Direkt zum Seiteninhalt springen

WTO-Streitschlichtung: Auswege aus der Krise

Drei Optionen für die EU, mit der US-Blockade umzugehen

SWP-Aktuell 2020/A 01, 10.01.2020, 8 Seiten

doi:10.18449/2020A01

Forschungsgebiete

Die Welthandelsorganisation (WTO) befindet sich in der größten Krise seit ihrer Gründung im Jahr 1995. Seit dem 10. Dezember 2019 ist die Berufungskammer der WTO nur noch mit einem Richter besetzt. Um Streitfälle zu schlichten, sind mindestens drei Richter nötig. Die Vereinigten Staaten blockieren jedoch die Ernennung neuer Juristinnen und Juristen für die Kammer; zudem verwehrt die US-Regierung der WTO sämtliche Zahlungen für die Finanzierung des Berufungs­gremiums. Damit ist es faktisch lahmgelegt. Was auf den ersten Blick wie eine reine Verfahrens­frage aussieht, könnte die inter­nationalen Handelsbeziehungen erheblich stören und letztlich zur Auflösung der bestehenden Welthandelsordnung führen. Die EU und gleichgesinnte Partner haben drei Optionen, die Blockade der WTO-Streitschlichtung aufzulösen: Erstens könnten sie abwarten und versuchen, mit der Trump-Regierung weiter über eine von Washington geforderte umfassende WTO-Reform zu verhandeln. Zweitens könnte die EU als Zwischenlösung einen alter­nativen Mechanismus zur Schlichtung von Streitfällen innerhalb der WTO anstreben, im besten Fall über eine plurilaterale Vereinbarung zwischen möglichst vielen WTO-Mitgliedstaaten. Drittens ist die Suche nach einer Streitbeilegung außerhalb der WTO denkbar. Jede dieser Optionen könnte scheitern, vor allem weil unklar ist, welche Verhandlungsziele die Trump-Regierung verfolgt.

Im Juni 2017 begannen die US-Vertreter bei der WTO in Genf, die Einleitung eines Aus­wahl­verfahrens für neue Mitglieder des Berufungsgremiums der WTO zu blockieren. Die Berufungskammer ist ein ständiges Gre­mium und wird von den Mitgliedstaaten in Fällen angerufen, in denen eine Partei Ein­wände gegen eine erstinstanzliche Ent­schei­dung des Dispute Settlement Body erhebt. Die Entscheidungen der zweiten Instanz sind abschließend und verbindlich. Seit 2017 endeten die Amtszeiten dreier Mit­glieder des Berufungsgremiums turnus­mäßig nacheinander, ein weiteres Mitglied trat zurück, während die USA die Er­nennung neuer Mitglieder ver­hinderten. Damit standen der Berufungskammer zuletzt nur noch drei ihrer üblichen sieben Richter zur Verfügung, was bereits seit Monaten ihre Funk­tionsfähigkeit beein­trächtigte. Nach den WTO-Regeln sind min­destens drei Richter erforderlich, um über­haupt in einem Verfahren tätig zu werden. Die Amts­zeiten von zwei der drei verbliebe­nen Mit­glieder sind am 10. Dezember 2019 aus­gelaufen. Seither kann die Kammer keine Berufungen mehr anhören.

Zwischen 1995 und 2014 fochten die Streit­parteien 67 Prozent aller Panelberichte an. Sollte das Berufungsgremium außer Kraft gesetzt bleiben, können einzelne WTO-Mitglieder die Annahme von Panel­entscheidungen, gegen die sie Einspruch erheben, dauerhaft blockieren, indem sie Berufungen einlegen, die nicht mehr gehört werden können. Verärgerte Streitparteien, deren Beschwerden in der Schwebe bleiben, könnten dazu übergehen, einseitige Gegen­maßnahmen gegen mutmaßliche Regel­verstöße zu ergreifen. Infolgedessen könnten Streitigkeiten, die derzeit unter den Streit­beilegungsmechanismus der WTO fallen, eine Kette von Vergeltungs­maßnahmen und viele kleinere Handelskriege auslösen.

Die WTO ruht grundsätzlich auf zwei institutionellen Säulen: Das Verhandlungsforum (Allgemeiner Rat) ermög­licht den Mitglied­staaten, Han­dels­regeln auf der Grundlage des Konsenses aller zu ändern und hinzu­zufügen. Die zweite Säule ist das Streit­beilegungssystem. Daher könnte eine an­hal­ten­de Blockade der WTO-Streitschlich­tung den Zusammenbruch der be­stehenden Welthandels­ordnung herbeiführen.

