Die Entscheidung der indischen Regierung vom 5. August, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir in zwei Unionsterritorien zu teilen, hat die internationale Aufmerksamkeit wieder einmal auf die Krisenregion im Himalaya gelenkt. Pakistan protestierte gegen diesen Schritt und erreichte mit Hilfe Chinas, dass sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 16. August 2019 erstmals seit 1971 wieder mit der »indisch-pakistanischen Frage« befasste. Die informelle Konsultation endete ohne eine offizielle Erklärung, aber Indien und Pakistan sahen ihre Positionen bestätigt. Neben der erneuten Zunahme der Spannungen zwischen beiden Staaten wirft der Beschluss zu Kaschmir aber auch grundsätzliche Fragen zur künftigen Ausgestaltung des Föderalismus und des Säkularismus in Indien auf.
Mit der Auflösung des mehrheitlich von Muslimen bewohnten Bundesstaats Jammu und Kaschmir »degradierte« die Modi-Regierung erstmals in der Geschichte Indiens einen Staat mit besonderen Autonomierechten zu zwei Unionsterritorien – Jammu und Kaschmir (J&K) sowie Ladakh – mit deutlich eingeschränkten Kompetenzen. Die Regierung setzte damit eines ihrer zentralen Wahlversprechen um. Erklärtes Ziel Modis ist es, in J&K die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, die Radikalisierung der Jugend einzudämmen und den Terrorismus zu bekämpfen.
Die nationale Ebene
Seit 2016 ist im indischen Teil Kaschmirs eine wachsende Radikalisierung unter muslimischen Jugendlichen zu beobachten. Die Gründe hierfür waren unter anderem die unzureichende Autonomie des Bundesstaats, fehlende wirtschaftliche Perspektiven und die Übergriffe der Sicherheitskräfte, die in Kaschmir Sondervollmachten bei der Terrorbekämpfung haben.
Modis Partei war seit 2014 zwar Teil der Landesregierung Kaschmirs, doch gelang es ihr nicht, die Situation zu beruhigen. Neben der Zahl der Proteste, Demonstrationen und Streiks hat auch die der gewaltsamen Zwischenfälle zwischen militanten Gruppen und den Sicherheitskräften in den letzten Jahren zugenommen. Nach indischen Angaben sollen sich 2018 über 180 Jugendliche in Kaschmir verschiedenen militanten Gruppen angeschlossen haben. Davon galten 56 Prozent als lokale Kaschmiris. Im gleichen Jahr wurden 252 Terroristen getötet, von denen 60 Prozent aus dem indischen Teil der Region stammten. Die Absetzung der Landesregierung in Srinagar durch die Zentralregierung in Neu-Delhi im Dezember 2018 beendete die Aussicht auf einen Dialog zwischen gewählten kaschmirischen Vertretern und lokalen Protestgruppen.
Mit ihrer jüngsten Entscheidung verfolgt die hindunationalistische BJP-Regierung nun offensichtlich die Strategie, in Kaschmir neue politische Verhältnisse zu etablieren. Mit ihrer absoluten Mehrheit im Parlament beschloss sie die Aufhebung der Sonderrechte im Rahmen von Artikel 370 und 35A der Verfassung. Damit ist es künftig unter anderem möglich, dass auch Personen aus anderen Teilen Indiens Land in J&K erwerben und Stellen in der Landesverwaltung besetzen.
Die Zuwanderung von Hindus könnte mittel- bis langfristig einen demografischen Wandel in Gang setzen, der sich auch in Wahlergebnissen zugunsten der BJP niederschlagen könnte. Zugleich hat die Regierung Vertreter der traditionellen kaschmirischen Parteien unter Hausarrest gestellt und gegen deren Führer Untersuchungen wegen des Verdachts der Korruption eingeleitet. Die Ausschaltung der einheimischen Eliten soll den Prozess der politischen Neugestaltung beschleunigen. Gleichzeitig plant die Regierung eine Initiative, damit indische Firmen verstärkt in Kaschmir investieren und Arbeitsplätze schaffen, sowie baldige Wahlen für das neue Parlament mit seinen jetzt eingeschränkten Vollmachten.
