Die künftige Europäische Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen tritt mit dem Anspruch an, eine geopolitische Ausrichtung einzuschlagen. Skeptiker werden anmerken, diese Ambition vergrößere nur die bekannte Kluft zwischen den Fähigkeiten der Europäischen Union (EU) und den Erwartungen an ihre außenpolitische Gestaltungskraft. Andere begrüßen es, wenn die »geopolitische Kommission« aus dem Schatten technokratischer Politik heraustreten will. Dass die EU-Staaten im Oktober 2019 erneut die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien aufgeschoben haben, wird allerdings aus dieser Warte als strategische Blindheit gewertet. Die EU sollte sich ihre strategischen Möglichkeiten in der Nachbarschaft, zu der bald auch das Vereinigte Königreich (VK) gehört, nicht verbauen, indem sie an der etablierten Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik festhält. Stattdessen sollte sie neue Strukturen schaffen und politisch wie materiell mehr investieren. Zu denken wäre an einen Europäischen Politik- und Wirtschaftsraum (EPWR), bestehend aus der EU und osteuropäischen Ländern der Östlichen Partnerschaft (ÖP).
Die Kontroverse in der EU über den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien verweist über die konkreten Fälle hinaus auf grundsätzliche Probleme der Union im Umgang mit europäischen Nachbarn. Aus mehreren Gründen steht die EU nur halbherzig zu ihrem politischen Beitrittsversprechen an die Länder des Westbalkans: In der EU nimmt die Bereitschaft und Fähigkeit ab, Länder aufzunehmen, die weder die wirtschaftliche noch die politische Kraft und Kohäsion der Union stärken werden. Die Aufnahmefähigkeit der EU schwindet zudem, weil ihre integrationspolitischen Fundamente und ihre Leistungskraft von innen und außen angefochten werden. Dies korrespondiert mit einem nachlassenden Reformwillen in Kandidatenländern, die gegenüber der EU ihre eigene Konditionalitätspolitik betreiben. So machen sie die Reformen und deren Tempo in Kernbereichen wie guter Regierungsführung (Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Justiz, Korruptionsbekämpfung) und funktionierender Staatlichkeit abhängig vom Tempo des Heranführungs- oder Beitrittsprozesses. Dabei zählen sie auch auf das außen- und sicherheitspolitische Interesse Brüssels, die Erweiterungspolitik fortzusetzen, um die EU-Nachbarstaaten zu stabilisieren. Zugleich spielen die Beitrittskandidaten Angebote von »geopolitischen Konkurrenten« gegen die EU aus, eine Konstellation, die die Kommission unter Jean-Claude Juncker in ihrer Mitteilung zur Erweiterungspolitik vom Mai 2019 ebenfalls registriert.
Sich wechselseitig die Schuld für Stillstand und Rückschritt zuzuweisen, hilft der EU nicht weiter, wenn sie beitrittsreife Länder aufnehmen und ihr Ziel erreichen will, von verantwortungsvoll regierten Ländern mit gleichen Werthaltungen umgeben zu sein. Ähnlich unfruchtbare Interaktionsmuster wie mit den Balkanstaaten zeichnen sich bereits für die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau ab, mit denen die EU unter den Ländern der ÖP am engsten verbunden ist. Beim Jubiläumsgipfel der ÖP im Mai 2019 haben die EU-Staaten jegliches Beitrittsversprechen verweigert, wie sie es noch 2003 in Thessaloniki den Westbalkan-Ländern gegeben hatten. Darüber hinaus muss die EU zügig ihre neuen Nachbarschaftsverhältnisse mit dem VK nach dem Brexit regeln und mit der Türkei eine Alternative zum Verhandlungsrahmen über den Beitritt finden. Das sind Einschnitte, die sie nutzen sollte, um sich Spielräume für neue, realistische Politikansätze zu erschließen.
