Mit Russlands Ablehnung weiterer Förderkürzungen und der darauffolgenden Ankündigung Saudi-Arabiens, die eigene Ölproduktion hochzufahren, ist Anfang März ein massiver Preisverfall auf dem internationalen Ölmarkt eingetreten. Während Saudi-Arabien mit niedrigen Preisen seine Marktanteile ausbauen will, ist die Strategie Russlands keineswegs eindeutig. Moskau will zwar an seiner Förderquote festhalten, hat aber auch kein Interesse an einer ausgedehnten Preisschlacht. Ob Saudi-Arabien mit seiner Eskalation Erfolg hat oder sich Russlands kompromissloses Auftreten auszahlen wird, hängt nicht nur vom Durchhaltevermögen der beiden Länder ab. Entscheidend sind auch die Entwicklung der Ölnachfrage und die Anpassungsreaktionen anderer Ölförderer, insbesondere der US-amerikanischen Fracking-Industrie.
Mit der Ankündigung Saudi-Arabiens vom 8. März, die eigene Förderung von 9,7 auf bis zu über 11 Millionen Barrel am Tag hochzufahren, ist eine präzedenzlose Situation auf dem Ölmarkt entstanden. Vorausgegangen war ein Scheitern der Verhandlungen zwischen der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) und Russland. Moskau hatte sich geweigert, die im Rahmen des sogenannten OPEC+-Formats vereinbarten Förderkürzungen von zuletzt 1,7 Millionen Barrel um weitere 1,5 Millionen Barrel am Tag mitzutragen. Die Ölmärkte reagierten prompt. Sie erlebten nach der saudischen Ankündigung einen »Schwarzen Montag«: Die Preise fielen um über 30 Prozent. Das ist der stärkste Verfall seit 1991.
Die Entscheidungen Russlands und Saudi-Arabiens führten zu einem Angebotsschock in einer Phase, in der die wegbrechende Nachfrage ohnehin für große Verunsicherung auf dem Ölmarkt sorgt. Die Wachstumsaussichten für die Weltwirtschaft waren wegen der Handelskonflikte zwischen den USA und China sowie der EU, aber auch wegen des Brexits schon seit Monaten getrübt. Die Nachfrage nach Öl war 2019 schwächer als erwartet, und die Preise für die Nordseesorte Brent waren von Anfang Januar bis Mitte Februar 2020 bereits um 15 Prozent gefallen.
Dass die Märkte trotz des Ausfalls von insgesamt 3,5 Millionen Barrel am Tag aus iranischer, libyscher und venezolanischer Produktion überversorgt sind, liegt an der gestiegenen Förderung in Brasilien und dem Irak, aber vor allem am Fracking-Boom in den USA. Dieser sorgte ungeachtet eines Umfelds, das durch enorme geopolitische Risiken und US-Sanktionen gegen Petrostaaten (siehe SWP-Studie 28/2019) geprägt war, für niedrige Preise. Die USA sind derzeit Nettoexporteur und größter Produzent auf dem Weltmarkt: 2019 förderte das Land 12,3 Millionen Barrel Öl täglich, 8,5 Millionen davon sind gefrackt. Mit dem Schieferboom ist auch die Elastizität des Angebots signifikant gestiegen; binnen weniger Monate kann die Förderung hochgefahren werden. Viele Bohrtürme liefern dann aus kleinen Vorkommen überschaubare Ölmengen für einen Zeitraum von zwei bis vier Jahren. Zwar ist die Erschließung neuer Quellen im Mittleren Osten kommerziell noch am attraktivsten, danach folgen aber die Schieferölvorkommen der USA. Allerdings haben die schon relativ niedrigen Preise viele Fracker bereits an die Grenze der Wirtschaftlichkeit gebracht.
Die Internationale Energieagentur (IEA) schätzt, dass als Folge der Corona-Pandemie die Öl-Nachfrage im ersten Quartal 2020 um 2,5 Millionen Barrel am Tag sinken könnte. Durch diese Situation geriet die OPEC in Zugzwang. Sie konnte allerdings Russland keine weiteren Förderkürzungen abringen.
