Die Zustimmungswerte des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin und der Regierungspartei Einiges Russland befinden sich auf einem historischen Tiefstand. Die Hauptstadt Moskau erlebte im Juli und August im Vorfeld der Regionalwahlen vom 8. September die größten Demonstrationen seit der Protestwelle 2011–2013. Doch die Stabilität des Regimes ist vorerst nicht in Gefahr, von einer Legitimationskrise lässt sich noch nicht sprechen. Dem Kreml steht weiterhin ein breites Spektrum an Mitteln zur Verfügung, um dem wachsenden Verlangen von Teilen der Gesellschaft nach politischer Repräsentation entgegenzuwirken. Hierzu gehören Wahlmanipulation und Formen selektiver Repression. An Deutschland gerichtete Vorwürfe, sich in Russlands innere Angelegenheiten einzumischen, sollen von hausgemachten Problemen ablenken. In den nächsten Jahren dürften sich die Spannungen verschärfen, die aus dem Gegensatz zwischen Forderungen nach Grundrechten und Mitbestimmung von unten und repressiver Reaktion von oben resultieren.
Die Kampagne zur Wahl des Moskauer Regionalparlaments entwickelte sich zur ersten großen innenpolitischen Krise in Präsident Putins vierter Amtszeit. Moskau erlebte die größten Proteste und die massivste Welle koordinierter Repression gegen Aktivisten und Opposition seit Jahren. Noch Anfang Juli hatte es dafür keine Anzeichen gegeben. Am diesjährigen Einheitlichen Wahltag fanden 16 direkte Gouverneurs-, 11 Regionalparlaments- und zahlreiche Kommunalwahlen statt. Dieser Tag wurde erwartungsgemäß zu einem wichtigen Test, ob der Kreml erneut wie im Vorjahr empfindliche Niederlagen erleiden und die lange dominante Position der Regierungspartei Einiges Russland weiter erodieren würde.
Trend hält an: Schleichende Erosion von Einiges Russland
2019 setzte sich der Trend aus dem Vorjahr fort: Einiges Russland verliert an Dominanz. Zwar gewannen alle 16 vom Kreml unterstützten Gouverneurskandidaten mit offiziell zwischen 56 und 89% der Stimmen. Dies gelang aber nur mittels administrativer Maßnahmen, mit denen die Konkurrenz schon vor dem Wahltag eingeschränkt wurde. Um nicht mit der zusehends unpopulären Partei Einiges Russland assoziiert zu werden, traten sechs der 16 Kreml-Kandidaten als Unabhängige an. Am deutlichsten wird der Abwärtstrend der Regierungspartei an den Ergebnissen der Wahlen zu den Regionalparlamenten. Im Vergleich zu 2014 verlor Einiges Russland bei der Listenwahl im Schnitt 16% und fiel von 68 auf 52%. Dank der Direktmandate konnte sich die Partei mit Ausnahme der Region Chabarowsk dennoch die Mehrheit der Sitze in den Parlamenten sichern.
Die Verschlechterung der sozioökonomischen Lage und das Fehlen einer politischen Vision der russischen Staatsführung schlagen sich offenkundig auch in den Wahlergebnissen nieder. Laut einer Umfrage gibt seit Herbst 2017 – also schon vor der Rentenreform 2018 – eine Mehrheit der Bevölkerung zum ersten Mal seit 2003 dem Wandel den Vorzug vor der Stabilität. Russinnen und Russen fordern vor allem mehr soziale Gerechtigkeit, die Bekämpfung der Korruption und Wirtschaftsreformen. Weniger als ein Viertel der Bevölkerung glaubt, dass Putin in der Lage sein wird, Russlands Probleme zu lösen. Gleichzeitig sehen knapp 45% keine passable Alternative zu ihm – ein Ergebnis der Beschränkung politischer Konkurrenz.
