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Abschreckung und Verteidigung im Ostseeraum

Die Nato will ihre Vorhaben im Ostseeraum besser koordinieren – Deutschland sollte die Führungsrolle übernehmen

SWP-Aktuell 2020/A 100, 15.12.2020, 4 Seiten

doi:10.18449/2020A100

Forschungsgebiete

Infolge der Krim-Annexion haben die Alliierten auf dem Nato-Gipfel 2014 in Wales eine Refokussierung auf Bündnisverteidigung beschlossen. Im maritimen Raum wird angestrebt, die gemeinsame Alliance Maritime Posture, also das maritime Dis­positiv der Nato-Staaten, zu stärken sowie deren maritime Aktivitäten und Zusammenarbeit besser zu koordinieren. Den Vorschlägen des maritimen Kom­mandos der Nato (MARCOM) zufolge sollen zukünftige Koordinationsmodelle vor allem regional ver­ortet und damit fokussierter gestaltet werden. Aktuelle Initiativen betreffen den Schwarzmeerraum und die Ostsee. Die Deutsche Marine ist aus drei Gründen prä­desti­niert, die Kooperation zwischen Alliierten und Partnern im Ostseeraum voranzutreiben: wegen ihrer regionalen Expertise in der Ostsee und an der Nordflanke, ihrer Be­deu­tung als größte Nato-Marine im Ostseeraum, ihrer Verlässlichkeit als Truppensteller für die stehenden maritimen Einsatzverbände der Nato. Das Bekenntnis der deutschen Regierung, innerhalb der Allianz mehr Verantwortung zu übernehmen, könnte auf diese Weise wahrnehmbar mit Inhalt gefüllt werden.

Auf dem Gipfeltreffen in Wales 2014 hat sich die Nato vor­genommen, ihre maritime Aufstellung, die Alliance Mari­time Posture, zu stärken. Das MARCOM hat daraufhin ein Konzept für regio­nale Koordinierungs­aufgaben erarbeitet. Inhaltlich geht es dar­um, die Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses wieder zu erhöhen und die Maß­nahmen zur Rückversicherung der mittel- und osteuropäischen Alliierten sichtbarer und effektiver zu machen.

Der Verantwortungs- und Aktionsraum der Nato ist mehrheitlich maritim geprägt, erstreckt er sich doch von der Ostküste Amerikas bis zum Finnischen Meerbusen vor Sankt Petersburg und bis zum Schwarzen und Asowschen Meer. Der Ostseeraum sowie Europas maritime Nordflanke sind für die Sicherung essenzieller Seeverbindungs- und Kommunikationslinien zentral. Maritime Sicherheit beschränkt sich hier indes nicht auf die militärische Dimension. Wesentlich sind darüber hinaus Fragen der Energiesicherheit, des Schutzes von maritimer Infrastruktur, Häfen, Unterseekabeln, Gas­pipelines und der Fischerei, schließlich die Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Dementsprechend beab­sichtigt die Nato, geeignete Strukturen und Mechanismen zu ent­wickeln, die im Frie­den wie in Krisenzeiten eine Sicherung der Inter­essen ihrer Mitglied­staaten gewährleisten.

In einem ersten, abgestimmten Ansatz soll der Fokus auf zwei Seegebieten von besonderem Interesse liegen, dem Schwarzen Meer und der Ostsee. Dort will die Nato eine maritime Koordinierungsfunktion etablieren. Dabei sollen die Alliierten und eventuelle Partnernationen vor­rangig regional vorhan­dene Exper­tise nutzen, außerdem nationale Fähigkeiten wie von der Allianz vorgesehen bündeln, sie enger und direkt vor Ort koordinieren. Der An­spruch ist, dass solch eine regio­nal ver­ortete Koordination maritimer Fähigkeiten die Einsatz­bereitschaft verbessert und die regionale Synchronisation von Fähigkeiten fördert. Auf diese Weise wird auch die Weiter­entwicklung und Verfügbarkeit der Nato-Reaktionskräfte unterstützt.