Gestaltungsauftrag und Lehren für die EU aus jüngster Zeit
Die EU ist auf absehbare Zeit das dominante wirtschaftliche und mithin politische Kraftfeld in Gesamteuropa, das auf seine Nachbarn im Norden, Osten und Süden einwirkt. Für die EU geht damit ein Gestaltungsauftrag einher, auch und gerade im Hinblick auf Länder, die auf Distanz zu ihr gehen (siehe Türkei und VK) und die in einer stärkeren Position ihr gegenüber sind als Länder der ÖP, die eine maximale Nähe zu ihr suchen, wie die Ukraine und Georgien. Letztere erwarten zudem aus ihrer volatilen innenpolitischen und prekären sicherheitspolitischen Lage heraus von der EU und bestenfalls in der EU Schutz und Wohlstand. Für die Union geht es darum, mit diesen Nachbarn (und gegebenenfalls auch mit Ländern des Westbalkans) qualifizierte oder privilegierte Nachbarschaftsbeziehungen unterhalb der Mitgliedschaft aufzubauen.
Bevor die EU neue Wege beschreitet, sollte sie zwei Lehren aus der jüngeren Zeit beherzigen. Erstens: die Interventionen Moskaus, die 2013 zunächst die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens inklusive einer vertieften und umfassenden Freihandelszone (AA/DCFTA) zwischen der EU und der Ukraine verhinderten. Sie haben offenbart, dass die langfristig angelegte, technokratisch-gradualistische Politik der immer engeren Assoziierung ihre vermeintliche geopolitische Unschuld eingebüßt hat. Ob in Südost- oder Osteuropa, die EU muss mit solchen Reaktionen rechnen. Sie sollte auf verschiedenen Ebenen – normativ, wirtschaftlich, sicherheitspolitisch – konfliktfähig sein, wenn sie auf Widerstand, vor allem vonseiten Russlands, stößt. Zweitens: Die nie wirklich in Gang gekommenen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei belegen, dass die EU mit ihrer ambivalenten Positionierung in der Frage gescheitert ist, ob sie tatsächlich zur Aufnahme des Landes bereit ist, sofern Ankara die Voraussetzungen dafür erfüllt. Seit 1987 war sie in der Beitrittsfrage – aus wechselnden Gründen – gespalten und hat ihre Uneinigkeit bis heute nicht überwinden können. Das führte in der Vergangenheit zu einer unglaubwürdigen Erweiterungspolitik gegenüber Ankara und bedeutet heute einen massiven Einflussverlust; ganz abgesehen davon, dass sich die Türkei vor geraumer Zeit selbst für eine Mitgliedschaft disqualifiziert hat.
Mit Blick auf die ÖP-Länder empfiehlt sich diese Vagheit aus Uneinigkeit nicht. Weder sollte die EU ein halbes oder ganzes politisch nicht gedecktes Beitrittsversprechen ins Spiel bringen noch sich und die Länder in das Korsett der Beitrittsverhandlungen zwängen. Vielmehr wäre es an der Zeit, die bilateralen Assoziierungsbeziehungen in neue Strukturen einzubetten. Hier setzt der Vorschlag für einen EPWR an.
Ein Europäischer Politik- und Wirtschaftsraum
Das ausdrückliche Ziel des EPWR wäre es, zwischen der EU und fortgeschrittenen ÖP- Staaten, die mittelfristig weder auf eine EU- noch eine Nato-Mitgliedschaft bauen können, eine sichtbare multilaterale Verbindung herzustellen. Das Angebot richtete sich zunächst an die Ukraine und Georgien, perspektivisch auch an die Republik Moldau. Der Europäische Wirtschaftsraum (EWR, bestehend aus Norwegen, Island und Liechtenstein einerseits und der EU andererseits) sollte als Inspiration, nicht als Blaupause für den EPWR dienen. Denn Letzterer müsste sich in puncto (1) politischer Signalwirkung, (2) Governance und (3) funktionaler Reichweite stark vom EWR unterscheiden.
