Die Arbeitsgruppe Sicherheits- und Verteidigungspolitik der SPD-Bundestagsfraktion hat Mitte Februar eine eigene Streitmacht für die Europäische Union (EU) ins Gespräch gebracht. Diese Vision, für die EU eine gemeinsame Verteidigung in Form einer 28. Armee aufzubauen, wird seit längerem diskutiert. Allerdings bleibt sie oftmals sehr vage, was die politischen und militärischen Voraussetzungen, die Konzeption und die Fähigkeiten der 28. Armee betrifft. Laut dem aktuellen Vorschlag soll sie über eine Truppenstärke von 1500 Soldaten verfügen und der EU-Kommission unterstellt sein. Doch welche politischen Voraussetzungen und konzeptionellen Grundlagen müssten erfüllt sein, um eine supranationale europäische Armee ins Leben zu rufen?
Der Vorschlag aus der SPD-Arbeitsgruppe skizziert, wie eine europäische Armee bzw. Streitmacht aussehen könnte: Circa 1500 Soldaten umfassend, soll sie in Brigadestärke zur schnellen Krisenintervention eingesetzt werden. Die Verfügungsgewalt soll bei einem Verteidigungskommissar liegen, dessen Amt neu geschaffen werden müsste. Er müsste die Einsatzentscheidung mit den Mitgliedstaaten abstimmen und sie einem ebenfalls zu schaffenden Ausschuss des Europäischen Parlaments (EP) vorlegen. Da dieses Kräftedispositiv parallel zu den nationalen Armeen aufgebaut werden soll, würden die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigt. Als Grundlage für die Aufstellung könnte Artikel 42 Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) dienen, der eine einstimmige Entscheidung des Europäischen Rates und die Ratifikation in allen Mitgliedstaaten zur Bedingung machen würde. Voraussetzung sei zudem die Erarbeitung einer Sicherheitsdoktrin für Einsätze in Form eines EU-Weißbuches, die die Zusammensetzung des Personals, Führungsstrukturen, Ausbildung und Sprache festlegt. Militärisch geführt werden soll die europäische Armee durch einen Inspekteur und sein Führungskommando.
Konzeptionelle Grundlagen und Ausrichtung einer 28. Armee
Die Möglichkeit einer gemeinsamen und vergemeinschafteten Streitmacht wurde in den bisherigen Debatten über die Aufstellung europäischer Streitkräfte am wenigsten berücksichtigt. Grund ist die Vorstellung, dass EU-Institutionen über Leben und Tod entscheiden würden; dies stößt auf Kritik. Als Erstes wären einige politisch und rechtlich komplexe Fragen zu klären, zum Beispiel auf welcher vertraglichen Grundlage eine eigene Streitmacht der EU geschaffen würde. Soll sie als Teil der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) unter dem Dach der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) verortet werden oder soll doch eine Vertragsänderung erfolgen und so ein gänzlich neues Kapitel europäischer Verteidigung aufgeschlagen werden? Wie wären die Unterstellungsverhältnisse und, daraus resultierend, die Entscheidungskompetenzen zu gestalten?
Einen sicherheitspolitischen Mehrwert hätte eine EU-Armee, wenn sie vorrangig als Interventionsstreitmacht konzipiert würde, die, schnell verlegbar und durchhaltefähig, als Kraft der ersten Stunde eingesetzt werden kann. Daher ist es wichtig, wo Befehls- und Kommandogewalt angesiedelt sind und welche Mechanismen bei einer Einsatzentscheidung greifen. Würden alle 27 Mitgliedstaaten nach dem Einstimmigkeitsprinzip über den Einsatz entscheiden, bestünde kein wirklicher Mehrwert gegenüber den EU-Battlegroups; diese sind trotz ihrer militärischen Einsatzbereitschaft noch nie zum Einsatz gekommen.