Gewinner dieser Neuordnung sind erstens die Hindus, die in den 1990er Jahren aus Kaschmir vertrieben wurden und nun auf ihre Rückkehr hoffen. Zweitens erhält die lokale Stammesbevölkerung in dem neuen Unionsterritorium nun Rechte, die ihr unter der alten Autonomieregelung verwehrt geblieben waren. Drittens bekommt die buddhistische Bevölkerung des ehemaligen Bundesstaats mit Ladakh ein eigenes Unionsterritorium, das allerdings kein Parlament haben wird.
Die Modi-Regierung hat mit der Reform alle moderaten muslimischen Kräfte vor den Kopf gestoßen, die sich im Rahmen der alten Autonomieregelungen für Indien ausgesprochen hatten. Die »Degradierung« des einstigen Bundesstaats und der Entzug der Autonomierechte Kaschmirs werden die lokalen Proteste vermutlich zunächst noch weiter anfachen. Da Unionsterritorien direkt vom Innenministerium in Neu-Delhi verwaltet werden, erhalten die Sicherheitskräfte zusätzliche Möglichkeiten, Proteste und Demonstrationen niederzuschlagen. Damit dürfte sich die ohnehin unzureichende Menschenrechtslage in J&K weiter verschlechtern.
Durch die zu erwartende Zuwanderung aus anderen Landesteilen könnten auch neue Konflikte entstehen, zum Beispiel Konkurrenz um Landbesitz und Beschäftigung, wie dies auch in anderen Landesteilen zu beobachten ist. Des Weiteren könnte J&K künftig auch eine größere Rolle in der Propaganda internationaler islamistischer Gruppen wie Al-Qaida und des Islamischen Staats spielen. Indische Sicherheitsexperten weisen darauf hin, dass beide Gruppen von der Radikalisierung in Kaschmir in den letzten Jahren profitiert haben.
Die Reform in Kaschmir hat aber Implikationen weit über den Bundesstaat hinaus. So wirft das Vorgehen der Regierung verfassungsrechtliche Fragen auf, die den indischen Föderalismus betreffen. Die Zentralregierung kann das Gebiet und den Status von Bundesstaaten ändern, allerdings nur mit deren Zustimmung. J&K war seit Dezember 2018 unter der Kontrolle der Zentralregierung. Weil die Regierung das Votum des von ihr eingesetzten Gouverneurs mit der Zustimmung der betroffenen Landesregierung gleichsetzte, konnte sie den Bundesstaat mit ihrer Mehrheit im Parlament auflösen. Indische Kommentatoren sehen darin einen »Verfassungsputsch« und einen Akt der »Kolonisierung Kaschmirs«. Sicherlich wird dieses Vorgehen vom Obersten Gericht eingehend geprüft werden, denn anderen Bundesstaaten könnte künftig Ähnliches widerfahren, sollten sie unter die Kontrolle der Zentralregierung gestellt werden.
Schließlich ist die Auflösung des Bundesstaats Jammu und Kaschmir auch ein weiterer Aspekt in der innerindischen Diskussion über die künftige Ausformung des Säkularismus. Die Kongresspartei hatte nach 1947 eine Vorstellung von Säkularismus geprägt, in der alle Religionen gleichrangig waren und staatliche Privilegien erhielten. Das mehrheitlich muslimische Kaschmir war ein Symbol für diese Idee. Mit der Auflösung des Bundesstaats bekräftigt die BJP hingegen ihr eigenes Verständnis von Säkularismus, der von der Vorrangstellung der Hindu-Mehrheit und nicht von Privilegien der religiösen Minderheit geprägt sein soll.
