Friedliche Demonstrationen und gewaltsame Ausschreitungen in mehreren Ländern der Region machen Schlagzeilen in den nationalen und internationalen Medien. Schnell ist vom »Aufruhr in ganz Lateinamerika« die Rede; oft werden Parallelen gezogen zu den Aufständen in der arabischen Welt, die Ende 2010 einsetzten. Übergeneralisierungen und vorschnelle Analogien lenken indes von einem differenzierten Verstehen ab. Eine Einordnung der Fälle und die Suche nach einem Ausweg aus den verschiedenen Krisen erfordern, dass nicht nur (gemeinsame) sozioökonomische Probleme, sondern auch (unterschiedliche) gesellschaftliche und politische Faktoren in die Analyse einbezogen werden. Ein systemischer Blick auf die aktuellen Konflikte, insbesondere der Vergleich zwischen Bolivien und Chile, zeigt, wie aus unterschiedlichen Gründen politische Stabilität zur Starre werden und dann explosionsartig zerbrechen kann.
Es ist Frühling auf der südlichen Erdhalbkugel und in einigen der insgesamt 33 unabhängigen Staaten Lateinamerikas und der Karibik gehen Bürgerinnen und Bürger auf die Straße. Sie demonstrieren gegen die Regierung, in einigen Städten geraten sie in gewaltsame Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften oder zwischen verfeindete Gruppierungen.
Mit Ausnahme Venezuelas handelt es sich dabei um demokratische Staaten – trotz aller Defizite und im klaren Unterschied zu den Ländern des »Arabischen Frühlings«. Jedoch sind diese Demokratien fragil: Zum einen trifft die demokratische Verfasstheit auf einen sozioökonomischen Kontext, der geprägt ist von hohen Armutsraten, extremer sozialer Ungleichheit, verbreiteter Gewalt und ausgeprägter Korruption. Diese Faktoren unterminieren die Verwirklichung des demokratischen Gleichheitspostulats bei der Wahrnehmung bzw. Ausübung ziviler und politischer Rechte.
Damit verbunden ist zum anderen die Schwäche des Rechtsstaats. Der Staat ist nicht in der Lage, die Menschenrechte effektiv zu schützen, die Sicherheitskräfte zur Deeskalation einzusetzen und sie dabei demokratisch-rechtlich zu kontrollieren.
Zyklen und Entwicklung
Zur Analyse der sozioökonomischen Faktoren hinter den gegenwärtigen Entwicklungen greifen viele Beobachtende auf eins der typischen Muster zurück, mit denen lateinamerikanische Geschichte oft gedeutet wird: die Zyklen. Phasen von Militärregimen wechseln sich ab mit demokratischen Perioden, auf Wirtschaftswachstum folgt ökonomische Stagnation und umgekehrt, Zeiten politischen Aufschwungs und institutionelle Krisen lösen einander ab. Entwicklung wird somit als Prozess aufgefasst (und erfahren), der durch Phasen des Niedergangs oder Rückschlags immer wieder unterbrochen wird. Aus dieser Perspektive bleibt Lateinamerika eine Entwicklungsregion, auch wenn immer mehr Länder den Beitritt zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) suchen und immer weniger Staaten die Kriterien erfüllen, um Mittel der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit zu erhalten.
Die meisten lateinamerikanischen Ökonomien sind verwundbar und den Windwechseln auf dem Weltmarkt in besonderem Maße ausgesetzt: Der Rohstoffboom der vergangenen Dekade gab ihnen starken Rückenwind; die aktuelle Konjunktur, gekennzeichnet durch schwaches globales Wachstum und den Handelskonflikt zwischen den USA und China, trifft sie als Gegenwind. Die nationale Wirtschaftspolitik kann mit den wachsenden Erwartungen der Bevölkerung nicht mithalten. Die »neuen Mittelschichten«, die sich im letzten Jahrzehnt herausgebildet haben, erheben Anspruch auf öffentliche Dienstleistungen besserer Qualität und sind kritisch(er) gegenüber Korruption. Darüber hinaus sehen einige die erlangte soziale Mobilität bedroht, andere erleben bereits den sozialen Abstieg. In Gestalt von Sparmaßnahmen der Regierungen (teilweise im Rahmen von Kreditvergaben) bläst ihnen ein Polarwind ins Gesicht, etwa in Argentinien, Chile und Ecuador.
