Mit dem drohenden Ende des Vertrags über das Verbot landgestützter Mittelstreckenwaffen (Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty, INF) rückt die Frage stärker in den Vordergrund, wie der Aufrüstung bei dieser Waffenkategorie begegnet werden kann. Es ist nicht zu erkennen, dass auf den Ruinen des INF-Vertrags eine Vereinbarung entsteht, die eine größere geografische Reichweite hat oder einen breiteren Verbotstatbestand enthält als das Abkommen selbst. Jenseits des noch bestehenden Verbots landgestützter Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern wird es daher wohl zunächst darauf ankommen, einen unkontrollierten Rüstungswettlauf in Europa zu verhindern und der Verbreitung von Mittelstreckenwaffen in weitere Staaten entgegenzuwirken. Politische Bemühungen sollten sich zudem auf die Verlängerung des New-START-Vertrags und auf ein Verbot besonders destabilisierender Waffensysteme wie etwa nuklearer Marschflugkörper konzentrieren. Europa könnte auch versuchen, vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zwischen der Nato und Russland anzustoßen.
Seit fünf Jahren beschuldigen die USA Russland, den INF-Vertrag durch die Entwicklung eines verbotenen Marschflugkörpers zu unterlaufen. Im Dezember 2018 stellten sich die Nato-Mitglieder geschlossen hinter Washingtons Lageanalyse und stellten fest, dass Moskau durch die Produktion und Stationierung des Marschflugkörpers vom Typ 9M729 gegen den INF-Vertrag verstoße.
Am 2. Februar 2019 verkündete US-Außenminister Mike Pompeo, dass die USA ihre Mitgliedschaft im INF-Vertrag suspendieren und gleichzeitig von ihrem Recht Gebrauch machen werden, von dem Abkommen zurückzutreten. Russland zog einen Monat später nach.
Damit läuft die im INF-Vertrag vorgesehene 6-monatige Austrittsfrist. Am 2. August dürfte der INF-Vertrag der Geschichte angehören. Beide Seiten könnten dann legal im Mittelstreckenbereich aufrüsten. Der New-START-Vertrag über die Begrenzung strategischer Waffen mit einer Reichweite ab 5500 Kilometern wäre dann das einzig verbliebene nukleare Rüstungskontrollabkommen. Dieses läuft allerdings im Februar 2021 aus, sollten sich Russland und die USA nicht auf eine Verlängerung einigen.
Rüstungskontrolle unter schwierigen Bedingungen
Die politischen Voraussetzungen, den INF-Vertrag zu retten, sind denkbar schlecht. Russland hat sich jahrelang geweigert, die im Raum stehenden Vorwürfe zu entkräften bzw. eine Vertragsverletzung zu korrigieren. Am 23. Januar 2019 stellte die russische Regierung in einer presseöffentlichen Präsentation ein Waffensystem vor, das als 9M729 bezeichnet wurde. Details aber blieben unter Verschluss, so dass sich am Gesamteindruck eines fehlenden Interesses Moskaus an einer Aufrechterhaltung des Verbots landgestützter Mittelstreckenwaffen nichts änderte.
Auf der anderen Seite deutete die Art und Weise, wie die Trump-Administration den amerikanischen Ausstieg aus dem INF-Vertrag vollzog, darauf hin, dass Washington dem bilateralen Abkommen wenig Zukunftschancen gibt. So zeigte die Staatssekretärin im US-Außenministerium, Andrea L. Thompson, am 15. Januar 2019 in Gesprächen mit dem stellvertretenden russischen Außenminister Sergei Ryabkov in Genf offenbar keine Bereitschaft, in einen auf Gegenseitigkeit beruhenden Prozess zur Klärung der im Raum stehenden Vorwürfe einzusteigen. Russland nämlich wirft den USA seinerseits vor, den INF-Vertrag unter anderem durch den Aufbau von Raketenabwehrsystemen in Europa und Japan zu verletzen. Die USA aber halten die Anschuldigung, dass die Aegis-Ashore-Basen auch offensiv genutzt werden sollen, für gegenstandslos und beharren darauf, dass Moskau seine Vertragsverletzung einseitig korrigiert. So bleibt offen, wie ernsthaft die russischen Offerten gemeint sind, die 9M729 im Rahmen von Inspektionen überprüfen zu lassen.