Die derzeitige Praxis der Ad-hoc-Unterstellungen von GSVP-Missionen durch Beschluss des Europäischen Rates wäre für eine EU-Armee nicht zielführend. Die politische Kontrolle und strategische Leitung von GSVP-Missionen liegt beim Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK), wobei dieses die Empfehlungen des EU-Militärausschusses (EUMC) berücksichtigt. Für eine EU-Armee sollten diese Mechanismen verändert werden mit dem Ziel einer einheitlichen und bruchfreien Befehls- und Kommandogewalt aus einer Hand. Dieser Oberbefehlshaber sollte über ein permanentes EU-Hauptquartier für die militärische Führung verfügen, das aus dem EU-Militärstab (EUMS) und des zu ihm gehörenden Militärischen Planungs- und Durchführungsstabs (MPCC) besteht und den Befehlshaber einer Operation stellen könnte.
Außerdem ergäbe sich die Frage nach einer Mitwirkung der Legislative, das heißt des EP, an der Entsendung der Streitkräfte. Zwar kann in den meisten europäischen Staaten das Parlament in der einen oder anderen Form über Auslandseinsätze der Streitkräfte mitentscheiden, aber diese parlamentarischen Rechte sind sehr unterschiedlich ausgestaltet. Der Deutsche Bundestag genießt im Vergleich zu anderen europäischen Parlamenten ausgesprochen starke Mitbestimmungsrechte. Ein einheitliches Verständnis von Parlamentsbeteiligung ist also nicht gegeben. Wenn die deutsche Politik an dem nach deutschem Verständnis unantastbaren Parlamentsvorbehalt festhält, würden die Verhandlungen über eine gemeinsame Armee vermutlich scheitern.
In der Gründungsphase wäre demnach vor allem konzeptionelle Grundlagenarbeit zu leisten. Den Umfang und die Strukturen einer Armee ex ante festzulegen ist nicht sinnvoll. Daher würde sich eine sorgfältige Analyse empfehlen, wie die EU-Streitmacht ausgerichtet werden sollte. Dies beginnt bei der EU Global Strategy (EUGS), in die die Armee konkret einzubetten wäre. Der Einsatz der eigenen Armee sollte in der EUGS klar mit den Interessen und Prioritäten der EU verknüpft werden. Unterhalb der EUGS wäre eine neue EU-Militärstrategie als konzeptionelles Dachdokument zu erarbeiten, das die sicherheitspolitische Rolle der Streitkräfte beschreibt und genaue Vorgaben zu deren Auftrag enthält.
Die Basis für die EU-Militärstrategie könnten weiterhin die Petersberger Aufgaben bilden, die es in messbare Zielvorgaben umzusetzen gilt. Der sich daraus ergebende Level of Ambition bestimmt Ausrichtung und Strukturen der Streitmacht. Eine EU-Armee in erster Linie für Einsätze des internationalen Krisenmanagements vorzusehen, scheint vernünftig. Aus den möglichst präzise und messbar zu formulierenden Aufträgen entsteht ein Anforderungskatalog, der sich in ein Fähigkeitsprofil überführen lässt. Schließlich ergeben sich aus solchen grundsätzlichen Überlegungen Umfang und Ausrüstung der Streitkräfte. Darüber hinaus müssten fortbestehende Abhängigkeiten von den Armeen der Mitgliedstaaten operationalisiert werden, da davon auszugehen ist, dass sich einige Schlüsselfähigkeiten der EU-Armee in absehbarer Zeit nicht durchhaltefähig aufstellen ließen.
Eine 28. Armee aufzubauen wäre eine Grundsatzentscheidung. Ihr würden in jedem Fall zahlreiche Detailfragen folgen, dessen müssen sich alle Akteure bewusst sein. Zum Beispiel wäre ein hohes Maß an Bereitschaft gefordert, nationale militärische Vorstellungen zugunsten des Integrationsprojektes einer vergemeinschafteten Armee aufzugeben. Es müsste politisch entschieden und vertreten werden, welche Gestaltungsprinzipien man auf supranationaler Ebene bereit ist fallenzulassen, selbst wenn man sie auf nationaler Ebene weiter für elementar hält. Gäbe es beispielsweise für Deutschland eine rote Linie mit Blick auf die sanitätsdienstliche Versorgung? Der deutsche Standard ist gerade hier im weltweiten Vergleich sehr hoch. Wie lautete die deutsche Position beim sensiblen Thema Menschenführung? Das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform ist in Deutschland aus gutem Grund sakrosankt. Anderen europäischen Staaten dürfte die Übernahme dieser Führungsphilosophie dennoch schwer zu vermitteln sein.