Doch besteht nicht zwangsläufig eine Kausalbeziehung zwischen Wirtschaftskrise, Unzufriedenheit der Bevölkerung und sozialer Mobilisierung. Argentinien erhielt im letzten Jahr den größten Kredit in der Geschichte des Internationalen Währungsfonds (IWF), weist heute die zweithöchste Inflationsrate auf dem Subkontinent auf und befindet sich in einer ökonomischen Stagnation – trotzdem bleibt der Aufstand aus. Möglicherweise hallen die traumatischen Gewalterfahrungen der Krise von 2001 nach und der bevorstehende Machtwechsel weckt die Hoffnung auf Verbesserung.
Unzufriedenheit und Mobilisierung
Die strukturellen sozioökonomischen Probleme der lateinamerikanischen Länder und die Unzufriedenheit und Wut der Bevölkerung, die ihnen entspringt, stellen zwar den Nährboden für Protest dar. Damit eine Mobilisierung entsteht, sind aber zusätzliche, politisierende Faktoren sowie ein Auslöser (»der letzte Tropfen«) erforderlich. In Bolivien fungierten die Unregelmäßigkeiten bei der Präsidentschaftswahl am 20. Oktober als Katalysator, die Bestätigung der Wahlmanipulation durch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verschärfte die Proteste; in Chile war die Preiserhöhung für U-Bahn-Fahrkarten Anfang Oktober der Auslöser, das konfrontative framing der Situation durch Präsident Sebastián Piñera wirkte verstärkend: »Wir befinden uns im Krieg.«
Demonstrationen haben zum Ziel, einer Position oder einem Gefühl Ausdruck zu verleihen (expressive Funktion) bzw. gesellschaftlichen Druck aufzubauen, um die Handlungen politischer Akteurinnen und Akteure in eine bestimmte Richtung zu lenken (instrumentelle Funktion). Zwar sind Mobilisierungen wichtiger Bestandteil von Demokratie; Ausmaß und Intensität der Proteste in Bolivien und Chile sowie die gewaltsamen Ausschreitungen offenbaren jedoch, dass hier die repräsentative Demokratie an massiven Funktionsdefiziten leidet. Des Weiteren werden die Probleme des Rechtsstaats sichtbar, wenn in den derzeitigen Konfrontationen die Streitkräfte als rückendeckende Ordnungsmacht von Präsidenten, Zünglein an der politischen Waage oder »pazifisierender« Agent auf der Straße an Relevanz gewinnen.
Im Kontext der heftigen Proteste gegen die Wahlmanipulation kündigten die bolivianischen Streitkräfte der Regierung ihre Loyalität auf. Der Oberbefehlshaber, General Williams Kaliman, legte Präsident Evo Morales den Rücktritt nahe; sein aktuelles Mandat hätte ordnungsgemäß erst am 22. Januar 2020 geendet. Wenn ein staatlicher Akteur ein Staatsoberhaupt auf illegale Weise absetzt, handelt es sich begrifflich um einen Staatsstreich. Morales dürfte gegenüber dieser »Empfehlung« kaum eine Wahl gehabt haben; er ist am 10. November zurückgetreten. Ein Staatsstreich macht Evo Morales rückwirkend nicht demokratischer, als er während seiner Regierungszeit war; sein wiederholter Amts- und Machtmissbrauch rechtfertigt dennoch keinen Putsch. Interimspräsidentin Boliviens ist nun die oppositionelle Senatorin Jeanine Áñez. Kurz nach der Übernahme der Regierungsgeschäfte erließ sie ein Dekret, das von Menschenrechtsorganisationen stark kritisiert wurde. Es schützte Streitkräfte im Einsatz vor strafrechtlicher Verfolgung, wenn sie in Notwehr-Situationen oder bei einem Notstand im Rahmen der Verfassung agierten.