Die Krise der WTO: Ein Rückblick

In den letzten 30 Jahren sind im Welt­handels­regime viele Herausforderungen ent­standen; zu den schwierigsten gehören die Reformträgheit der WTO in Zeiten dyna­mischer Globalisierung und die Spaltung zwischen Entwicklungs- und Industrie­ländern. Die offene Ablehnung des WTO-Regimes durch die Trump-Adminis­tration, die die Blockade des Streitbeilegungs­systems hervorgerufen hat, ist unter ande­rem auf diese Probleme zurückzuführen. Ein weiterer Grund ist die Skepsis gegenüber supranationaler Gerichtsbarkeit.

Vom GATT zur WTO

In den 1990er Jahren schlossen die Mit­glieder des Allgemeinen Zoll- und Handels­abkommens (GATT, 1947) die Uruguay-Runde (1986–1994) ab, die achte erfolg­reiche Liberalisierungsrunde des inter­natio­nalen Handelssystems in Folge. Die USA unter Präsident Bill Clinton waren der ent­scheidende Treiber. Die Uruguay-Runde brachte bedeutende Änderungen und Refor­men in der Gesamtarchitektur und im Geltungsbereich des multilateralen Handels­systems. Im Gegensatz zu vielen Entwicklungsländern unter­stützten die EU, Japan und Südkorea die Agenda der Uruguay-Runde. Ein wesentliches Ziel der USA war es, den Diebstahl geistigen Eigentums durch private und staat­liche chinesische Unternehmen zu begrenzen, aber auch Patentrechte für im Ausland tätige US-Firmen (z. B. in der phar­ma­zeutischen In­dustrie und der Landwirtschaft) zu si­chern. Dies führte zum TRIPS-Abkom­men (Trade-Related Aspects of Intel­lectual Property Rights), das seit 1994 das GATT ergänzt. Ein weiterer Durchbruch war das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienst­leistungen (GATS), das die Libera­li­sierung des Dienstleistungshandels regelt.

Zwischen den USA und der EU herrschte während der Verhandlungen lange Un­einigkeit über den Agrarhandel, den Markt­zugang, über Dienst­leistungen und Anti­dumping­vorschriften, ebenso über die Schaffung einer Welt­handels­orga­nisa­tion. 1995 schließlich hat die WTO das GATT als Organisation abgelöst; sie fungiert als Dach des reformierten Systems, das das GATT (1994) sowie alle anderen seit 1947 ausge­handelten Abkommen umfasst. 1993 wurde die Uruguay-Runde abge­schlos­sen, das Ab­kommen im April 1994 von 123 Re­gie­rungen in Marrakesch, Marokko, unter­zeichnet.

Das Streitbeilegungssystem war bereits in Verhandlungen 1988 gestrafft worden, als eine neue systematische und regelmäßige Überprüfung der nationalen Politiken und Praktiken im Rahmen des Trade Policy Review Mechanism vereinbart wurde.

Vermächtnis der Uruguay-Runde

Die Uruguay-Runde brachte die sogenannte »Built-in Agenda« hervor, der zufolge nach Abschluss dieser Runde einzelne Themen weiter verhandelt werden sollten. Auch ver­änderten sich in ihrer Folge die Bezie­hun­gen zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern. Letztere wurden akti­ver und identifizierten Politikbereiche, für die sie sich engagierten; ferner wurden sie Partner in einer wachsenden Zahl von Präfe­renz­abkommen. Indien, ein Gründungs­mit­glied des GATT, war während der gesam­ten Han­delsrunde das führende Entwicklungsland. Bereits seit den 1980er Jahren stellten die Entwicklungsländer zwei Forde­rungen mit Blick auf weitere Verhandlungsrunden: Sie wollten erstens eine Rücknahme der GATT-inkonsistenten Maß­nahmen, zweitens ein Aussetzen jener Handelsmaßnahmen, die hauptsächlich die USA ver­langten. Die Ge­schwin­digkeit und der Um­fang der von den führenden Industriestaaten vorangetriebenen handelspolitischen Prioritäten kolli­dierten mit den begrenzten Kapazitäten der Entwicklungsländer, weitere neue Regeln umzusetzen. Auch deshalb formulierten die Entwicklungsländer gemeinsame Interessen.

