendeckend vorhanden: Fabrikneue Filter für die ABC-Schutzmasken werden in der Regel nur für Auslandseinsätze ausgegeben, persönliche Schutzanzüge gehören nicht zur Standardausstattung. Die Kapazitäten der ABC-Abwehrtruppe würden selbst in Verbindung mit denen der Feuerwehr und des Technischen Hilfswerks bei einer deutschlandweiten Bedrohung, die über einen längeren Zeitraum anhält, an ihre Grenzen stoßen. Die Corona-Pandemie unterstreicht die Relevanz der ABC-Abwehr, die oft ein Nischendasein fristet. Die ausreichende Bevorratung von Filtern und Schutzausstattung sollte daher für alle Soldaten der Bundeswehr sichergestellt sein. Zudem wären eine Aufstockung der ABC-Abwehrtruppe oder ein europäischer Ansatz zur zivil-militärischen Bekämpfung von ABC-Bedrohungen sinnvoll.
Logistische Bevorratung: Angesichts der Schwachstellen in der Materialbevorratung entschied sich die Bundeswehr bereits Anfang 2019, acht für die Schließung vorgesehene Depots wieder in Betrieb zu nehmen. Damit soll eine flexible Versorgung gewährleistet werden. Schließlich hatte die Bundesregierung 2012 in ihrer Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz festgestellt, dass bei einer Pandemie der Markt oder die Industrie nur begrenzt in der Lage wären, die Nachfrage an Gesundheitsartikeln zu decken. Die aktuelle Pandemie bestätigt diese Analyse. Im Zuge des 360°-Ansatzes sollte daher erwogen werden, zur teureren, aber gebotenen, fähigkeitsübergreifenden Materialbevorratung zurückzukehren.
Um nationale Engpässe mithilfe der europäischen Ebene zu überbrücken, könnte über die Anpassung eines Projekts der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) nachgedacht werden: des »Network of Logistic Hubs in Europe and Support to Operations«. Denkbar wäre, dass die logistischen Knotenpunkte nicht mehr nur der militärischen Vorauslagerung dienen, sondern auch als Lager für krisen- und katastrophenrelevantes Material, das die EU für Erdbeben, Flutkatastrophen oder Pandemien vorhält. Die so geschaffenen Kapazitäten könnte die EU für innerstaatliche Notlagen oder Unterstützung in ihrer unmittelbaren Peripherie (zum Beispiel in Afrika) einsetzen.
Dr. Claudia Major ist Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Major i. G. René Schulz und Major i. G. Dominic Vogel sind Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autorin und der Autoren wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A51