In Chile verhängte Präsident Piñera zusätzlich zu einer Ausgangssperre den Ausnahmezustand; Letzteres ist verfassungsrechtlich erforderlich, damit das Militär innerhalb der nationalen Grenzen operieren kann. Im Zuge der Ausschreitungen hat er ein Gesetzesprojekt angekündigt, das den Streitkräften erlauben soll, im Inland für den Schutz von kritischer Infrastruktur und Polizeistationen zu sorgen, ohne dass dafür der Ausnahmezustand ausgerufen werden muss. Zudem hat das chilenische Staatsoberhaupt Maßnahmen zum personellen Ausbau der Polizei (Carabineros) getroffen.
Bei der Anwendung staatlicher Gewalt wurden in Bolivien wie Chile die zentralen Prinzipien Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und abgestuftes Handeln (Gradualismus) erheblich missachtet und die Menschenrechte massiv verletzt – nicht nur »im Eifer des Gefechts«, sondern auch nach Festnahmen. Daran zeigt sich, dass die demokratische Sozialisierung und friedensfördernde Ausbildung der Streitkräfte (und der Polizei) noch ausstehen.
Hegemonie und Elitenkonsens
Bolivien und Chile waren lange stabile Demokratien. Sie ließen die scharfen, destabilisierenden Konflikte hinter sich, die charakteristisch waren für die Zeit vor dem Amtsantritt Evo Morales’ (2006) bzw. dem Militärputsch Augusto Pinochets (1973). Die Regierungen beider Länder konnten ein Wirtschaftswachstum erzielen und die Armut signifikant reduzieren. Die indigene Bevölkerungsmehrheit Boliviens erfuhr eine bedeutende politische und symbolische Inklusion.
In Bolivien bildete die Errichtung einer politischen Hegemonie die Grundlage für die Stabilität, das heißt: Die Regierungskräfte sicherten ihre Dominanz gegenüber der Opposition unter anderem dadurch, dass sie Pluralismus und Gewaltenteilung unterminierten, jedoch ohne auf direkte Formen der Repression zurückzugreifen. Präsident Morales verhinderte erfolgreich den Aufbau eines Nachfolgers oder einer Nachfolgerin an der Spitze seiner Bewegung zum Sozialismus (MAS) und sicherte sich 2019 die vierte Präsidentschaftskandidatur in Folge. Dies gelang ihm nur, weil er die in der Verfassung (2009) verankerten einschränkenden Bestimmungen für die Wiederwahl missachtete ebenso wie das Votum der Bevölkerung gegen die Einführung der zweimaligen konsekutiven Wiederwahl (Referendum 2016). Unterstützung erhielt Morales hingegen vom Obersten Gerichtshof, der die uneingeschränkte Wiederwahl zum Menschenrecht erklärte (2017), und vom Wahlgerichtshof, der ihn zur passiven Wahl zuließ (2018). Dem Machterhalt diente schließlich auch die Manipulation der diesjährigen Wahl.
Die extreme Polarisierung auf der Ebene der Eliten und in der Gesellschaft macht die Bildung einer Übergangsregierung der nationalen Einheit unmöglich. Die Interimsregierung der Opposition, deren Hauptaufgabe es ist, die Stellen in der Wahlbehörde neu zu besetzen und die Wahlen zu wiederholen, handelt stark restaurativ und revanchistisch. Auch die Anhängerschaft Morales’, die ihn als Helden feiert und als Opfer betrachtet, rächt sich gewaltsam auf den Straßen.