Die Situation änderte sich erneut mit der Uruguay-Runde. Brasilien und Indien fingen an, hinter den globalen Liberalisierungstrends zurückzubleiben, für die sich andere Länder geöffnet hatten – einschließlich China, das seit 1984 Beobachter war und 1986 den Beitritt zum GATT beantragt hatte. Die fortgesetzten Ver­handlungen der »Built-in Agenda« und die von den USA unterstütz­te Erweiterung der Handelsfragen auf geistiges Eigen­tum und andere Themen stell­ten enorme Anfor­de­rungen an die meisten Entwicklungs­län­der. Die Ende 2001 einge­leitete Doha-Runde griff daher deren Forde­rungen auf, die »Built-in Agenda« von 1994 mit einer Wieder­aufnahme von Gesprächen über Land­wirt­schaft und Dienstleistungen zu­sam­menzu­führen. Wegen der Kritik der Entwicklungsländer an der Uruguay-Runde beschlossen die WTO-Minis­ter, Entwicklungs­fragen in den Mittel­punkt der Ver­handlun­gen zu stellen (Doha-Entwicklungsrunde).

Im Zuge der Doha-Entwicklungsrunde 2003 stellten 20 größere WTO-Mitglieder, die zu den Entwicklungsländern gehören (WTO G20), darunter Indien, China, Indone­sien und Mexiko, auf der WTO-Minister­konferenz in Cancún offen die Dominanz der USA und der EU in Frage. Während die EU auf die sogenannten Singapur-The­men (u. a. öffent­liches Beschaffungs­wesen, Han­dels­erleichterung, Handel und Investi­tio­nen, Handel und Wettbewerb) drängte, for­derten die USA von den Entwick­lungs­län­dern eine Senkung der Industrie­zölle als Gegen­leistung für die Senkung der Agrarzölle.

Im Sommer 2006 brachen die Gespräche ab, vor allem weil sich die USA, die EU, Indien, Brasilien, Japan und Australien nicht einigen konnten über einzelne Punkte zum Agrar­handel (z. B. Abbau von US-Sub­ventio­nen) und auf eine Senkung der Industrie­zölle nach der Schweizer Formel, einem Instru­ment zur Berechnung des Zoll­senkungs­satzes. Das Ende der Verhand­lungen illus­triert einmal mehr die ver­änderten geo­politischen Realitäten.

Seit Jahren äußern die USA immer wieder ihre Bedenken gegenüber dem multilate­ralen Handelssystem, ebenso darüber, dass aufstrebende Wirtschaftsmächte wie China und Indien für sich den Status eines Ent­wick­lungslandes in Anspruch nehmen. Über­dies haben die USA die allgemeine Un­fähigkeit der WTO kritisiert, marktver­zerrende Praktiken einzuschränken, wie Sub­ven­tionen und Dumping, Diebstahl geis­ti­gen Eigentums und erzwungenen Techno­logie­transfer, vornehmlich durch China. Die WTO-Verhandlungen über diese Fragen wurden behindert durch das Konsens­erfordernis und, wie die Trump-Adminis­tration argumentiert, durch den »justiziellen Aktionismus« des Berufungsgremiums, das die WTO-Mitglieder ermutige, Privi­legien eher durch Rechtsstreitigkeiten als durch Verhandlungen zu erlangen.

Wandel der US-Position gegenüber China

Der WTO-Beitritt Chinas am 11. Dezember 2001 wurde anfangs von beiden politischen Parteien in den Vereinig­ten Staaten mehr­heitlich begrüßt. Die Clinton-Regierung, die die Beitrittsverhandlungen geleitet hatte, und ein Großteil der US-Unternehmen er­war­teten große Vorteile durch sinkende Import­preise und damit fallende Produk­tionskosten. Darüber hinaus erhoffte sich die US-Wirtschaft hohe Gewinne aus dem Zugang zu chinesischen Dienstleistungsmärkten (Telekommunikation, Finanzen, Versicherungen). Die US-Regierung hatte den Chine­sen schon seit 1979 »normale Handelsbeziehungen« (das Äquivalent zum Meistbegünstigungsstatus der WTO) ange­bo­ten, die allerdings jährlich vom Kongress überprüft und neu genehmigt werden muss­ten. Washingtons Zustimmung zu Chinas WTO-Beitritt war also keinesfalls überstürzt.