Saudi-Arabien zieht die Reißleine
Die Reaktion der saudischen Führung auf die mangelnde Kooperationsbereitschaft Russlands ist typisch für den Politikstil Muhammad Bin Salmans. Wegen seiner proaktiven Außenpolitik und seines aggressiven Vorgehens gegen politische Gegner und Kritiker gilt der 34-jährige Kronprinz als impulsiv und risikofreudig. Fraglich ist indes, ob die Entscheidung zur Ausweitung der Förderung im Affekt erfolgte. So dürfte der innere Führungszirkel um Bin Salman bereits seit Monaten Kosten und Nutzen einer Niedrigpreisstrategie abgewogen haben. Denn bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie war das Preisniveau auf dem internationalen Ölmarkt für das Königreich zu niedrig. Seit 2014 weist der Haushalt des Landes, das über zwei Drittel seiner Staatseinnahmen aus dem Erdölexport generiert, massive Defizite aus. Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge wäre für ein ausgeglichenes Budget 2019 ein Ölpreis von 86,5 US-Dollar erforderlich gewesen. Sparmaßnahmen in den vergangenen Monaten dürften für 2020 zwar etwas Erleichterung gebracht haben, von einer nachhaltigen fiskalischen Konsolidierung war das Königreich aber weit entfernt. Eine im Februar vom IWF veröffentlichte Simulation zeigt, dass die Nettofinanzvermögen der Golfmonarchien bei einem langfristig stabilen Ölpreis von 55 US-Dollar im Durchschnitt bis 2034 aufgebraucht sein könnten – so auch in Saudi-Arabien.
Vor allem die Finanzierung der 2016 von Bin Salman verkündeten »Vision 2030« ist damit grundlegend gefährdet. Das ambitionierte Entwicklungsprogramm zielt darauf ab, die Wirtschaft des Landes durch massive Investitionen in den kommenden zehn Jahren weitestgehend unabhängig von den Öleinnahmen zu machen. Der Kronprinz hat sein gesamtes politisches Kapital in die Umsetzung der Vision gelegt – eine Anpassung an fiskalische Realitäten scheint daher kaum möglich. Nachdem auch der letzte Versuch gescheitert war, durch eine konzertierte Aktion der OPEC+ die Preisschraube nach oben zu drehen, dürfte Bin Salman im Umschwenken auf eine Niedrigpreisstrategie wohl die einzige verbliebene Chance gesehen haben, um über eine massive Ausweitung der saudischen Marktanteile langfristig fiskalischen Handlungsspielraum zurückzugewinnen.
Kurzfristig ist diese Strategie für den Kronprinzen aus zweierlei Gründen hochriskant: Zum einen ist völlig offen, ob und wie schnell Einnahmeneinbußen durch den gesunkenen Ölpreis über eine Ausweitung der Erdölexporte kompensiert werden können. Zumindest in den kommenden Monaten wird der Staatshaushalt mit gravierenden Einnahmeausfällen zu rechnen haben, die entweder unpopuläre Einsparungen oder eine Ausweitung der Staatsverschuldung erforderlich machen. Letztere ist bereits seit 2014 sukzessive erhöht worden und dürfte gerade vor dem Hintergrund niedriger Ölpreise künftig mit höheren Kosten für das Königreich einhergehen. Zum anderen wirkt sich der niedrige Ölpreis negativ auf die Pläne der Regierung aus, den saudischen Erdölkonzerns Aramco weiter zu privatisieren. Erst im Dezember 2019 waren 1,5 Prozent der Unternehmensanteile an die Börse gebracht worden. Zur Finanzierung der »Vision 2030« sollten weitere Börsengänge folgen. Durch die nun eingeschlagene Niedrigpreisstrategie dürfte dies auf absehbare Zeit unrealistisch bleiben. Schlimmer noch: Durch den Einbruch des Ölpreises ist der Börsenwert von Saudi Aramco deutlich unter den Ausgabepreis gefallen. Da offenbar viele wohlhabendere Saudis nicht zuletzt aufgrund der staatlichen Werbung für den Börsengang die Aktie gezeichnet haben, dürfte die Unzufriedenheit mit Bin Salmans Regierungsführung in der Mittelschicht in den kommenden Monaten wachsen.