Bestandsaufnahmen der verschiedenen Kooperationsmodelle, die im Ostseeraum in den vergangenen Jahren anzutreffen waren, haben wiederholt gezeigt, dass zum einen die Kooperationsformen sehr unter­schiedlich sind. Zum anderen konnte die Zusammenarbeit oftmals keine spür­baren Erfolge im Sinne der alliierten Abschreckungs- und Verteidigungsbemühungen vorweisen. Gründe hierfür sind hauptsächlich die unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen der einzelnen Nationen, ihre sicher­heitspoli­tischen Inter­essen, Fähig­keiten und insbesondere Res­sourcen. Daher haben sich die Alliierten in der Vergangenheit oft für bilaterale (etwa USA und Litauen bzw. USA und Polen) oder kleinere multilaterale Kooperationsformate entschieden. Zu diesen gehören auch aktu­elle Koope­rationen im Bereich der mari­timen Sicher­heit, unter anderem die von Groß­britannien geführte Joint Expedition­ary Force (JEF), die Sea Sur­veillance Co-Opera­tion Baltic Sea (SUCBAS), einzelne Elemente des durch Deutschland initiierten Framework Nations Concept (FNC) oder die Nordic Defence Cooperation (NORDEFCO).

Strukturelle Adaptionen und maritime Koordination

Das Bestreben der Nato, die Koordinierung ihrer Aktivitäten zu verbessern, spiegelt sich in ihrer Kommandostruktur wider. Auf ihrem Gipfel 2016 in Warschau hat sie eine generelle An­passung ihrer Kommando- und Streitkräftestruktur auf den Weg gebracht, die der­zeit noch nicht abgeschlossen ist.

Entlang der östlichen Außengrenze der Allianz wird versucht, teilstreitkraft­übergreifend Aktivitäten fokussiert und regional zu koordi­nieren mithilfe von Elementen der Nato-Streitkräftestruktur und nationalen Beiträgen. Bekannte Beispiele dafür sind die Aufstellung der Nato Force Integration Units (NFIUs), der multinationalen Divisio­nen und der Verbände der en­hanced Forward Presence (eFP) sowie die Aus­weitung des Auftrags des Multinationalen Korps Nordost als regionales High Readi­ness Force Haupt­quartier für Heereskräfte.

Nach der Annexion der Krim 2014 und den zunehmenden Spannungen mit Russ­land im Schwarzen Meer hat die Nato 2017 bei HQ MARCOM ein Centre for Maritime Coordination in the Black Sea Region ein­gerichtet. Ziel war, ein umfassenderes Lage­bild zu erstellen und Nato-Aktivitäten in der Region zu koordinieren. Während Rumä­nien von Anfang an eine engere Ko­ope­ra­tion oder sogar Koordination der mari­timen An­teile der Allianz im Schwarzen Meer un­ter­stützt hat, war Bul­gariens Position wider­sprüch­lich. Die Türkei lehnte die Idee gene­rell ab, da sie ihre nationalen Interessen be­ein­träch­tigt sah und befürchtete, dass der Zugang und die Präsenz frem­der bzw. nicht regio­na­ler Kriegsschiffe im Schwarzen Meer die Vor­gaben der Montreux-Konvention unter­wandern würden, in denen eine weit­rei­chen­de Kon­trolle durch die Türkei ver­ankert ist. Wegen dieser uneinheitlichen Stand­punkte der Anrainerländer konnte diese Koordi­na­tions­funktion im Schwarzen Meer bis­her kaum ausgestal­tet werden; sie ist in Grund­zügen bei HQ MARCOM ver­blie­ben und nicht wahrnehmbar in Erscheinung getreten.

Nun will die Nato analog dazu auch im Ostseeraum eine Koordinierungsfunktion vorantreiben, wie sie ins­besondere die bal­tischen Staaten gefordert haben. Alle Nato-Ostseeanrainer stehen dem Vorhaben offen und unterstützend gegenüber. Deutschland und Polen haben bereits angeboten, diese Baltic Maritime Coordination Function zu übernehmen. Zurzeit werden diese Vor­schläge geprüft; entscheiden wird darüber voraussichtlich im ersten Halbjahr 2021 das wichtigste politische Gremium der Nato, der Nordatlantikrat.