Ein Jahrzehnt später jedoch kippte die Stimmung in den USA. Aus einer zunächst rein akademischen Debatte über das Aus­maß und die Bedeutung des »China-Schocks« für lokale Arbeits­märkte und das wirtschaft­liche Wachs­tum wurde eine hoch­politisierte De­batte über Chinas aggressive wirtschaftliche Maßnahmen.

Die US-Politik gegenüber China war in­dessen schon vor Trumps Wahl zum US-Präsi­den­ten an einem Wendepunkt ange­langt. Im September 2009 führte Präsident Barack Obama erstmals Zölle ein, um einen Anstieg der Reifenimporte aus China in die USA zu bremsen. In der offiziellen Trade Agenda von 2010 wurden außerdem chine­sische Handelspraktiken beanstandet, die US-Unternehmen schadeten, dar­unter »un­gerechtfertigte« Beschränkungen für US-Agrarexporte nach China, Be­schrän­kungen beim Erwerb von Vertriebs­rechten für ame­ri­kanische Unternehmen in China sowie chinesische Exportbeschränkungen für Roh­stoffe, die bestimmte US-Unter­nehmen für die eigene Produktion benötigen.

Zwischen 2009 und 2016 reichte der Handelsvertreter der Vereinigten Staaten (USTR) 13 WTO-Klagen gegen China ein, die alle zugunsten der USA beigelegt oder ent­schieden wurden. Des Weiteren hat die Obama-Regierung ab 2009 zahlreiche Anti­dumping- und Ausgleichszölle auf chinesi­sche Waren eingeführt. Bevor US-Präsident Trump im Frühjahr 2018 einseitige Zölle von 25 Prozent auf Stahl und 10 Prozent auf Aluminium verhängt hat, hatten die von seinem Vorgänger getroffenen Maß­nahmen bereits dazu geführt, dass nahezu gar keine direkten Stahlimporte aus China mehr auf den US-Markt gelangten. Trotz­dem wuchs während der Obama-Jahre der Unmut gegenüber der WTO-Streit­schlich­tung. An­lass boten mehrere weg­weisende Entscheidungen der WTO-Beru­fungs­kammer da­gegen, dass die USA Schutz­maßnahmen (trade remedies) einsetzten.

So erklärte die Berufungskammer das »Zeroing« für unzulässig, eine Methode zur Berechnung der Dumping­spannen für Ein­fuhren, die als Grundlage für Einfuhrzölle heran­gezogen werden. Auch die gleich­zeitige Einführung von Antidumping- und Aus­gleichs­maßnahmen gegenüber chine­sischen Importen (double remedy) wurde als unzulässig beschieden. Die Obama-Regie­rung wertete dies als Beleg für den von ihr beklagten »justiziellen Aktio­nis­mus« der Berufungskammer, der zu Lasten der US-Wirtschaft gehe. Darüber hinaus bekräf­tigte die US-Handelsbehörde in den letzten Jahren wiederholt ihre Unzufriedenheit dar­über, dass die bestehenden WTO-Regeln un­zureichend seien, um China wegen Ver­let­zungen der Rechte an geis­tigem Eigen­tum vor Gericht zu bringen.

Dennoch: Donald Trump ist der erste US-Präsident, der China außerhalb des WTO-Rahmens herausfordert. Trump untergräbt die multi­laterale Organisation, indem er ohne jede Abstimmung mit anderen Handels­partnern und allein auf der Basis nationalen Rechts US-Zölle auf chinesische Importe einführt und andere nichthandelsbezogene Maß­nahmen ergreift.

Blockade der Berufungskammer

2016 blockierte die Obama-Regierung über einen Zeitraum von sechs Monaten die Neubesetzung eines Richterpostens der Berufungskammer, um ihrer Unzufriedenheit mit vorausgehenden Ent­scheidungen eines Mitglieds des Gremiums Ausdruck zu verleihen. Die EU kritisierte diesen Schritt als »beispiellos« und sah im Verhalten der USA eine ernste Bedrohung für die Un­abhängigkeit und Unparteilichkeit der Beru­fungskammer. Andere Mitglieder teil­ten die Kritik der EU.

Die Trump-Administration begründet ihre ein­seitige Blockade von Neubeset­zungen des Berufungsgremiums seit 2017 in erster Linie damit, dass sich trotz lang­jähriger US-Kritik am Fehlverhalten des Gremi­ums nichts ändere. Konkret er­heben die USA den Vorwurf, dass die Berufungskammer die von den WTO-Mit­gliedern ver­einbarten Regeln missachte und die Rechte und Pflichten der Mitglied­staaten teils erweitere, teils beschneide. Insbesondere beklagen die USA, die Aus­legung der WTO-Regeln für Subventionen, Antidumping- und Ausgleichszölle schränke die Fähig­keit der USA und anderer Länder ein, sich gegen unfaire und handelsverzerrende Wirtschafts­praktiken bestimmter Länder zu wehren.