Die internationale Ebene
Die Entscheidung Indiens, den Bundesstaat Kaschmir aufzulösen, hat an seiner außenpolitischen Haltung in der Kaschmirfrage nichts geändert. Seit dem Beitritt des früheren Fürstenstaats zur Indischen Union im Oktober 1947 beansprucht Neu-Delhi dessen gesamtes Gebiet. Folglich sind in der neuen parlamentarischen Vertretung des Unionsterritoriums J&K 24 Sitze für den pakistanischen Teil Kaschmirs vorgesehen. Indien beruft sich weiterhin auf den Vertrag von Shimla von 1972, in dem es sich mit Pakistan auf die bilaterale Behandlung aller Probleme verständigte.
Allerdings sind die internationalen Auswirkungen des Beschlusses zu Kaschmir vermutlich größer, als von indischer Seite erwartet. Für Pakistan war die indische Entscheidung erneut eine Gelegenheit, die Kaschmirfrage international zu thematisieren. Mit der informellen Konsultation des Sicherheitsrats am 16. August erzielte Pakistan zumindest einen diplomatischen Punktsieg, auch wenn das Gremium kein offizielles Statement veröffentlichte.
Die pakistanische Kaschmirpolitik ist in jüngster Zeit beträchtlich unter Druck geraten. Das Projekt des chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridors setzt auf den Status quo in Kaschmir, was kaum in Einklang zu bringen ist mit der Forderung Pakistans nach einem Referendum in der Region mit ungewissem Ausgang. Die internationale Financial Action Task Force (FATF) verlangt von Pakistan ein rigoroses Vorgehen gegen Geldwäsche und Terrorfinanzierung. Das richtet sich vor allem gegen Organisationen, die die Vereinten Nationen (VN) als Terrorgruppen eingestuft haben, wie Lashkar-e-Toiba (LeT) und Jaish-e-Mohammed (JeM). Diese wurden jahrelang von der pakistanischen Armee zur Verfolgung ihrer außenpolitischen Ziele in Kaschmir unterstützt. Die JeM zeichnete für den Anschlag auf Sicherheitskräfte im indischen Kaschmir im Februar 2019 verantwortlich, bei dem mindestens 40 Menschen getötet wurden. Auch das jüngste Abkommen Pakistans mit dem Internationalen Währungsfonds ist an die Einhaltung der FATF-Auflagen gekoppelt. Eine Fortsetzung der Unterstützung terroristischer Gruppen, die gegen Indien operieren, wäre damit für Pakistan mit unabwägbaren wirtschaftlichen Risiken verbunden.
China, der engste Verbündete Pakistans, hat ebenfalls gegen die Entscheidung Indiens in Sachen Kaschmir protestiert. China hält seit den 1960er Jahren das Aksai Chin-Gebiet des früheren Fürstenstaats besetzt. Mit der Einrichtung eines eigenen Unionsterritoriums Ladakh durch Indien sieht China seine territorialen Ansprüche in dem Gebiet bedroht.
Zuvor hatte China Indien und Pakistan bei Krisen immer zu bilateralen Gesprächen aufgefordert. Dies war eher eine Unterstützung der indischen Position, denn Pakistan hat immer eine Internationalisierung der Kaschmirfrage angestrebt.
In seiner Presseerklärung nach der Sitzung des Sicherheitsrats verwies China aber auch auf die VN-Resolutionen zu Kaschmir und scheint damit von seiner bisherigen Haltung abzurücken. Sollte Peking die Kaschmirfrage künftig nicht mehr nur unter dem Aspekt seiner eigenen Grenzstreitigkeiten mit Indien, sondern nun auch im Kontext des indisch-pakistanischen Konflikts sehen, könnte daraus ein neuer Streitpunkt im ohnehin schwierigen bilateralen Verhältnis erwachsen. Beide Staaten hatten nach der Doklam-Krise im Sommer 2017 eine Reihe von Anstrengungen unternommen, ihre bilateralen Beziehungen zu verbessern, unter anderem durch das Gipfeltreffen von Premierminister Modi und Präsident Xi im Frühjahr 2018 in Wuhan. Der für Oktober 2019 geplante Folgegipfel wird vermutlich Klarheit bringen, welche Rolle Kaschmir künftig in ihrem bilateralen Verhältnis spielt.