Die in dieser Deutlichkeit nie dagewesene Kombination aus dem Wunsch nach Wandel und der wachsenden Erkenntnis, dass in absehbarer Zeit kein Politikwechsel an der Staatsspitze zu erwarten ist, sind systemische Gründe für die Stimmverluste von Einiges Russland. Erst wenn die Zustimmungswerte für Putin massiv einbrechen und die Proteste eine noch viel größere Dimension annehmen würden als bisher, könnte aus der latenten Unzufriedenheit eine gefährliche Legitimationskrise des Regimes werden.
Krise der politischen Repräsentation in Moskau
Noch Anfang Juli gaben 89% der Moskauer an, sich nicht für die Wahlen zum Stadtparlament zu interessieren. Im Unterschied zu anderen russischen Regionen boomen in der Hauptstadt allerdings schon seit einigen Jahren lokaler Aktivismus und kommunalpolitisches Engagement. Zu den Kampagnen, die für die außerparlamentarische Opposition erfolgreich verliefen, gehörten etwa die Bürgermeisterkandidatur von Aleksej Nawalnyj im Jahr 2013 oder die Kommunalwahlen 2017, bei denen Oppositionelle Einzug in viele Bezirksversammlungen hielten. Dadurch professionalisierte sich die Opposition, bildeten sich lokale Wählerbindung und stabile Netzwerkstrukturen unter Aktivisten und Politikern heraus.
Evident politisch motiviert war die Weigerung des Bürgermeisteramts und der Wahlkommission, etliche Oppositionelle als Kandidaten zu registrieren, obwohl sie die nötige Anzahl an Unterschriften gesammelt hatten. Dies löste im Juli und August 2019 die größte Protestwelle seit den Großdemonstrationen gegen Wahlfälschung 2011–2013 aus. Zu Beginn richteten sich die Proteste noch gegen die Verweigerung der politischen Teilhabe. Den Höhepunkt markierte eine Kundgebung am 10. August mit etwa 60 000 Menschen, die nun vor allem auch gegen die Festnahme tausender Personen und gegen Polizeigewalt bei vorherigen Protestaktionen und laufende Strafgerichtsprozesse protestierten.
Ungeachtet dessen kann sich Bürgermeister Sergej Sobjanin weiterhin auf eine absolute gesetzgebende Mehrheit im Stadtparlament stützen (25 von 45 Sitzen). Aber auch die von Nawalnyj per App propagierten Wahlempfehlungen und die Protestwahl zeigten Wirkung: Zum ersten Mal seit der Legislaturperiode 2004–2009 stellt die liberale Jabloko-Partei mit vier Sitzen eine Fraktion. Vor allem aber der Erfolg der Kommunistischen Partei (13 Sitze) verweist auf das Dilemma der nicht im Parlament vertretenen Opposition in Moskau, aber auch in Russland insgesamt: Um Einiges Russland möglichst große Verluste zuzufügen, sprach Nawalnyj Wahlempfehlungen auch für Kandidaten mit stalinistischen und staatssozialistischen Ansichten aus, die seinen Positionen und denen seiner Unterstützer widersprachen. Die Protestwahl war zwar ein Erfolg, mehr Sitze und somit mehr Einfluss gewann die außerparlamentarische Opposition jedoch nicht. Die Krise der Repräsentation wird sich folglich verschärfen: Da der Opposition die parlamentarische Mitbestimmung verwehrt ist, bleiben ihr nur Wahlkämpfe und Straßenproteste. Auch der Kreml wird an seiner Linie festhalten und durch Wahlmanipulation und selektive Repression eine Ausweitung der politischen Repräsentation zu verhindern suchen.
