Die durch das Coronavirus ausgelöste Krise breitet sich in Lateinamerika aus – und gleichzeitig bzw. in ihrem Schutz eine Version des Autoritarismus, die den Ausnahmezustand als neue Normalität nimmt. Im Schatten der Krise werden politische Machtfragen »geklärt«, ohne internen Kontrollen unterworfen zu sein und unter Ausnutzung der durch die Pandemie erzwungenen Demobilisierung der Bürgerschaft. Am Krisenmanagement der Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, und El Salvadors, Nayib Bukele, lassen sich zwei verschiedene Wege aufzeigen, um zum gleichen Ziel zu gelangen: die Stärkung der präsidialen Macht auf Kosten der Gewaltenteilung. Der Protest auf der Straße gegen autoritäre Tendenzen ist gegenwärtig eingeschränkt. Dies ermöglicht Verschiebungen der Macht zugunsten autoritärer Muster, die nur schwer einzuhegen oder zurückzudrängen sind.
Der Höhepunkt der Covid‑19-Erkrankungswelle steht in vielen Ländern Lateinamerikas noch bevor: für Ende Mai / Anfang Juni 2020. Die Bemühungen, die Behandlungsmöglichkeiten auszuweiten, laufen auf Hochtouren. Die Qualität der nationalen Gesundheits- und Katastrophenschutzsysteme wird schwerlich genügen, um den Ausbruch der Krise und deren Folgen zu kontrollieren. In Nicaragua wird die Corona-Krise einfach negiert, in Venezuela befindet sich das Gesundheitssystem in einem so desolaten Zustand, dass man von einer effektiven Versorgung Erkrankter nicht ausgehen kann. In vielen anderen Staaten sind die Anstrengungen für einen besseren Schutz der Bevölkerung und des Gesundheitspersonals intensiviert worden, doch werden die geschrumpften finanziellen Ressourcen für einen umfassenden Gesundheitsschutz der Menschen sowie eine weitreichende Testung von Corona-Verdachtsfällen kaum ausreichen.
Covid‑19 und die Gefahren der Syndemie
Dabei verfügen viele Länder Lateinamerikas über umfangreiche Erfahrungen im Umgang mit Gesundheitskrisen, insbesondere mit viralen Epidemien. So wurde die Region 2019 durch eine schwere Dengue-Epidemie heimgesucht, mit mehr als drei Millionen Fällen. Dies bedeutete einen Anstieg von mehr als 20 Prozent seit 2015, dem Jahr mit der bis dahin höchsten registrierten Fallzahl. Im Jahr 2016 war eine schwere Zika-Epidemie aufgetreten, 2013 hatte sich das Chikungunya-Fieber ausgebreitet. Die Gesundheitssysteme der Länder der Region haben dadurch eine gewisse Resilienz im Umgang mit Krankheiten entwickelt, die durch Insekten übertragen werden. Allerdings gestalten sich in diesen Fällen Bekämpfung und Prävention grundsätzlich anders als bei Covid‑19: Bislang stand die Kontrolle der Reproduktion von Insekten im Vordergrund, heute ist die Reduzierung zwischenmenschlicher Kontakte zentral, um die Pandemie einzudämmen.
Besonders zu Buche schlägt zudem das Problem der sogenannten »Doppelbelastung« durch Krankheiten wie Masern oder Dengue in Kombination mit Covid‑19, die zur gleichen Zeit, bei den gleichen Menschen und an den gleichen Orten auftreten können. Die Panamerikanische Gesundheitsorganisation (OPS) vermutet eine solche Syndemie, also das Zusammentreffen verschiedener Epidemien, als Ursache der dramatischen Zustände in der Umgebung von Ecuadors Küstenmetropole Guayaquil, wo es zu einer explosionsartigen Verbreitung von Covid‑19-Erkrankungen kam. Die Zahl der Sterbefälle stieg dort im April 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 485 Prozent, ein Wert, der noch über den Zahlen von Bergamo / Italien liegt.