Russland will keine Preisschlacht
Bereits im Vorfeld des Wiener Gipfels der OPEC+-Staaten hatte sich Moskau skeptisch gegenüber neuen Förderkürzungen gezeigt. Russland wollte die bestehende Vereinbarung zunächst nur bis Ende Juni verlängern und die konkreten Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltnachfrage abwarten. In Moskau ist die Überzeugung gereift, dass immer neue Kürzungen das Problem des Überangebots auf dem Weltmarkt nicht dauerhaft lösen werden.
Für Moskau ist es zudem politisch schwer verdaulich, dass die eigenen Einschränkungen auch der US-Ölindustrie zugutekommen, während Washington immer neue Sanktionen gegen den russischen Energiesektor beschließt. Vor allem der einflussreiche Rosneft-Chef Igor Setschin drängte auf ein Ende der Vereinbarung. Rosneft hat unter den russischen Unternehmen die größten freien Kapazitäten.
Auch ist Russlands Staatshaushalt heute weniger vom Ölpreis abhängig als noch 2016, dem Jahr des ersten OPEC+-Abkommens. Durch eine strikte Fiskalpolitik hat Moskau in seinem Wohlfahrtsfonds Rücklagen in Höhe von 150 Milliarden US-Dollar gebildet, was 9,2 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts entspricht. Im vergangenen Jahr hätte ein Ölpreis von 49 US-Dollar genügt, um für einen ausgeglichenen Haushalt zu sorgen.
An einer Eskalation des Preiskampfs hat Russland dennoch kein Interesse. Moskau weiß die Zusammenarbeit mit den OPEC-Staaten zu schätzen. OPEC+ diente Russland auch als außenpolitisches Vehikel, über das es seinen Einfluss im Nahen Osten ausdehnen konnte. Vor allem die russisch-saudischen Beziehungen hatten sich nach 2016 sehr positiv entwickelt.
Auch kann Russland seine Öl-Fördermengen nur geringfügig erhöhen, um den Effekt niedriger Preise auszugleichen. Im Februar lag die russische Produktion bei 11,3 Millionen Barrel pro Tag. Es wird geschätzt, dass russische Unternehmen über freie Kapazitäten von 0,5 Millionen Barrel pro Tag verfügen. Langfristig werden Russlands Kapazitäten sogar fallen, da wichtige Ölvorkommen erschöpft sind und die Erschließung neuer Felder aufgrund der westlichen Sanktionen kaum vorankommt.
Auch wenn Moskau sich in einer ersten Reaktion auf den Preisverfall betont unbeeindruckt zeigte, schwächt der niedrige Ölpreis die russische Wirtschaft in einer ohnehin schwierigen Phase. Der Rubel hat gegenüber Dollar und Euro am Folgetag deutlich nachgegeben. Das hilft dem Export und dem Haushalt, allerdings drohen eine spürbare Teuerung importierter Konsumgüter und damit verbundene Einbußen bei den realen Einkommen.
Gerade die langjährige Stagnation der Einkommen ist für Moskau ein innenpolitisches Problem. Derzeit versucht der Kreml mit einem Investitionsprogramm für neuen Schwung und höhere Lebensstandards zu sorgen. Dafür hat man just Anfang März in einem Nachtragshaushalt den fiskalischen Gürtel etwas gelockert. Moskau braucht gute Nachrichten, weil am 22. April ein russlandweites Referendum über eine neue Verfassung ansteht. Eine deutliche Mehrheit ist dabei unabdingbar, um jeglichen Zweifeln an der Legitimation der potentiellen Dauerherrschaft Präsident Putins vorzubeugen.