Repression per Gesetz und digitale Technologien
Zu den klassischen repressiven Methoden gehört, dass der Staat rechtliche Bestimmungen instrumentalisiert, um Andersdenkende einzuschüchtern und abzuschrecken: Oppositionspolitiker werden für Ordnungswidrigkeiten zu mehrwöchigen Haftstrafen verurteilt, zahlreichen Protestierenden hohe Geldbußen auferlegt. Schwerer wiegen Tatbestände des Strafgesetzbuchs. Wie schon beim Bolotnaja-Prozess 2012–2014 wurden Protestierende wegen Anstiftung zu Massenunruhen und Gewaltanwendung gegen Sicherheitskräfte angeklagt. Am folgenreichsten ist das Verfahren wegen Geldwäsche, das im August gegen Mitarbeiter von Aleksej Nawalnyjs »Stiftung für den Kampf gegen Korruption« eingeleitet wurde. Die Stiftung, die sich über Crowdfunding finanziert, ist nicht nur für ihre viralen Videos über Korruption in der russischen Elite bekannt. Sie dient vor allem auch als Organisationsstruktur, mit deren Hilfe Nawalnyj Proteste und Wahlkämpfe organisiert. In Zukunft könnte die Stiftung als Basis für die Bildung einer Partei fungieren. Nach landesweiten Razzien Mitte September steht indes zumindest die regionale Infrastruktur, wenn nicht sogar die Existenz der Stiftung insgesamt auf dem Spiel.
Opposition und Aktivisten koordinieren sich und kommunizieren erfolgreich online. Zudem formiert sich eine digitale Gegenöffentlichkeit auf Youtube und Instagram. Bislang unpolitische Influencer solidarisieren sich mit den Protesten und sprechen sich gegen staatliche Repression aus. Vertreter unterschiedlichster Berufsgruppen veröffentlichen Online-Petitionen.
Der russische Staat verfügt über ein vielfältiges technologisches Repertoire an Kontrollmitteln. Erstmalig wurde am 3. August in Moskau ein Internet-Shutdown dokumentiert. Um die Kommunikation der Protestierenden zu behindern, wurde der Datenfluss im mobilen Internet stundenlang gedrosselt. Der unabhängige Sender TV Rain, der von jeder Protestaktion live berichtete, konnte zeitweise keine Schaltungen durchführen. Am 27. Juli und 3. August legten heftige »Distributed-Denial-of-Service«-Attacken die Webseite von TV Rain zeitweise lahm. Auch die Liveberichterstattung durch Nawalnyjs Youtube-Kanal haben Sicherheitskräfte am 27. Juli unterbunden. Noch während der Proteste wurde die Videoüberwachung um die Komponente der Gesichtserkennung ausgebaut, die in Zukunft bei allen Massenveranstaltungen Anwendung finden soll. Schon jetzt verfügt das Innenministerium über eine umfassende Gesichtsdatenbank. Bei Festnahmen wurden zudem häufig Mobiltelefone konfisziert, um sich Zugang zu sozialen Netzwerken und zu Messenger zu verschaffen.
Vorwurf der Einmischung aus Deutschland
Bei der Protestwelle 2011–2013 wurde vor allem den USA vorgeworfen, die russische Bevölkerung gegen das Regime aufzuwiegeln. Aus russischer Sicht verfolgte die Bundesregierung ihre Sanktionspolitik im Verlauf der Ukraine-Krise unerwartet konsequent. Daraufhin trübte sich nicht nur das Deutschlandbild bei der russischen Bevölkerung deutlich ein. Auch von Parlament und Außenministerium wird häufiger der Vorwurf geäußert, Deutschland mische sich in innere Angelegenheiten Russlands ein.
Im Zuge der Moskauer Protestwelle im Sommer 2019 äußerten sich das Auswärtige Amt und der Russlandkoordinator der Bundesregierung, Dirk Wiese, besorgt über den unverhältnismäßigen Polizeieinsatz und zahlreiche Festnahmen bei den Protestaktionen. Sie verwiesen dabei auf die in der russischen Verfassung verbrieften Grundrechte und auf Russlands Verpflichtungen nach internationalem Recht, die nicht zu den inneren Angelegenheiten souveräner Staaten zählen. Auf eine Stellungnahme des Auswärtigen Amts reagierte das russische Außenministerium mit dem Vorwurf, Deutschland verstoße damit gegen das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten souveräner Staaten, wie es im Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen kodifiziert ist. Das Ministerium beschuldigt die Deutsche Welle (DW) zudem, »eindeutige Aufrufe zur massenhaften Teilnahme an unerlaubten Protesten veröffentlicht« zu haben, und bestellte aus diesem Anlass die damalige Interims-Geschäftsträgerin der Deutschen Botschaft ein.
