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Neue Freunde in der Not

Die Corona-Pandemie verschiebt das Gruppengefüge in der EU

SWP-Aktuell 2020/A 39, 25.05.2020, 4 Seiten

doi:10.18449/2020A39

Forschungsgebiete

Die Corona-Pandemie und ihre wirtschaftlichen wie sozialen Folgen stellen den Zu­sammenhalt der EU, aber auch die Machtbalance in der Union vor eine neue Bewährungsprobe. Die (Nicht-)Reaktion der EU zementiert die nationale Souveränität der Mitgliedstaaten und die Dominanz des Intergouvernementalen in der Krise. Zwischen den Staaten verschiebt sich der Spalt zwischen Nord und Süd: Folge einer europa­politischen Offensive Spaniens und Italiens, einer stärkeren »Südorientierung« Frank­reichs und eines gleichzeitigen Zerbröckelns der »Neuen Hanse«. Konjunktur haben vor allem Gruppen als Interessenverbände, die Differenzen in der EU verschärfen statt sie zu überwinden. Deutschland, ab dem 1. Juli 2020 als Ratsvorsitz in beson­derer Vermittlungsrolle, ist als Brückenbauer gefragt.

Zur Eindämmung der Corona-Pandemie und ihrer Sekundäreffekte haben die EU und ihre Mitgliedstaaten nach einer kurzen Schock­starre eine Reihe außerordentlicher Maß­nahmen erlassen, die tief in das öffentliche Leben und die Wirtschaft eingreifen. Dabei haben sie Machtstrukturen und Konflikt­linien in der Union offengelegt – und ver­schoben.

Erstens zeigte sich in der Krise, dass die nationale Souveränität der EU-Staaten fort­besteht. Denn Gesundheitspolitik ist keine EU-Kompetenz. Die Ausgangsbeschränkun­gen etwa verhängten die Nationalstaaten oder, wie in Deutschland, sogar die Bundes­länder. Zu Solidarität in Form der Bereitstellung medizinischer Güter wie Masken oder Schutzkleidung sind bis dato nur die Mitgliedstaaten in der Lage. Auch wirtschaft­liche Hilfspakete kamen zunächst allein von ihnen, die EU lockerte temporär ihre Regeln, beispielsweise die Einschränkungen für staat­liche Beihilfen. Niederländische Vetos gegen Eurobonds unterstreichen einmal mehr, dass die EU Grundsatzentscheidungen nur treffen kann, wenn alle Regierungen zustimmen.

Schritt- und nur teilweise gelingt es Kom­mission und Rat, die Rolle des Koordinators dieser nationalstaatlichen Maßnahmen zu­rückzuerlangen. Auch bei der Krisenbewältigung in der EU setzen bislang die inter­gouvernementalen Institutionen und somit die nationalen Regierungen die Agenda. Zentrales Gremium für die Reaktion der EU war der Europäische Rat, in dem sich die Staats- und Regierungschefs in bisher vier Video­gipfeltreffen – soweit politisch mög­lich – auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt haben, etwa bei der Schließung der EU-Außengrenzen, dem Kurzarbeitergeld SURE oder dem Prinzip eines EU-Wieder­aufbaufonds. Auf Ministerebene war die Eurogruppe das maßgebliche Gremium, in dem über die wirtschaftliche Antwort verhandelt wurde. Das Europäische Parla­ment dagegen war in der Coronakrise nur sehr begrenzt eingebunden, bei einigen Anpassungen in EU-Haushalt und Gesetzgebung. Der EU-Kommission ist es zwar gelungen, schrittweise den Binnenmarkt zu schützen. Die wegweisenden Entscheidungen aber trafen die Regierungen im Euro­päischen Rat bzw. Ministerrat.

Neue und alte Koalitionen in der Krise

Angesichts des Primats der Mitgliedstaaten wird auch die »innereuropäische Diplomatie« in bi- und mini-lateralen Formaten noch wichtiger (siehe SWP-Aktuell 7/2018). Zwar wurden durch den Vorrang natio­nalen Handelns und die Reisebeschränkun­gen auch zwischenstaatliche Formate in der EU beeinträchtigt. Gerade in regionalen Gruppen wurden aufgrund fehlender Ab­sprachen über die Grenzschließungen sub­nationale grenzüberschreitende Koopera­tionsformen ausgesetzt oder erschwert. Unterschiede beim Verlauf der Epidemie, bei der Höhe der Fallzahlen, bei den Phasen und der Stringenz von Eindämmungsstrategien »zerteilen« etablierte Gruppen zusätz­lich. Allerdings kam es auch zu einer Wie­derbelebung diverser Formationen.