Ausblick
Sowohl für Saudi-Arabien als auch für Russland ist der tiefe Fall des Ölpreises wirtschaftlich schmerzhaft und politisch mit erheblichen Risiken verbunden. Ob sich der Preis in den kommenden Monaten erholen kann, wird zum einen davon abhängen, wie tief und nachhaltig der Einbruch der Nachfrage auf dem Weltmarkt ausfällt, und zum anderen davon, wie sich das Angebot in den übrigen Förderländern entwickelt.
Zentral ist dabei die US-amerikanische Förderung. Viele der kleineren Fracking-Unternehmen stehen nun unmittelbar vor der Insolvenz. Natürlich ist denkbar, dass die US-Regierung ihnen in den kommenden Monaten vorübergehend finanzielle Unterstützung gewährt. So dürfte US-Präsident Trump im Wahljahr bestrebt sein, die Preise an der Zapfsäule niedrig zu halten und gleichzeitig das Überleben der Industrie sicherzustellen.
Außerdem bleibt abzuwarten, inwieweit die USA angesichts der niedrigen Preise ihre Energiedominanz ausspielen und zum Beispiel Wirtschaftspartner im Rahmen von Handelsvereinbarungen zur Abnahme von US-Öl verpflichten. Auch könnten die Preise die Gelegenheit bieten, um den Sanktionsdruck gegenüber Russland, Venezuela und Iran zu intensivieren.
Eine massive Kostenreduktion innerhalb der US-Frackingindustrie wie 2014–2016, als die Branche nach einem Ölpreis-Crash ein beeindruckendes Comeback feierte, ist heute aber kaum zu erwarten. Fallen die Fracker massenhaft aus, könnte sich der Preis auf dem Ölmarkt erholen, auch wenn Russland und Saudi-Arabien ihre Produktion weiterhin maximieren.
Der Ausblick auf die Weltkonjunktur weckt aber Zweifel daran, dass sich die gegenwärtige Krise für die beiden autoritären Regime auf diese Weise in Wohlgefallen auflöst. Kommt es nicht zu einer schnellen Erholung des Ölpreises, wird das Durchhaltevermögen von Russland und Saudi-Arabien entscheidend sein. Riad könnte zumindest einen Teil seiner Verluste ausgleichen, vorausgesetzt die risikoreiche Niedrigpreisstrategie bringt tatsächlich neue Marktanteile. Russland blieben hingegen nur das Aufzehren seines Wohlfahrtsfonds und weitere Sparmaßnahmen. Keiner der beiden Staaten kann eine Stabilisierung des Ölpreises im Alleingang herbeiführen. Denkbar ist deshalb durchaus, dass Russland und Saudi-Arabien ihr Interesse an gemeinsamen Förderkürzungen wiederentdecken. Insbesondere die russische Seite hat in den vergangenen Tagen betont, dass der Gesprächsfaden zwischen Moskau und der OPEC noch nicht zerrissen sei. Allerdings würde sich die saudische Staatsführung mit einer Rückkehr zum Status quo ante wesentlich schwerer tun. Zu hoch sind bereits die Kosten, die durch die Eskalation in Form eines Vertrauensverlusts bei potenziellen Investoren von Saudi Aramco entstanden sind. Zudem wäre Kronprinz Bin Salmans Image als durchsetzungsstarker Machtpolitiker massiv beschädigt.
Unabhängig vom Ausgang des Kräftemessens am Ölmarkt sind die Kollateralschäden gewaltig. Sie treffen auch andere Ölstaaten mit höheren Förderkosten wie Venezuela, Angola und Nigeria. Der OPEC bleibt angesichts der Konkurrenz der drei Weltmarktführer USA, Russland und Saudi-Arabien nur mehr eine Statistenrolle. Darüber hinaus werden multinationale Ölkonzerne ihre Investitionen zurückfahren. Das trifft dann nicht nur die Ölförderung, in die ohnehin bereits nur zurückhaltend investiert wurde. Dem Energiesektor insgesamt werden Finanzmittel zur Umsetzung der Energietransformation fehlen.
Dr. Janis Kluge ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien, Dr. Stephan Roll ist Leiter der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika und Dr. Kirsten Westphal ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen.
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doi: 10.18449/2020A20