Das Virus des Autoritarismus
Indes ist die Bekämpfung der Corona-Infektionswelle nur eine der Krisen, die Lateinamerika zurzeit durchläuft. Neben der Gesundheitskrise werden Machtverschiebungen hin zu autoritären Regierungsmustern erkennbar, die sich gerade angesichts expansiver Rollen der Exekutive und interner Machtpositionen vollziehen. Widerstand dagegen ist unter den Verhältnissen von Covid‑19 nur begrenzt möglich: Straßenproteste, Massenmobilisierung und Demonstrationen gehören zum Standardrepertoire der politischen Auseinandersetzung in Lateinamerika. Auch etablierte politische Kräfte suchen die Beteiligung der Bürgerschaft jenseits der formalen politischen Prozesse, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Selbst Regierungen inszenieren Demonstrationen, um ihrer verfallenden demokratischen Legitimität neues Leben einzuhauchen.
Doch diese Verfahren sind in vielen Ländern der Region infolge der aktuellen Einschränkungen von Mobilität und Versammlungsfreiheit reduziert, man muss sich – wie in Brasilien – mit dem Töpfe-Schlagen auf dem Balkon oder am Wohnungsfenster begnügen, um seinen Unmut kundzutun. Vieles verlagert sich in die sozialen Medien, wo die Anhänger oder Gegner der jeweiligen Regierungen umso unversöhnlicher aufeinandertreffen. Dabei eröffnen die Präsidialsysteme in der Region durchaus unterschiedliche Wege, um die eigene Anhängerschaft für ein autoritäres Vorgehen zu mobilisieren. Dies lässt sich am Beispiel der Präsidenten Brasiliens und El Salvadors veranschaulichen.
Brasilien: Angefochtener Präsident, Machtzuwachs des Militärs
Brasilien leidet unter der sich rapide verschlechternden Wirtschaftslage und Gesundheitssituation. Präsident Bolsonaro hat in diesem Dilemma klar Position bezogen: Für ihn muss die Schrumpfung der Wirtschaft des Landes, die für dieses Jahr auf 5,2 Prozent geschätzt wird, um jeden Preis vermieden werden. Deshalb hat er die Auswirkungen der Covid‑19-Pandemie heruntergespielt, spricht von einer »Hysterie«, gegen den Rat seines eigenen Gesundheitsministers, Luiz Henrique Mandetta (der inzwischen entlassen wurde).
Die Last der Pandemie-Bekämpfung liegt bei den Gouverneuren der Bundesstaaten; sie übernehmen vor allem auf subnationaler Ebene die Kontrolle der Corona-Krise, die eigentlich von der nationalen Regierung zu erbringen wäre. Diese erscheint zunehmend nur eingeschränkt handlungsfähig und ‑willig, wozu wachsende Divergenzen um Lageeinschätzung, Zuständig- und Verantwortlichkeiten beigetragen haben: zwischen Bolsonaro und dem Parlament, dem Bundesgerichtshof, den Gouverneuren und Bürgermeistern, einem Teil des wirtschaftlichen Establishments und der Presse. Der Präsident beschwört alte Feindbilder, während die Gebietskörperschaften und das Militär die konkrete Arbeit des Gesundheitsschutzes entgegen der Abwiegelungsrhetorik des Präsidenten leisten.
Bolsonaro ist mehr und mehr auf die Unterstützung des Militärs in seinem Kabinett angewiesen, das inzwischen 9 von 22 Ministern stellt. Diese konnten jedoch nicht verhindern, dass der Präsident den populären Justizminister Sérgio Moro zum Rücktritt drängte, indem er gegen dessen Willen einen neuen Leiter der Bundespolizei ernannte. Begleitet wird dies von Spekulationen, der Präsident wolle mit der Bestellung ihm nahestehender Funktionäre Ermittlungen gegen seine Familie beeinflussen. Dabei stehen insbesondere seine drei Söhne in der Kritik, die Macht des Präsidenten zu nutzen, um ihre politischen und wirtschaftlichen Projekte voranzutreiben. Doch scheint Bolsonaros harte Wählerbasis, die auf etwa 30 bis 35 Prozent der Wähler geschätzt wird, davon unbeeindruckt – vielmehr haben seine Anhänger Kampagnen für ihren Präsidenten gestartet.