Im Kern kritisieren die USA an der WTO-Streitschlichtung, dass die Berufungskammer zunehmend in nationale Angelegenheiten eingreife und damit die Souveränität der USA verletze. Verfahrensbedenken, wie die Missachtung der 90-Tage-Frist für die Be­rich­te des Beru­fungsgremiums und die gelegentliche Fort­setzung der Tätigkeit der Richter über den Ablauf ihrer Amtszeit hin­aus, ohne ausdrückliche Zustimmung der WTO-Mit­glieder, werden oft verbunden mit Kritik an einer als zu weitreichend emp­fundenen Einschränkung der Souveränität. Beispielsweise ist die Miss­achtung der Be­richts­frist nach Ansicht der USA proble­ma­tisch, weil sie die rasche Beilegung von Streit­fällen behindere. Außerdem nutze das Beru­fungsgremium die ausgedehnte Frist häufig dazu, den Anwen­dungsbereich seiner Berichte auszuweiten, statt sich nur auf die Fragen der Beschwerde zu konzentrieren.

Unsicherheit über US‑Verhandlungsziele

Seit dem Beginn der US-Blockade der Beru­fungskammer im Juni 2017 erarbeiteten die EU und weitere WTO-Mitglied­staaten zwei weitreichende Reformvorhaben, um auf US‑Kritik gegenüber der Zweitinstanz sowie an der WTO im Allgemeinen zu re­agie­ren und Washington zu einem Ein­lenken zu bewe­gen. Informationen dar­über, welche Punkte aus US-Sicht besonders kri­tisch sind, ent­nah­men die Handelsexperten im Wesent­lichen der Trade Agenda von 2018, einem offi­ziellen Strategiedokument des Weißen Hauses, und den Äuße­rungen des US-Ver­treters bei der WTO. Von den Reform­vor­schlägen zeigte sich die Trump-Regie­rung jedoch weitgehend unbe­eindruckt. Auf der Tagung des Allgemeinen Rats der WTO am 12. Dezember 2018 argu­mentier­ten die USA, dass die Vorschläge ihre Be­denken zwar in gewissem Maße anerkennten. Die vorgebrachten Regel­änderungen würden die Probleme aber verschärfen, weil sie die Unabhängigkeit der Beru­fungs­kammer noch ­stär­ken und damit weiteren »justi­ziellen Akti­onismus« fördern würden. Zwar haben sich die WTO-Mit­glieder dar­auf geeinigt, auch künftig über denkbare Re­formen zu sprechen. Die US-Regierung ging aller­dings bis zuletzt nicht auf Vorschläge der Ver­hand­lungsgruppe ein und setzt statt­dessen ihre Blockade der Berufungskammer fort.

Die nun eingetretene Pattsituation bei der Ernennung neuer Mitglieder des Beru­fungsgremiums dürfte sich noch über Mona­te, wenn nicht Jahre, hinziehen. US-Vertreter bei der WTO weigern sich, eigene Reformideen für das Gremium vorzulegen. Gleichzeitig hat der US-Handels­beauftragte Robert Lighthizer die Blockade von Er­nennungen im Beru­fungs­gremium als den »einzigen Hebel« der USA bezeichnet, um eine umfas­sende Reform der WTO voran­zutreiben. Da die Trump-Regierung keine konkre­ten Vor­schläge für das Gremi­um prä­sentiert, ist es für alle anderen WTO-Mit­glieder schwierig festzustellen, was not­wendig wäre, um die USA für eine erneute Koope­ration zu gewinnen. Ein völliger Zusammenbruch der WTO wäre indes auch nicht im Inter­esse der USA. Lighthizer selbst gab zu, dass sie ohne die WTO und ihr Regelwerk deutlich schlechter dastünden.

Rettung der Streit­schlich­tung, Reform der WTO-Regeln

Die EU und andere WTO-Mitglieder müssen sich auf eine Fortsetzung der Blockade des Berufungsgremiums durch die USA vor­bereiten. Angesichts dieser Situation gibt es grundsätzlich drei Optionen.