Der ausge­wählte Anwärter soll von den jeweiligen nationalen maritimen Hauptquartieren aus seine national vorhandenen Fähigkeiten für die Koordinierung einbringen. Seine Hauptaufgabe ist, die existierenden oder zu leistenden Beiträge der anderen Alliierten sowie ggf. der Partnernationen im Ostseeraum (wie Schweden und Finn­land) zu bündeln und den entsprechenden Nato-Hauptquartieren direkt zu kommu­nizieren. Indem die maritimen Aktivi­täten der Alli­ierten und Partner in der Region mithilfe eines solchen koordinativen Rah­mens besser abgestimmt werden, soll die Bereit­schaft der Nato-Kräfte maßgeblich gestärkt und ein spürbarer Beitrag zu den Maßnahmen der Abschreckung geleistet werden. Beides dient gleichermaßen der Rückversicherung der östlichen Bündnispartner. Die inhaltlichen Ziele lauten: an der Lagebild-Erstellung konkret mit­wirken, eine mög­liche Verteidigungs­planung unterstützen, zum teilstreitkraft­über­greifenden Agieren befähigen sowie die Bereitschaft alliierter Kräfte erhöhen.

Maritime Ambitionen Polens

Polen hat in den vergangenen Jahren bei verteidigungspolitischen wie militärischen Kooperationen klare Zeichen gesetzt. Nament­lich die polnischen Landstreitkräfte haben sich deutlich entwickelt und in die Allianz eingebracht. Im maritimen Bereich ist hingegen nicht viel geschehen, daher kommt das polnische Angebot für viele Be­obachter überraschend. Die polnische Marine hat großes Interesse daran, sich nach innen und außen gut zu vermarkten, sich als sichtbarer maritimer Akteur und engagierter Alliierter zu präsentieren. Damit möchte sie einen lange überfälligen Modernisierungsprozess auch konzeptionell begründen. Dennoch erscheint der Wunsch, die Koordinationsfunktion zu übernehmen, angesichts der bestehenden Fähigkeitslage als ambitioniert.

Seit der Veröffentlichung des polnischen Strategischen Konzepts für Maritime Sicher­heit im Jahr 2017 und dem darin fest­ge­stell­ten Reform- und Modernisierungs­bedarf hat sich nicht viel geändert. Zwar gab es erste Anpassungen der eigenen Kommando­struktur, die nationale maritime Opera­tionszentrale wurde umstrukturiert, ein nationaler polnischer Einsatzstab auf­ge­stellt – jedoch sind die eingeforderten Platt­formen, Schiffe und Fähigkeiten bisher nicht in konkrete Projekte umgesetzt wor­den. Die nationalen Interessen und die demgemäß formulierten Prioritäten liegen jenseits der maritimen Domäne und der Seestreitkräfte. Die eher kontinentale Aus­rich­tung des polnischen Militärs hat vor allem konzeptionell und fiskalisch Vorrang.

Vor diesem Hintergrund und angesichts absehbarer Einschnitte für die nationalen Verteidigungshaushalte infolge der Covid‑19-Pandemie werden die Ziele erst später als geplant realisiert werden können. Die der­zeitigen Fähigkeiten der polni­schen Marine werden nicht ausreichen, um allein natio­nal alle mit der Koordinierungsfunk­tion verbundenen Aufgaben zu erfüllen.

Die Kunst des Möglichen – eine Option deutschen Handelns

Die Deutsche Marine ist personell mit etwa 16 400 Soldaten mehr als doppelt so groß wie ihr polnisches Pendant. Ähnlich ist das Verhältnis mit Blick auf die schwimmenden Einheiten und Plattformen. Seit jeher ist sie sowohl konzeptionell wie auch praktisch eng in die Nato und ihre maritimen Struk­turen eingebunden, ihre Führungselemente sind entsprechend auf­gestellt und ausgerichtet. Gleichzeitig ist sie ein konstanter Bereitsteller von Truppen und Schiffen für Nato-Verbände, ‑Übungen und ‑Operatio­nen. Damit sind ihr Fokus, ihre traditionelle Nato-Einbindung und ihr Einsatzraum brei­ter angelegt bzw. größer als der aktuell eher regio­nal beschränkte Schwerpunkt der pol­nischen Marine. Die Führungsstrukturen der Deutschen Marine, das Marinekomman­do in Rostock mit seinem örtlich ausgelagerten maritimen Operationszentrum, ver­fügen, wenn auch begrenzt, über bestehende und bewährte Ver­fahren zur Anbindung an die Nato. Innerhalb dieses täglich rund um die Uhr tätigen Opera­tionszentrums gibt es bereits Elemente, die im Auftrag der Alli­anz einzelne Verantwortlichkeiten und Führungsfunktionen wahrnehmen.