Der Oberste Gerichtshof hat entschieden, die Untersuchung der Korruptionsfälle, in die der Familienclan Bolsonaros verstrickt ist, zu ermöglichen. Zwar kann diese Entscheidung als Zeichen für die noch bestehenden Gegengewichte im brasilianischen System gewertet werden; der Druck auf die Verfassungsorgane hält aber weiter an. Erneut wird ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten in die Diskussion gebracht, allerdings nur begrenzt unterstützt. Bolsonaros Anhänger und Wähler sehen in dieser Forderung die Rückkehr der so verhassten alten politischen Klasse. Auch auf der Ebene des Kongresses findet ein solches Verfahren wenig Zustimmung: Bislang halten die Abgeordneten aus den Reihen der Waffenlobby, der Agrarunternehmen und Großgrundbesitzer sowie der Evangelikalen Bolsonaro die Treue. Die Ernennung eines neuen Justizministers evangelikaler Zugehörigkeit hat dies befördert.
Insgesamt zeichnet sich das Bild eines geschwächten Präsidenten Bolsonaro ab, der Brasilien weiter in ein Regime führt, das de facto von einer starken Gruppe von Militärs in Regierungsfunktionen gemanagt wird, die hinter der demokratischen Fassade ihre eigene Politik betreiben. Hinzu tritt die Gruppe politisierter Evangelikaler und ihrer Lobbyorganisationen, die bereit sind, ihm als »Messias«, so der zweite Vorname des Präsidenten, zu folgen.
El Salvador: Politik der harten Hand gegen Corona und die Gewalt
Während im Fall Brasiliens die verharmlosende Haltung von Jair Bolsonaro gegenüber Covid‑19 als »kleine Grippe« offensichtlich ist, war der Präsident El Salvadors, Nayib Bukele, einer der ersten Regierungschefs in der Region, der in seinem Land strenge Maßnahmen zur Eindämmung eingeführt hat. Rigoros ordnete er über Twitter an, dass Militär und Polizei jeden, der die häusliche Quarantäne ohne triftigen Grund verletzt, festzunehmen und für 30 Tage in entsprechenden Lagern festzusetzen hätten. Bukele wies einen Beschluss des Obersten Gerichtshofs des Landes schroff zurück, der ihn aufforderte, für diese Verfahren den Rechtsweg einzuhalten. Mit seinen täglichen Tweets verpflichtet er weiterhin Regierungs- und Sicherheitsorgane, konkrete Maßnahmen unmittelbar umzusetzen, etwa wenn ihn Bilder von Feiern und sonstigen Zusammenkünften erreichen.
Bukeles Auftauchen auf der politischen Bühne hat das Land verändert: Sein Aufstieg vom Bürgermeister der Hauptstadt San Salvador zum gegenwärtig beliebtesten Präsidenten Lateinamerikas mit Zustimmungswerten von 81 Prozent kennzeichnet seinen Erfolgskurs. Ihm ist es ohne eigene Partei gelungen, bei den Präsidentschaftswahlen im Februar 2019 das traditionelle salvadorianische Zweiparteiensystem zu besiegen, das aus der konservativen Nationalistisch-Republikanischen Allianz (Arena) und der Partei der ehemaligen Guerilla, Farabundo Martí Nationale Befreiungsfront (FMLN), besteht. Da das Parlament nach wie vor von den beiden großen Parteien dominiert wird und Bukeles Anhänger dort über keine Mehrheit verfügen, ist der Konflikt mit der Legislative seit Beginn seiner Amtszeit eine Konstante. Sein Stil des direkten »Regierens per Twitter« findet bei der Bevölkerung Anklang. Sie hofft sehnsüchtig auf eine Verringerung der Gewalt im Land. Für Letztere werden Jugendbanden (Maras) verantwortlich gemacht – Schätzungen sprechen von 70 000 entwurzelten Jugendlichen –, die das zentralamerikanische Land mit einer hohen Zahl an Morden seit Jahren heimsuchen.