In Chile gewährleisteten zwei Faktoren politische Kontinuität: ein breiter überparteilicher Konsens unter den ökonomischen und politischen Eliten, was ordnungspolitische Fragen betraf, und die Scheu vor Konflikten, die Eliten und Bevölkerung gemein hatten. Beide Faktoren beeinträchtigten jedoch die Resonanzfähigkeit politischer Repräsentation gegenüber sozialen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Forderungen. Die meisten »autoritären Enklaven« der Verfassung aus dem Jahr 1980 wurden abgebaut. Die Beschränkung der institutionellen Macht (etwa das Verbot der unmittelbaren Wiederwahl) wurde respektiert. Entsprechend den wirtschaftspolitischen Leitlinien der Pinochet-Regierung blieb der Markt zentrale Instanz der Allokation von Ressourcen, auch im sozialen Bereich. Wirtschaftswachstum, Einkommensverbesserungen und zahlreiche Sozialprogramme haben die Armut stark reduziert und Chile an die Spitze des Index der menschlichen Entwicklung in Lateinamerika katapultiert. Markant sind dennoch die Ungleichheit und die Exklusionserfahrungen breiter Gesellschaftsschichten, die sich das Leben in einer »marktwirtschaftlichen Welt« nicht leisten können, die sich entweder selbst hoch verschulden müssen oder auf die schlechten öffentlichen Dienstleistungen angewiesen sind.
Den friedlichen Demonstrationen und destruktiven Ausschreitungen in Chile sind wenig sichtbare, jedoch brisante (und erforschte!) politisch-gesellschaftliche Veränderungen vorausgegangen. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) veröffentlichte im Jahr 2015 eine – aus heutiger Perspektive extrem aufschlussreiche – empirische Untersuchung zu Chile mit dem Titel »Die Zeiten der Politisierung«. Sie deckte Konsensbrüche auf und eine wachsende Divergenz zwischen den Eliten und der Bevölkerung hinsichtlich ihrer Bewertung verschiedener Themen: Immer mehr Phänomene sind Gegenstand öffentlicher Debatten; Proteste werden häufiger und massiver. Dabei vermehren sich die Forderungen nach grundlegenderem und umfassenderem Wandel, sie werden dringlicher. Eine große Bevölkerungsmehrheit hält substantielle Reformen im Gesundheitswesen (79 %), im Bildungsbereich (77 %) sowie der Verfassung (67 %) für notwendig. Die neuen sozialen Bewegungen haben Schwierigkeiten, Anschluss an Akteure und Institutionen politischer Repräsentation zu finden; Eliten, soziale Bewegungen, Bürgerinnen und Bürger misstrauen einander.
Stabilität und Wettbewerb
Auf jeweils unterschiedliche Art und Weise wurde in den politischen Systemen Boliviens und Chiles politische Konkurrenz verdrängt. Die Vormachtstellung der MAS und ihrer Gefolgschaft in den bolivianischen Institutionen lag schwer über der Opposition und ihren Anhängerinnen und Anhängern. Die politische Spaltung durchzieht heute in Bolivien Elite wie Gesellschaft und ist ethnisch aufgeladen; hier liegt demnach eine transversale Konfliktlinie vor. In Chile sind die Eliten Hüterinnen einer Ordnung(spolitik), die die Unterstützung durch die Bevölkerung allmählich verloren hat. Die chilenische Konfliktlinie ist zu allererst eine vertikale, die Regierende von Regierten trennt. Die politische Hegemonie in Bolivien und der sich abschottende Elitenkonsens in Chile erzeugten eine Stabilität, die allmählich zur Starre wurde und nun explosionsartig zerbrochen ist.
Die Demokratie bietet den günstigsten Kontext für kollektive Lernprozesse und politische Kurskorrekturen. Dies setzt voraus, dass Kanäle für die Vermittlung von Forderungen funktionieren und institutionelle Akteure bereit sind, Probleme zu erkennen und zu verarbeiten; selbst wenn sie dabei relative Machtverluste hinnehmen müssen. Fehlen diese Ventile, staut sich Unmut auf und der Druck entlädt sich auf der Straße – wie in Bolivien und Chile. Die Herausforderung besteht also darin, einen dynamischen, pluralistischen Wettbewerb unter Einhaltung fairer und stabiler Spielregeln wachzuhalten.
Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika.
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doi: 10.18449/2019A69