Zunächst hat die Coronavirus-Pandemie die »Nord-Süd-Spaltung« in EU bzw. Euro­zone wieder vertieft. Gemessen an der Zahl der offiziell Erkrankten und Verstorbenen sind Italien, Spanien, aber auch Frankreich besonders hart getroffen. Das gilt zugleich für die wirtschaftlichen Auswirkungen: Der Tourismus hat bei ihnen mit am stärksten gelitten; aufgrund der hohen Zahl an Infi­zierten haben sie innerhalb der EU die tief­greifendsten Einschränkungen ihrer Wirt­schaft erlassen, und angesichts ohnehin schon hoher Schuldenstände ist die ein­zelstaatliche Reaktionskapazität geringer. Italien, vor allem aber Spanien ist auf der Suche nach volkswirtschaftlicher Kooperation zumindest vorderhand in der europapolitischen Offensive. Der Brief von neun Staaten, die mehr finanzielle Solidarität und die Ausgabe von Eurobonds fordern, zeigte, dass sich der traditionelle ökonomische Süden erweitert hat. Beteiligt waren auch Irland, Belgien, Luxemburg und Slo­wenien. Die baltischen Staaten oder die Slowakei, in der Finanzkrise noch strikte Gegner von Risikovergemeinschaftung und klar dem finanzpolitischen Norden zu­geordnet, zeigen sich zumindest offen für die Anliegen der Neun. Damit zerbröselt auch, zumindest vorübergehend, die »Neue Hanse«. In dieser Gruppierung hatten sich 2018 acht kleine und mittelgroße nord­europäische Staaten zusammengefunden (Niederlande, Finnland, Irland, Dänemark, Schweden und die drei baltischen Staaten), die sich bis vor kurzem sehr geschlossen für eine liberale Wirtschaftspolitik und eine auf Haushaltsdisziplin setzende Weiterentwicklung der Eurozone eingesetzt haben.

Voraussetzung für die neue Aktivität des Südens war nicht zuletzt die Überwindung der franko-italienischen Zerwürfnisse in­folge des Regierungswechsels in Rom. Mar­kanter Ausdruck der neuen Zweisamkeit war ein bilateraler Gipfel Ende Februar. Auch die aktivere Rolle der Regierung Sán­chez in der Europapolitik trug zur größeren Sichtbarkeit des Südens bei. Dagegen ist der alte Norden in die Defensive geraten und hat bis auf die umstrittene Forderung nach Eurobonds zahlreichen Unterstützungs­rufen aus diesem Lager entsprochen. Getra­gen werden die Vorstöße und die gleichzeitige Ausweitung des bisherigen Südens aber primär von (vermeintlichen) ökonomischen Notwendigkeiten und einem mit Verve vor­getragenen Solidaritätsnarrativ. Bemerkens­wert ist, dass Frankreich sich nicht vom süd­lich geprägten Solidaritätslager abgrenzt (wie Deutschland in der Vergangenheit von der Hanse-Gruppe), sondern als dessen integraler Bestandteil oder gar Wortführer auftritt. Bei alledem ist der ausgeweitete Süden kaum konsolidiert. Daher sind weder Zusammenhalt noch längerfristige Durch­setzungsfähigkeit ausgemacht.