(1) Der EWR hat ein administrativ-technokratisches Profil, weil die Mitgliedsländer der Europäischen Freihandelszone (EFTA) im EWR (also Norwegen, Island und Liechtenstein) nur die wirtschaftliche und keine politische Integration wollen. Viele osteuropäische Länder wollen beides und der EPWR müsste ihnen deshalb beides signalisieren und offerieren, soweit es unterhalb der Mitgliedschaft möglich ist.
(2) Der EWR ist ein auf Völkerrecht basierendes Konstrukt eigener Art, ohne Vorkehrungen, Souveränität zu übertragen. In diesem »Joint Venture« bewahrt die EU ihre Entscheidungsautonomie (ebenso wie die EFTA-EWR-Länder). Auch der EPWR sollte nicht über supranationale Institutionen verfügen, jedoch über ein ausgeprägtes politisches Profil. Bereits mit der 2003 lancierten Europäischen Nachbarschaftspolitik hat die EU für ihre Nachbarn alles, außer Sitz und Stimme in den EU-Institutionen, avisiert. Analog zum EFTA-Pfeiler im EWR wäre im EPWR ein ÖP-Pfeiler zu schaffen. Beginnen könnten etwa die Ukraine und Georgien, indem sie ein gemeinsames Ständiges Sekretariat einrichten und eine eigene Struktur aufbauen, damit sie als intergouvernementaler Pfeiler fungieren, mit abgestimmten Positionen gegenüber dem EU-Pfeiler auftreten und in den gemeinsamen Institutionen des EPWR mitwirken können. Das EWR-System ist mit Rat, Gemeinsamem Ausschuss, Gemischtem Parlamentarischem EWR-Ausschuss und Konsultativ-Ausschuss sowie mit seinen speziellen Governance-Modi äußerst komplex und voraussetzungsvoll hinsichtlich der Kapazitäten von Staat und Verwaltung beider Seiten. Für den EPWR würden sich osteuropäische Nachbarn erst dann qualifizieren, wenn sie ähnliche Kapazitäten für die Zusammenarbeit mit der EU aufbieten. Die ÖP-Länder müssten sich also insbesondere in der funktionierenden Gewaltenteilung, Um- und Durchsetzung des Rechts in einem gemeinsamen Politik- und Regulierungsraum mit der EU als zuverlässig herausstellen. Gegenwärtig wäre das noch eine hohe Hürde; es könnte aber auch Ansporn sein, diese Leistungsfähigkeit zu entwickeln – mit gezielter Unterstützung durch die EU.
(3) Der EWR konzentriert sich auf die laufende, vollständige Inkorporation des Sekundärrechts bezüglich der Vier Freiheiten des Binnenmarkts (freier Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr). Könnten die osteuropäischen Nachbarn schon heute den Binnenmarkt-Acquis übernehmen, so wäre die Mitgliedschaft im EWR die bevorzugte Option und ein EPWR überflüssig. Der EPWR würde indes auf den AA/DCFTA aufbauen, die eine schrittweise und keine vollständige Übernahme des Binnenmarkt-Acquis vorzeichnen. Um den Regulierungsraum durch Konvergenz sukzessive auszuweiten, müsste ein eigener Mechanismus für die Harmonisierung des Rechts und das effektive Monitoring eingeführt werden, der mehr Anreize gibt und rechtlich verbindlicher ist als in den jetzigen AA/DCFTA. Die EU könnte in Anlehnung an die Regional- und Strukturförderung in der Union ein eigenes Instrument ins Leben rufen, um die regionalen und sozialen Disparitäten in den Ländern einzuhegen und damit auch dem anhaltenden Braindrain etwas entgegenzusetzen. Außerdem könnte die EU in diesem Rahmen Projekte, etwa zum Ausbau der Infrastruktur, ko-finanzieren und dies mit den Kooperationsplattformen der heutigen multilateralen ÖP verzahnen. In den EWR sind die den Binnenmarkt flankierenden Politiken einbezogen, soweit dies aus Gründen des fairen Wettbewerbs notwendig ist. Aber zentrale Politiken wie Landwirtschaft, Fischerei und Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik / Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASP/GSVP) sowie Innen- und Justizpolitik bleiben dort außen vor und werden allenfalls (wie mit Norwegen) in Dutzenden zusätzlicher Vereinbarungen geregelt. Es wäre zu überlegen, welche Materien aus den umfassenden bilateralen AA/DCFTA sinnvollerweise in den multilateralen EPWR überführt werden sollten. Fragen der Außenpolitik sowie der äußeren und inneren Sicherheit im EPWR zu behandeln, würde ihm das gewünschte politische Profil verleihen und läge zugleich im Interesse der EU.