Aufbau einer 28. Armee
Neben den politischen Rahmenbedingungen einer 28. Armee der EU müsste geklärt werden, wie ein solches Vorhaben praktisch-militärisch umgesetzt werden könnte. Eine mit 1500 Soldaten aufzustellende Brigade ist unter militärischen Gesichtspunkten nicht realisierbar. Bei den EU-Battlegroups handelt es sich um verstärkte Kampftruppenbataillone, die samt dem dazugehörigen Unterstützungspersonal insgesamt circa 1500 Soldaten umfassen. Eine autark einsetzbare Brigade hingegen besteht aus circa 8000 Soldaten, wie die Brigade der Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) der NATO verdeutlicht.
Soll eine EU-Armee für die schnelle Krisenintervention aufgestellt werden, wären analog zum Beispiel der VJTF-Brigade vermutlich zwei verstärkte Infanterie- und zwei verstärkte Panzergrenadierbataillone zielführend. Dazu kommen je nach Zusammensetzung und Auftrag sogenannte Kampfunterstützer, etwa Artillerie- und Panzerpionierkräfte, sowie Unterstützungselemente, wie ein Aufklärungs-, ein Logistik- und ein Sanitätsbataillon. Für die Führung der Brigade sind außerdem Fernmeldekomponenten, Feldjäger, Verbindungselemente und ABC-Abwehrkräfte (atomar, biologisch und chemisch) vonnöten. Ein so aufgestellter Verband könnte, wenn er jeweils zwei seiner Kampfverbände zum Einsatz bringt, für mindestens ein Jahr durchhaltefähig sein. Dies böte der EU die Möglichkeit, schnell auf Krisensituationen in der unmittelbaren Peripherie zu reagieren, ohne auf die Mitgliedstaaten angewiesen zu sein. Damit gewönne sie Zeit, eine GSVP-Folgemission unter Beteiligung einzelner Mitglieder auszuhandeln oder den Einsatz ihrer Armee in internationale Missionen einzubinden.
Neben der Zusammensetzung der Brigade ist die Besetzung der Dienstposten von immenser Bedeutung. Alle EU-Bürger sollten sich auf die Stellen bewerben können. Man muss bedenken, dass das Angebot verfügbarer Soldaten begrenzt ist; eine einsatzfähige Armee kann nicht nur aus Rekruten bestehen. Insbesondere Führungs- und Ausbildungsaufgaben erfordern sehr erfahrene Soldaten. Ein Unteroffizier braucht je nach Werdegang zwei bis drei, ein Offizier mit Studium fünf bis sechs Jahre, bis er die Ausbildung abgeschlossen hat. Für die im Brigadestab eingesetzten Stabsoffiziere sind es mindestens dreizehn Jahre. Somit würde die neu aufzustellende EU-Armee nicht umhinkommen, Personal aus den nationalen Streitkräften der Mitgliedstaaten abzuwerben, um ihre Dienstposten zu besetzen.
Ferner müsste Folgendes festgelegt bzw. geregelt werden: die Strukturen der EU-Armee, die sich aus dem Fähigkeitsprofil ableiten, das benötigte Material, Fragen des Wehr- und Disziplinarrechts, personalrechtliche Angelegenheiten (Laufbahnrecht, Aufstiegs- und Beförderungschancen) und nicht zuletzt der Status europäischer Soldaten. Denkbar wäre, ihnen wegen ihrer Anstellung bei der EU und des besonderen Dienstverhältnisses einen europäischen Diplomatenstatus zu verleihen und ihnen für die Dauer ihrer Dienstzeit einen Diplomatenpass zu geben. Dies könnte die Identifizierung mit ihrem Dienstherrn, der EU, fördern.