Option 1: Abwarten und weiter über WTO-Reformen verhandeln

Die EU und ihre gleichgesinnten Handelspartner könnten den derzeitigen Stillstand der Berufungskammer akzeptieren, aber weiterhin versuchen, mit der Trump-Ad­minis­tration über die Reform des Beru­fungs­gremiums zu verhandeln. Kurz vor dem Ausscheiden der beiden Richter am 10. Dezem­ber hat eine große Gruppe von Mitgliedsländern den USA einen Reform­vorschlag unterbreitet – bisher lehnen sie ihn jedoch ab. Er zöge umfas­sende Ände­rungen der Regeln für die Streit­beilegung nach sich und würde seit Langem aufgestellte Forde­rungen der USA berücksich­tigen. Darüber hinaus diskutieren Juris­tinnen und Juristen seit einiger Zeit unter anderem darüber, die Streitbeilegungs­funktion der WTO enger an ihr anderes Standbein, also an den Allge­meinen Rat, zu koppeln. Findet eine be­stimmte Aus­legung der WTO-Regeln durch das Berufungs­gremium keinen Kon­sens, könnte der Vor­gang an einen Fachausschuss verwiesen werden, der die Frage weiter behan­delt. Abschließend könnte der All­gemeine Rat einen end­gültigen Beschluss fassen, der auf einer Dreiviertelmehrheit aller Mitgliedstaaten beruht (legislative remand).

Alternativ dazu könnten sich die WTO-Mit­gliedstaaten darauf einigen, die um­strittens­ten Entscheidungen des Berufungsgremiums – vor allem zu Antidumping- und Ausgleichs­maßnahmen – für eine begrenzte Zeit auszusetzen, bis ein dauer­hafter Kom­promiss mit den USA erzielt werden kann. Auch gibt es Vorschläge, die Verfahren zu Schutzmaßnahmen getrennt von anderen Fällen zu behandeln, zum Beispiel von einer spezialisierten Berufungs­kammer. Da es in 45 Prozent aller Streitfälle um Schutzmaßnahmen geht, würde die derzeitige Arbeitsbelastung der Berufungsinstanz stark sinken. Allerdings würde eine ent­sprechende Umgestaltung des Beru­fungs­gremiums eine Änderung der Streit­beilegungsvereinbarung (DSU) erfordern.

Beide oben genannten Varianten setzen einen Konsens der WTO-Mitglieder über eine grundlegende Umstrukturierung der bestehenden zweistufigen Streitschlichtung voraus. Unklar ist indes, ob die Trump-Re­gie­rung sich tatsächlich auf derartige Refor­men einlassen würde. Schließlich wäre die Zu­stim­mung Chinas zu Reformvorschlägen, die hauptsächlich den Anliegen der US-Regie­rung Rechnung tragen, keineswegs sicher.

Option 2: Alternative Streit­schlichtung innerhalb der WTO

Ein proaktiver Ansatz wäre es, wenn die EU mit anderen WTO-Mitgliedern eine Koali­tion bilden würde, um den vorhandenen zwei­stufigen Streitbeilegungsprozess auf­recht­zuerhalten, auch gegen die Ein­wände der USA. Die Mitgliedstaaten, mit Aus­nah­me der USA, könnten die Auswahl neuer Mit­glieder des Berufungsgremiums mit quali­fizierter Mehrheit im Allgemeinen Rat vorantreiben. Auf diese Weise würden die WTO-Mitglieder vom regulären Prozess abwei­chen, der eine Konsensabstimmung über das Streitbeilegungsgremium der Orga­nisation vorsieht. Sie könnten jedoch behaupten, ihren Verpflichtungen gemäß Artikel 17.2 DSU nach­zukommen: »Offene Stellen werden bei ihrer Entstehung be­setzt.« Dieser Ansatz würde eine offene Konfron­tation mit den USA bedeuten. Das könnte einige Staaten davon abhalten, sich an der Richterwahl zu beteiligen, was wieder­um die notwendige qualifizierte Mehrheit gefährden könnte.