Ein Mehrwert gegenüber den bilateralen Beziehungen mit der EU, die auf den AA/DCFTA beruhen, könnte auch darin liegen, dass die Länder des ÖP-Pfeilers wie im Falle der EFTA untereinander eine Freihandelszone schaffen (EEFTA) und den noch geringen bilateralen Handel intensivieren. Als Folge könnte zwischen ihnen eine produktive Dynamik entstehen.
Ausblick
Hätte man noch einen Beweis gebraucht, dass die Erweiterung nicht in jedem Fall die erfolgreichste Außenpolitik der EU ist – die sehr unterschiedlich gelagerten Fälle des VK und der Türkei haben ihn erbracht. Mit beiden wird die EU Alternativen zur Mitgliedschaft und spezielle bilaterale Vereinbarungen im Spektrum von Kooperation und Assoziierung entwickeln: eine (modernisierte) Zollunion mit der Türkei und eine ambitionierte, breit angelegte, vertiefte und flexible Partnerschaft mit dem VK. Gegenüber den ÖP-Ländern könnte die EU mit dem vorgeschlagenen EPWR auch unter geopolitischen Vorzeichen neue Wege einschlagen. Unter Umständen wären sie in Zukunft sogar für diejenigen Balkanländer interessant, die auf der Stufenleiter zur Mitgliedschaft stecken bleiben.
Der EPWR böte der Ukraine, Georgien und gegebenenfalls der Republik Moldau ein niedrigschwelligeres Ziel an als die EU-Mitgliedschaft. Damit würden sich sicherlich nicht alle Probleme lösen lassen, die aus dem Kontext von Beitrittsverhandlungen bekannt sind – Probleme, die sich daraus ergeben, wie die Angebote zur Unterstützung und die Normvorgaben durch die EU zusammenwirken mit dem Reformtempo und der Qualität der Implementierung in den Zielländern. Im EPWR würde sich die Union mit den beteiligten ÖP-Ländern in einem politischen Gemeinschaftsunternehmen verbinden. Das unterscheidet ihn deutlich von den asymmetrischen Beitrittsverhandlungen.
Der EPWR sollte hinsichtlich seiner funktionalen Reichweite und Governance entwicklungsoffen sein und eine gemäßigte Differenzierung unter den ÖP-Ländern erlauben. Auf längere Sicht könnte er den EWR an Kooperations- und Integrationstiefe sogar übertreffen und damit ein echtes Angebot und kein Abstellgleis für die ÖP-Länder darstellen. Es wäre an den ÖP-Staaten, diese Chance zu ergreifen und nicht alles auf die Maximallösung des Beitritts zu setzen. Ohnehin könnte die EU selbst durch eine explizite politische Absage in der Beitrittsfrage nicht verhindern, dass die Ukraine oder Georgien gemäß Artikel 49 EU-Vertrag die Mitgliedschaft in der EU beantragen. Aber die Lücke zwischen »drinnen« und »draußen« wäre mit einem EPWR kleiner als heute, die Bindungen untereinander stärker. Und nicht zuletzt wäre die Aussicht zumindest plausibel, dass dieses Arrangement mehr und schneller Nutzen bringt, als in einen ergebnisoffenen Prozess jahrzehntelanger Beitrittsverhandlungen einzutreten.
Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP / Institutsleitung.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A62