Die indische Entscheidung in Bezug auf Kaschmir hat schließlich auch zu einer kurzfristigen Belastung der Beziehungen zu Washington geführt. Das seit den 1990er Jahren stark verbesserte Verhältnis zu den USA hatte sich unter der Trump-Administration unter anderem wegen des Handelsstreits, Einwanderungsfragen und der amerikanischen Sanktionen gegen Russland und Iran, zwei engen außenpolitischen Partnern Indiens, eingetrübt.
So hatte sich Präsident Trump bereits beim Besuch des pakistanischen Premierministers Khan in den USA im Juli als Vermittler im indisch-pakistanischen Konflikt ins Spiel gebracht. Nach der Kaschmir-Entscheidung Indiens hat Trump mehrfach mit dem indischen und dem pakistanischen Premierminister telefoniert und sich besorgt über die Lage in der Region geäußert. Da Neu-Delhi eine Internationalisierung Kaschmirs grundsätzlich ablehnt, belastete Trumps Vorstoß das bilaterale Verhältnis. Nach seinem Treffen mit Modi am Rand des G7-Gipfels in Biarritz rückte Trump von seinem Vermittlungsangebot ab und befürwortete direkte Gespräche zwischen beiden Staaten.
Ausblick: Kaschmir und die Folgen für Indien
Die Entscheidung der indischen Regierung vom 5. August wird nicht zu einer Internationalisierung der Kaschmirfrage im Sinne der VN-Resolutionen führen. Allerdings könnte sie zu einer weiteren Belastungsprobe in den ohnehin schwierigen Beziehungen Indiens zu Pakistan und China werden. Weitreichender sind hingegen die innenpolitischen Folgen. Bislang hat die Aufwertung von Unionsterritorien zu Bundesstaaten, zum Beispiel im Nordosten Indiens, dazu beigetragen, gewaltsame Konflikte zu befrieden. Vor diesem Hintergrund bleibt offen, welche Folgen die Abwertung eines Bundesstaats zu einem Unionsterritorium haben wird. Auch wenn die umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen wieder gelockert werden, ist kurzfristig kaum mit einer Beruhigung der Situation in J&K zu rechnen. Die Menschenrechtslage bleibt aufgrund der absehbaren Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften angespannt. Pakistan wird dies nutzen, um das Thema in internationalen Foren anzusprechen. In diesem Kontext könnte ein größerer Terroranschlag wie im Februar 2019, dessen Urheber in Pakistan vermutet werden, dann eine weitere Eskalation zwischen den beiden Atommächten auslösen.
Innenpolitisch fügt sich die Entscheidung zu Kaschmir nahtlos in den von Modi begonnenen Umbau Indiens ein. Seit 2014 hat Modi die Macht der Zentralregierung gestärkt und die Rolle der Institutionen und der Medien geschwächt. Die Auflösung des Bundesstaats Jammu und Kaschmir hat dabei eine doppelte Bedeutung: Einerseits wirft die Art und Weise des Verfahrens grundlegende verfassungsrechtliche Fragen zum Verhältnis zwischen der Zentralregierung und den Bundesstaaten auf. Andererseits hat die BJP mit ihrem Vorgehen ihr Verständnis von Säkularismus bekräftigt, in dem religiöse Minderheiten nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Die nächsten Etappen in diesen grundlegenden Kontroversen zeichnen sich bereits ab. Sie werden vor allem von zwei Themen beherrscht sein: vom Streit zwischen Hindus und Muslimen um den Tempel- und Moscheenkomplex in Ayodhya und vom Ergebnis der Beratungen der Finanzkommission, in der sich Neu-Delhi mit den Bundesstaaten über die Verteilung der Steuermittel verständigen muss. Der Ausgang dieser Konflikte wird die künftige föderale und säkulare Ausgestaltung der Indischen Union und ihrer Demokratie prägen.
Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A45