Nicht nur die personelle, auch die materielle Einsatzbereitschaft müsste sichergestellt werden. Das erforderliche Material für die Truppenteile zu beschaffen dauert selbst bei marktverfügbaren Komponenten mehrere Jahre und wäre ein kostspieliges Unterfangen. Dies träfe zum Beispiel zu auf das Gepanzerte Transportkraftfahrzeug (GTK) Boxer, das aufgrund seiner Modularität einen Großteil des geschützten Transportraums der Verbände abdecken könnte.
Schließlich wäre zu klären, wie und wo die Soldaten der EU-Armee ausgebildet und wo die Truppenteile stationiert würden. Derzeit hat die EU keine europäischen Ausbildungseinrichtungen oder Kasernen. Die Soldaten der gemeinsamen Armee könnten in den entsprechenden Einrichtungen der Mitgliedstaaten ausgebildet werden – aber welche Standards würden hierbei gelten? Für die Vorgesetztenausbildung böte sich eine europäische Akademie für Unteroffiziere und Offiziere an, um einheitliche Standards zu gewährleisten. Dies ist allerdings schon auf nationaler Ebene kaum zu realisieren. Im Sinne einer guten Führbarkeit wäre es zweckmäßig, den gesamten Verband in einem Land zu stationieren, was indes unter den Mitgliedstaaten zu Diskussionen führen dürfte. Denn die Aufstellung der EU-Armee in nur einem Land kann zu größeren Abwanderungsbewegungen aus den nationalen Streitkräften dieses Landes führen oder als Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Ländern gewertet werden.
Fazit
Stehen bei der Gründung einer 28. Armee eher politische Fragen im Vordergrund, so befasst sich der organisatorische Aufbau mit der militärischen Umsetzung. Sollten sich die 27 Mitgliedstaaten auf einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates einigen, eine EU-Armee aufzustellen, hätte dies Signalwirkung für eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik. Die EU würde als eigenständige Institution gestärkt, ohne die Souveränität ihrer Mitglieder anzutasten. Der Parlamentsvorbehalt ist aus deutscher Sicht zwar wesentlich, aber kein institutioneller Selbstzweck. Mit Blick auf das Kompetenzgefüge der Union ist eine Stärkung des EP sinnvoll – ist es doch ihr einziges direkt gewähltes Organ. Erhielte es bedeutende Rechte, was Entscheidungen über Einsätze und die Budgetierung der gemeinsamen Armee anbelangt, gewönne es an Gewicht; überdies könnte die EU-Armee dadurch leichter seine Zustimmung finden.
Den Aufbau einer solchen Streitmacht sollte ein Expertengremium steuern, das der Kommission direkt untersteht, damit nationalstaatliche Interessen weitestgehend eingehegt würden. Der Personalkörper der EU-Armee sollte sich an den militärischen Notwendigkeiten für eine autarke und in gewissem Umfang durchhaltefähig agierende Brigade orientieren. Um eine erste militärische Handlungsfähigkeit der EU sicherzustellen, sollte die Brigade unter Berücksichtigung der Ausbildungskapazitäten über 8000 bis 10 000 Soldaten verfügen; dann könnte sie mindestens ein Jahr durchhaltefähig operieren. Die Experten würden jedoch nicht umhinkönnen, für die Ausbildung auf die Fähigkeiten der Mitgliedstaaten zurückzugreifen. So könnten kritische Mitgliedstaaten indirekt Einfluss auf die Ausgestaltung der europäischen Streitkraft nehmen. Dies und die Auswahl der Stationierungsorte dürften ihre Akzeptanz erhöhen, wenngleich eine europaweite Dislozierung im Sinne der Führbarkeit vermieden werden sollte.
Major i. G. Dominic Vogel und Major i. G. René Schulz sind Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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doi: 10.18449/2020A19