Um den Stillstand bei den Berufungs­verfahren zu überwinden, könnten die Mitglied­staaten außerdem auf Artikel 25 der DSU zurückgreifen, der es den WTO-Mitgliedern gestattet, ein Schiedsverfahren als alter­natives Instrument der Streitbeilegung in Anspruch zu nehmen. Hierfür müsste die organisatorische Infrastruktur geschaffen werden, denn mit der Blockade der Beru­fungskammer ist ab Januar 2020 auch das Sekretariat geschlossen. Die ge­naue Verfah­rensordnung würde von den Streitparteien im Vor­feld festgelegt. Sie könnten sich darauf einigen, Berufungen zu schlich­ten, bevor ein regu­läres WTO-Verfahren in erster Instanz entschieden wird. Die Streit­schlich­tung nach Artikel 25 würde sich stark am noch geltenden WTO-Berufungs­prozess orien­tieren, etwa indem erfahrene ehema­lige Mit­glieder der Beru­fungskammer die neuen Verfahren über­nehmen. Die WTO-Regeln für die Um­setzung von Ent­scheidungen (Art. 21 DSU) und Entschädigungen (Art. 22 DSU) könn­ten weiter als Grundlage für alle Schieds­sprüche dienen.

In jüngsten bilateralen Abkommen haben sich die EU, Kanada und Norwegen ver­pflich­tet, das Schiedsverfahren nach Artikel 25 als verbindlich anzuerkennen. Da es sich bei Artikel 25 DSU um eine be­stehende Bestimmung handelt, ist für ihre Anwendung – zumindest als Zwischen­lösung – keine Konsensabstimmung nötig. Dennoch hat dieser Ansatz mehrere Nach­teile: Für kleine Staaten bedeutet bei­spiels­weise die relativ große Flexi­bilität des Artikels 25 ein Risiko. Mäch­tige WTO-Mitglieder wie China oder die EU könnten sich selbst Vorteile ver­schaf­fen, indem sie die Verfahrensregeln ein­seitig zu ihren Gunsten festlegen. Doch auch die kleineren Staaten haben die Mög­lich­keit, die Bei­legung von Streitigkeiten zu blo­ckieren, näm­lich dadurch, dass sie Beru­fung ein­legen bei der faktisch lahmgelegten WTO-Berufungs­kammer. Diese Fälle würden für die kommenden Jahre in der Schwebe bleiben. Daher ist es unsicher, ob und wie diese Lösung praktisch umsetzbar wäre.

Besser geeignet wäre eine plurilaterale Schiedsvereinbarung, die die teilnehmenden WTO-Mitgliedstaaten schon vor Beginn neuer Streitigkeiten an ein bestimmtes Schiedsverfahren bindet. Eine solche Lösung würde mehr Zeit und politisches Kapital erfordern. Zudem wäre mit hef­ti­gem politischen Gegendruck der US-Regie­rung zu rechnen, die bereits im Dezember 2019 während der Haushalts­verhand­lungen für die Jahre 2020/2021 die fi­nan­zielle Ausstattung der WTO-Berufungs­kammer blockiert und ihren völligen Rück­zug aus der Organisation angedroht hat. Ein Rück­griff auf Artikel 25 als Basis für eine schrift­liche Vereinbarung vieler Staa­ten – und damit eine zumin­dest zeitweise, faktische Abkehr vom Konsens­prinzip – könnte der Trump-Regierung als Recht­fertigung dafür dienen, die WTO zu ver­lassen.

Die Vorteile eines plurilateralen Abkom­mens gegenüber einem Schieds­ver­fahren nach Artikel 25 würden entscheidend von der Beteiligung Chinas abhängen; damit ein Abkommen ohne US-Betei­ligung an Fahrt gewinnt, müsste es China einbe­ziehen.

Option 3: Streitbeilegung außerhalb der WTO

Wenn innerhalb der WTO kein Konsens über ein weiteres Vorgehen bei der Streit­beilegung erzielt werden kann, könnte die EU auf ihre bilateralen und regionalen Freihandelsabkommen wie das Abkommen EU–Kanada (CETA) zurückgreifen. Aller­dings bieten die bestehenden bilateralen und regionalen Abkommen der EU wenig oder gar keinen Rechtsschutz in Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten, der über den Rechtsschutz der WTO hinausginge.

Aufgrund der jüngsten Abkommen mit Singapur und Vietnam sowie eines Vor­abkommens mit den MERCOSUR-Ländern wird erwartet, dass der Anteil des EU-Außen­handels, der unter bilaterale und regionale Abkommen der EU fällt, steigen wird von rund 30 Prozent (Stand 2017) auf rund 40 Prozent. Dennoch findet der Handel mit wich­tigen Partnern nach wie vor gemäß den Regeln der WTO statt, dar­unter mit den USA und China, der zusammen etwa ein Drittel des Außen­handels der EU ausmacht. Um­fassende EU-Abkommen mit beiden Ländern sind eher unwahrscheinlich, zu­min­dest in naher Zukunft.