Mit der Aufstellung des Stabes DEU MARFOR als Kernzelle eines künftigen Baltic Maritime Component Command (BMCC) hat die Deutsche Marine ein weiteres Füh­rungselement etabliert, das ebenfalls der Nato, der Europäischen Union oder den Vereinten Nationen zur Verfügung stehen soll. Die dafür benötigte Infrastruktur soll 2021 in die Nutzung übergehen. Diese vor­handenen Strukturen können bereits eine große Anzahl möglicher Aufgaben der Koordinationsfunktion im Ostseeraum natio­nal abdecken. Gleichwohl wäre in der Praxis die Unterstützung der anderen Alli­ierten gefragt; Informationen und Erfahrungen aus einzelnen existierenden regio­nalen Kooperationsmodellen würden ebenso einfließen müssen wie bisherige Beiträge auf nationaler Ebene.

Unabhängig davon, ob die Deutsche Marine die Koordinationsfunktion ausüben wird oder nicht, bleibt der Kern der Heraus­forderung für die Bundeswehr aktuell: nämlich die Grundlagen dafür zu schaffen, dass die laufenden bi- und multilateralen Kooperationen zusammengeführt und wirksam genutzt werden. Dabei geht es in erster Linie um Inter­operabilität in tech­nischer Hin­sicht. Von funda­mentaler Bedeu­tung ist zum Beispiel die Nutzung eines ge­mein­samen Netzwerks zum Austausch von Informationen und Lagebildern, auch ein­gestufter – sofern die beteiligten Natio­nen dies wollen –, mit direktem An­schluss zur Nato. Dazu bedarf es keiner weiteren Groß­projekte, wohl aber muss das Bundesministerium der Verteidigung be­grenzte Res­sour­cen bereitstellen, um eine solche not­wen­dige Befähigung zu gewährleisten. Nicht nur die Marine würde davon profitieren, wenn inner­halb der Nato Inter­operabilität er­reicht würde, sondern die gesamte Bundes­wehr. Auch mit Blick auf den im Weißbuch 2016 verankerten Fokus auf Landes- und Bündnisverteidigung und die Einsatzfähigkeit der schnellen Eingreiftruppe der Nato (VJTF) wäre dies ein Fortschritt.

Würde Deutschland mit dieser Koordi­nationsfunktion betraut, würde dies zweier­lei bewirken: Das wiederholt geäußerte Bekennt­nis, im Bündnis mehr Verantwortung zu über­neh­men und stärker zur Lastenteilung beizu­tragen, könnte mit Inhalt gefüllt werden. Gleich­zeitig würden die außenpolitischen Ziele Deutschlands konsequent weiterverfolgt.

Polens Angebot, diese Funktion einzunehmen, ist ambi­tioniert, insbesondere vor dem Hintergrund der Schieflage von An­spruch und tatsächlich eingeleiteten Projek­ten. Die Entscheidung zwischen den beiden Ange­bo­ten birgt die Gefahr, dass sich im Nord­atlantik­rat eine für beide Seiten unge­wollte Konkurrenzsituation ergibt. Die Kohäsion der Allianz ist der­zeit eines der wichtigsten Themen auf der Nato-Agenda. Vor allem sollte verhindert werden, dass im Vorfeld der politischen Entscheidung des Nord­atlantikrats Konflikte entstehen. Zu diesem Zweck sollte ein gemeinsamer Kom­promiss erarbeitet werden. Der pol­nischen Marine sollte ermöglicht wer­den, sich wahr­nehmbar, im Sinne ihrer eigenen Interessen, zu beteiligen, etwa indem gemein­same perso­nelle Ressourcen in eine aufzustellende Steuerungsstruktur einge­bracht werden. Entsprechende deutsch-polnische Erklärungen zur Zusammenarbeit im maritimen Bereich liegen schon seit längerem vor – allein ihre Umsetzung ist bislang in weiten Teilen hinter den nieder­geschriebenen Ambitionen zurückgeblieben.

Göran Swistek ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364