In der Visegrád-Gruppe war kaum Koordinierung im Kampf gegen die Corona-Krise zu beobachten. Obschon die Regierungschefs noch bei einem Gipfeltreffen Anfang März ihren Kooperationswillen betont hatten, wurden beispielsweise die Grenzen zwischen den vier Ländern ohne erkennbare Abstimmung geschlossen. Allerdings setz­ten sie außenpolitische Akzente in Form von Hilfen für die Östliche Partnerschaft und zur Grenzsicherung und Corona-Ein­dämmung in Libyen. Nach wie vor sorgt das Dauerthema Migration für einen Schulter­schluss, zumal die Problematik durch das Urteil des Europäischen Gerichts­hofs von Anfang April 2020 zu Quoten für die Ver­teilung von Flüchtlingen wieder an Bedeutung gewinnt. Vor allem werden aber weiterhin Gemeinsamkeiten bei den Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFF) und im Zusammenhang mit dem Wiederaufbaufonds gesucht. Die Länder möchten keine Kürzung von Kohäsionsfonds und fordern neue Eigenmittel, um ein angemessenes Volumen des Haushalts sicherzustellen, wobei neue Belastungen durch die Krise zu berück­sichtigen sind.

Schon vor der Pandemie hatten sich als selbsternanntes »ambitioniertes Europa« 15 Staaten aus Süd- und Osteuropa zusam­mengefunden, um eine Anhebung des EU‑Budgets zu fordern – Umverteilungen zugunsten des stärker vom Coronavirus betroffenen Südens könnte diese Themenkoalition aber auseinandertreiben. Ihnen gegenüber, zumindest bei den Haushaltsverhandlungen, stehen die »frugalen Vier« (Niederlande, Schweden, Österreich, Däne­mark), die auch nach Ausbruch der Pan­demie auf Haushaltsdisziplin pochen.

Die BeNeLux-Union ist in wirtschafts­politischen Fragen nach wie vor gespalten, da sich Belgien und Luxemburg für Instru­mente wie Eurobonds aussprechen, die Nie­derlande sich jedoch unnachgiebig dagegen sperren. Die drei Länder konzentrieren sich daher auf eine Verbesserung des Grenz­managements und die Schaffung von mehr Transparenz in der Krise. Auf Anregung Nord­rhein-Westfalens wurde mit den Nie­derlanden und Belgien eine Cross-Border Task Force Corona ins Leben gerufen.

Die Länder Nordeuropas (EU wie Nicht-EU-Staaten) haben in der Krise ihre bewähr­ten Kooperationsstrukturen genutzt. Die Bekräftigung der Kooperation ist auch eine Reaktion auf den schwedischen Sonderweg, der sich vom restriktiven Ansatz der ande­ren Länder in der Region (und in Europa) unterscheidet. Politisch wird hierbei signa­lisiert, dass alle Länder am Ziel einer »grü­nen, wettbewerbsfähigen und sozial nach­haltigen Nordischen Region« festhalten. Der NordForsk-Forschungsfonds des Nordischen Ministerrats hat drei neue Forschungsinitiativen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gestartet. Die baltischen Staaten haben ihren Willen erklärt, eine gemeinsame »baltische Reisezone« zu etablieren, um trotz fort­bestehender Kontrollen an den Grenzen zu anderen EU-Ländern den Austausch von Menschen und Gütern zu erleichtern.

Das Weimarer Dreieck befand sich vor Ausbruch der Pandemie in einer Phase vor­sichtiger Reaktivierung. Im Januar hatten sich die Europastaatssekretäre getroffen und die Bereitschaft unterstrichen, trilaterale Konsultationen fortzuführen. In einigen Themenfeldern gab es verbesserte Kommu­nikation oder sogar gemeinsame Initiativen (Erklärung der drei Landwirtschaftsminister vom Oktober 2019, Initiative zur Reform der Wettbewerbspolitik, unterstützt von Italien). Der Warschau-Besuch des französischen Staatspräsidenten Macron im Februar 2020 bewirkte zwar keinen Durchbruch in den schwierigen beiderseitigen Beziehungen, öffnete aber die Tür für ein Gipfeltreffen der drei Länder. Ob es zustande kommt, ist jedoch keineswegs sicher, ein Termin entsprechend ungewiss.

Die Gruppenlandschaft in der EU hat sich während der Pandemie verändert: Finanziell-ökonomische Interessengruppen treten in den Vordergrund, Regionalgruppen konzentrieren sich auf sich selbst oder sind durch grenzbezogene Themen und europa­politische Fragen fragmentiert. Brückenbauende Formate wie Weimar konnten bis dato keine Impulse setzen.