Eine noch ehrgeizigere und politisch kost­spieligere Möglichkeit für die EU wäre es, herauszufinden, ob andere Länder sich dafür entscheiden würden, ein paral­leles Streitbeilegungssystem für Verfahren zwischen Staaten außerhalb der WTO auf­zubauen. Ein solcher Schritt könnte – vielleicht noch mehr als ein Vorstoß in Richtung eines alternativen Streitschlichtungsmechanismus innerhalb der WTO – den Ausschlag dafür geben, dass US-Präsi­dent Trump den WTO-Austritt der USA erklärt. Vor allem würde er diejenigen Akteure in den USA vor den Kopf stoßen, die die Politik der Trump-Administration gegenüber der WTO kriti­sieren und sich für die multilaterale Handels­ordnung ausgesprochen haben. Damit würden frühere Zusagen der EU weniger glaubwürdig erscheinen, sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um das Streitbeilegungs­system der WTO zu bewahren.

Ausblick

Wenn sie die WTO erhalten und reformieren will, muss die EU Hebel finden und die richtigen Anreize setzen, um sowohl die USA als auch China wieder an den Ver­hand­lungstisch zu bringen. Um die nun faktisch blockierte WTO-Berufungsinstanz zu umgehen, kann die EU kurzfristig auf Schlichtungsverfahren in ihren bestehenden Handels- und Investitionsabkommen mit anderen Staaten zurückgreifen. Eine tragfähigere Lösung wäre es, im Rahmen der WTO Schiedsverfahren nach Artikel 25 DSU anzuwenden. Im besten Fall könnte das über eine plurilaterale Vereinbarung mit einer Vielzahl von WTO-Mitglied­staaten um­gesetzt werden. Eine vorüber­gehende Lösung außerhalb der WTO wäre nur dort erstrebenswert, wo zwei Streit­parteien durch ein bilaterales oder regio­nales Handels­abkommen ver­bunden sind, das mindestens gleichwertigen Rechtsschutz wie WTO-Verfahren gewährleistet. Für jeden einzel­nen Streitfall müsste die EU zunächst ein­mal prüfen, ob ein bilaterales Abkommen vorliegt, das ein zweistufiges, bindendes Verfahren jenseits der WTO möglich macht. Ansonsten wären die Be­dingungen schlech­ter als ein Verfah­ren innerhalb der WTO. Außerdem: Macht die EU zunehmend von einer Streitbeilegung außerhalb der WTO Gebrauch, könnte ihr bisheriges Bekenntnis zu einer unab­hängi­gen, zweistufigen und bindenden WTO-Streitschlichtung an Glaub­würdigkeit verlieren.

Die EU sollte prüfen, ob sie gemeinsam mit anderen Staaten, einschließ­lich China, die Blockade der Berufungs­kammer über­winden kann. Dies wird jedoch mit Kosten verbunden sein. So könnte China früher oder später verlangen, dass die EU der Volksrepublik den WTO-Status als Marktwirtschaft zugesteht, was Brüssel bisher aus weitgehend den gleichen Gründen wie die USA abgelehnt hat – insbesondere wegen schwerer staatlicher Eingriffe in die Wirt­schaft, Subventionen, des Umgangs mit geistigem Eigentum und des erzwungenen Technologietransfers. Peking könnte auch eine Lockerung der Investitionskontrollen und einen leichteren Zugang zum EU-Binnen­markt fordern.

Bei allen diplomatischen Versuchen, mit den USA und China notwendige Reformen zu verhandeln, muss die EU-Kommission überlegen, wie sie die derzeitigen und zu­künf­tigen Kosten für die europäische Wirt­schaft begrenzt. Die EU sollte weiterhin mit anderen Handelspartnern wie Japan, Kanada, Mexiko und Indien zusammen­arbeiten – zum Beispiel indem sie lang- und kurzfristige Alternativen diskutiert und ein gemein­sames Verständnis davon entwickelt, wie man strategisch mit den schwierigen Handelspartnern China und USA umgeht.

Dr. Laura von Daniels ist Leiterin der Forschungsgruppe Amerika.

Dr. Susanne Dröge ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Globale Fragen.

Alexandra Bögner ist Studentin im Masterstudiengang Internationale Beziehungen der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Potsdam.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN 1611-6364

(Überarbeitete und ins Deutsche übersetzte Fassung von SWP Comment 46/2019)