Der als propagandistischer Staatsfunk eingestufte deutsche Auslandssender steht seit 2018 verstärkt unter Beobachtung des Außenministeriums. Seit Juni 2017 existiert im Föderationsrat eine »Provisorische Kommission für den Schutz der staatlichen Souveränität und das Verhindern von Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Russischen Föderation«. Ihr im Mai 2019 veröffentlichter Jahresbericht geht vor allem auf die russische »elektorale Souveränität« ein. Die DW habe dazu aufgerufen, die Präsidentschaftswahlen 2018 zu behindern. Im September 2019 setzte auch die Staatsduma eine Kommission ein, die zu dem Ergebnis kam, dass die DW gegen mehrere Gesetze verstoßen habe. Der Verweis auf vermeintliche Einmischung von außen ist ein beliebtes Mittel von schwachen Akteuren wie Parlament und Außenministerium, sich dem Kreml gegenüber als loyal zu zeigen.
Sollten Sicherheitsbehörden die Federführung beim Vorgehen gegen die DW übernehmen, droht ihr die Eintragung in das Register ausländischer Agenten, in dem bisher neun amerikanische Auslandsmedien gelistet sind. Dies würde vor allem eine extensivere Finanzberichterstattung an das Justizministerium nach sich ziehen. Die Staatsanwaltschaft könnte auch beim Außenministerium erwirken, dass der DW die Akkreditierung entzogen wird.
Noch erscheint es wenig wahrscheinlich, dass die DW ihre Tätigkeit in Russland vollständig einstellen muss. Doch zeigt die Auseinandersetzung deutlich, wie fundamental unterschiedlich das Verständnis ist, das Deutschland und Russland vom Schutz der Grundrechte und der Rolle des Journalismus haben.
Ausblick und Empfehlungen
Präsident Putin und Einiges Russland sitzen derzeit fest im Sattel. Doch wird sich die Krise der Repräsentation in den nächsten Jahren verschärfen. Sowohl innerhalb der Elite als auch in der breiteren Bevölkerung regt sich Unmut über die repressiver werdende Gangart der Sicherheitsorgane gegen diejenigen, die mehr Teilhabe einfordern. Obwohl jede Kritik aus dem Ausland als Einmischung in innere Angelegenheiten Russlands zurückgewiesen wird, sollte Deutschland weiterhin konsequent die Einhaltung von Grundrechten anmahnen. Denn auch knapp 60% der Bevölkerung sehen den Vorwurf der Einmischung von außen als unberechtigt an.
Ein vertiefter Austausch sollte vor allem mit jenen Eliten gesucht werden, die an einer Reform des russischen Staates und daran interessiert sind, dass die Ausweitung repressiver Kapazitäten begrenzt wird. Unter den Behörden sind dies etwa der Rechnungshof, das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung oder das Ministerium für digitale Entwicklung. Im Rahmen der deutsch-russischen Roadmap für die Zusammenarbeit im Hochschulwesen wären Forschungskooperationen zur Reform staatlicher Aufsichtsbehörden und zur Digitalisierung der Staatsverwaltung denkbar. Insbesondere dem Gerichtswesen und den Rechtsschutzorganen wird eine entscheidende Rolle beim Umgang mit der sich zuspitzenden Krise der Repräsentation zukommen. Im Vorfeld der Dumawahl 2021 und der Präsidentschaftswahl 2024 liegen ein weiterer Verfall staatlichen Handelns und die Verschärfung der Repressionen weder im russischen noch im deutschen Interesse.
Dr. Fabian Burkhardt ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A53