Mehrwert und Grenzen des deutsch-französischen Motors

Im Angesicht dieser sich gegenseitig blockie­renden Interessenskoalitionen (und dem Brexit) beginnen die »alten« Mechanismen der EU zu greifen. Die Mitte Mai 2020 von Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Staatspräsident Macron vorgestellte Initia­tive zur »wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Coronakrise« trägt alle Zeichen eines klassischen deutsch-französischen Kompromisses, den die beiden größten Mit­gliedstaaten der EU – stellvertretend für opponierende Gruppen – ausgehandelt haben. Dieser soll, so das Ziel, möglichst in einem einstimmigen Beschluss für einen deutlich ausgeweiteten MFF münden, in den ein 500 Milliarden Euro umfassender Wiederaufbaufonds zu integrieren ist.

Diese deutsch-französische Initiative ist ein notwendiger, aber kein ausreichender Schritt zur Überwindung der Gruppen­konflikte. Denn auch in einer EU-27 reicht die Bindekraft der beiden Schwergewichte nicht aus, um all die verschiedenen Grup­pen zu repräsentieren. Die Visegrád-Staaten etwa sehen ihre Interessen in deutsch-fran­zösischen Kompromissen kaum abgebildet und stehen oft im Widerspruch zu Berlin und Paris. Auf der anderen Seite wirkt in den Niederlanden noch das »Trauma von Deauville« – Merkel und der damalige französische Präsident Sarkozy hatten sie 2011 mit ihren Beschlüssen von Deauville über das Vorgehen in der Eurokrise vor voll­endete Tatsachen gestellt. Das war für Den Haag neben dem Brexit ein Grund, sich mit der »Neuen Hanse« und den »frugalen Vier« eigene Interessengruppen aufzubauen, um sich notfalls vermeidbaren deutsch-franzö­sischen faits accomplis widersetzen zu können.

Deutschland und die Gruppen: Konsultieren und Kooperieren

Deutschland kommt in der jetzigen Situa­tion und mit nahender Ratspräsidentschaft wieder einmal eine zentrale Rolle bei der Stabilisierung und Fortentwicklung der EU zu. In Anbetracht zunehmenden und (teils) nicht abgestimmten nationalen Handelns und neuer sowie alter Polarisierungen ist es für Deutschlands Europapolitik ein Gebot der Stunde, sich intensiv mit europäischen Partnern im Sinne eines Brückenbauens über politische Gräben hinweg abzustimmen. Die deutsch-französische Initiative von Mai 2020 ist hierfür ein guter Auftakt, benötigt im komplexen Gruppengefüge der EU aber eine diplomatische Ergänzung. Fol­gende Handlungsoptionen zum »Brücken­bauen« bieten sich an:

Erstens sollte Deutschland durch »Plus-Formate« den Dialog mit Gruppen aufnehmen, denen es selbst nicht angehört. Ein gutes Beispiel ist der Austausch mit den Visegrád-Ländern, die auf Ebene der Regie­rungschefs unmittelbar nach dem deutsch-französischen Gipfel oder mit den Außenministern während der Krise ein Video­treffen abgehalten haben. Ebenso wichtig ist der Dialog mit den »sparsamen Vier«, insbesondere mit den Niederlanden, welche die deutsch-französische Einigung kritisch beäugen.

Zweitens sollte Deutschland Initiativen unterstützen oder anstoßen, die quer zu bestehenden Konfliktlinien liegen. Dies gilt insbesondere für die Kontroverse zwischen Gebern und Nehmern von Finanzmitteln. Eine Möglichkeit wäre, das Ventotene-For­mat (Deutschland, Frankreich, Italien) wie­derzubeleben oder Polen darin einzubeziehen, um Nord-Süd-, aber auch eventuelle Ost-West- und Ost-Süd-Kontroversen sym­bolisch aufzufangen.

Um die Dominanz von Finanz- und Euro­zonenkonflikten in einen breiteren Kontext zu stellen, könnte drittens eine divers auf­gestellte Zukunftsgruppe der Wirtschafts­minister größerer und kleinerer Staaten geschaffen werden. Sie könnte sich infor­mell mit dem wirtschaftlichen und indus­triepolitischen Reformprozess und mit Fra­gen der Modernisierung der EU beschäf­tigen (Wirtschaftsgymnich).

Dr. Kai-Olaf Lang ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364