Das harte Durchgreifen in Sachen Corona verbindet sich mit dem Bild des Präsidenten als Retter vor der wachsenden Kriminalität in der Gesellschaft einerseits, als desjenigen, der den Kampf gegen die korrupten Eliten der Vergangenheit führt, andererseits. Dabei duldet er keinen Widerspruch: Am 9. Februar dieses Jahres eskalierte die Konfrontation mit dem Parlament, als Bukele an der Spitze einer Gruppe uniformierter Soldaten in militärischer Formation das Parlament besetzte. Er wollte die Abgeordneten dazu bringen, einen Kredit zu bewilligen, mit dem die Pläne der Regierung zur öffentlichen Sicherheit finanziert werden sollten. Obwohl der Oberste Gerichtshof Bukeles Ultimatum und den Einsatz der Streitkräfte für unzulässig erklärte, setzt Bukele seine Konfrontationsstrategie mit Legislative und Judikative fort. Im Zeichen von Corona hat er sie nochmals verschärft; mit seiner Missachtung der anderen Gewalten rüttelt er an den Grundfesten der Verfassungsordnung eines Landes, das erst vor 25 Jahren nach einem langen Bürgerkrieg zur Demokratie gefunden hat.
Für die jüngste Welle der Gewalt macht Bukele die untereinander verfeindeten Jugendbanden verantwortlich, die die Bindung der Sicherheitskräfte in der Corona-Krise nutzten, um ihr blutiges Geschäft voranzutreiben. Er hat Polizei und Armee autorisiert, »tödliche Gewalt« anzuwenden, um die Bevölkerung zu verteidigen. Zudem hat er die Haftbedingungen der circa 13 000 einsitzenden Mitglieder der Jugendbanden verschärft. Dies ist ein weiteres Beispiel für die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen, die der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen bereits 2018 festgestellt hat. Solche Maßnahmen finden viel Beifall und Unterstützung im Land, wo sich ein Klima der Rache für die in den letzten Jahrzehnten erlittene Gewalt entwickelt hat, das der Präsident selbst nährt. Das Regieren »mit harter Hand« ist durchaus populär, sei es bezogen auf die Corona-Krise oder bezogen auf kriminelle Gewalt. Der Einsatz staatlicher Kontrollinstrumente erweist sich als geeignetes Mittel, die eigene Machtposition zu untermauern, selbst wenn dabei die Grundlagen der staatlichen Ordnung ausgehebelt werden.
Lateinamerikanischer Präsidentialismus im Zeichen von Covid‑19
Staatliche Durchgriffs- und Eingriffsrechte, gewährt unter den Umständen von Covid‑19, werden derzeit verwendet, um die präsidentielle Macht in Feldern der öffentlichen Ordnung – jenseits des Gesundheitssystems – weiter zu festigen. Sondervollmachten sind damit unter den Bedingungen von Ausnahmezustand oder Haushaltsnotstand dazu angetan, dauerhaft die Gewichte zwischen den staatlichen Gewalten, aber auch innerhalb der Exekutive zu verschieben. Ob es das Vordringen des Militärs in der Regierungsführung hinter der Fassade eines demokratischen Populisten wie Bolsonaro ist oder die offene Suche nach umfassender Machtkontrolle eines Präsidenten wie Bukele – in beiden Fällen wird die Corona-Krise dazu genutzt, die Machtbalance zu beeinflussen in Richtung auf einen stärkeren Autoritarismus und zu Lasten demokratischer Spielregeln.
Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A35