Angesichts des gegenwärtigen mangelnden Engagements in Moskau und Washington für nukleare Rüstungskontrolle und Abrüstung erachten viele eine Diskussion über rüstungskontrollpolitische Alternativen zum INF-Vertrag für sinnlos. Einige halten das Thema sogar für gefährlich und kontraproduktiv: Weil die Nato-Verbündeten unterschiedliche Einschätzungen in Bezug auf die Bedrohung durch Russland hätten, so die Kritiker, würde eine Diskussion über Rüstungskontrolle zur Spaltung der Allianz beitragen. Dies spiele Russland letztendlich in die Hände, insbesondere wenn solche Unterschiede deutlich hervorträten.
Ein Nachdenken darüber, wie landgestützte Mittelstreckenwaffen auch jenseits des INF-Vertrags rüstungskontrollpolitisch erfasst werden könnten, ist trotzdem sinnvoll und nötig.
Selbst wenn die politischen Führungen in Moskau und Washington momentan kaum daran interessiert scheinen, nukleare Instabilitäten im Verhältnis untereinander durch Rüstungskontrolle zu verringern, so verfolgen beide doch weiterhin gemeinsame Ziele: Beide wollen Drittstaaten (vor allem China) in die nukleare Rüstungskontrolle einbeziehen, die Proliferation von Raketentechnologie verhindern und die strategische Stabilität – gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung neuer Waffentechnologien – bewahren. Diese geteilten Interessen können zumindest als Einstieg in einen rüstungskontrollpolitischen Dialog dienen.
Heute muss die nukleare Rüstungskontrolle allerdings wohl bescheidenere Ziele verfolgen als bei Abschluss des INF-Vertrags 1987. Damals drängten die Präsidenten Ronald Reagan und Michail Gorbatschov auf ein umfassendes Verbot der besonders destabilisierenden landgestützten Raketen kurzer und mittlerer Reichweite, weil sie die Gefahr eines Atomkriegs verringern und den Prozess der politischen Verständigung zwischen Ost und West vorantreiben wollten. Angesichts der aktuellen Abwärtsspirale in den Beziehungen zwischen dem Westen und Russland sollten die Bedingungen für Rüstungskontrolle heute eher mit der Situation in den 1960er und 1970er Jahren verglichen werden, als Krisenstabilität und Vertrauensbildung im Zentrum der Verhandlungen standen. Zu befürchten ist auch, dass die politischen Führungen in Moskau und Washington heute nicht die strategische Weitsicht besitzen, Rüstungskontrolle als Instrument der politischen Verständigung zu nutzen.
Eine Debatte über rüstungskontrollpolitische Regelungen jenseits des INF-Vertrags ist schon deswegen geboten, weil in vielen Nato-Staaten eine allein militärische Reaktion auf die Bedrohung durch russische Atomwaffen innenpolitisch kaum durchsetzbar wäre. Das gilt vor allem auch für Deutschland. Der in der aktuellen Diskussion immer wiederkehrende Bezug auf den Nato-Doppelbeschluss von 1979, der eine Nachrüstung im Mittelstreckenbereich mit einem Gesprächsangebot an die Sowjetunion kombinierte, ist ein Beleg für diese Tatsache.
Die Nato kann eine Debatte über rüstungskontrollpolitische Antworten auf die INF-Krise selbstbewusst angehen, wenn sie sich gut vorbereitet und alle Bündnismitglieder sich darauf verpflichten, vereint zu agieren. Zu den Stärken der Allianz zählen ihre Transparenz in Bezug auf ihre Verteidigungsanstrengungen und ihr großes Reservoir an technischer Expertise. Die Vorwürfe Moskaus etwa, die Nato-Raketenabwehrbasen in Rumänien und Polen verletzten den INF-Vertrag, könnte die Nato durch entsprechende Transparenzmaßnahmen leicht entkräften. Dass sie einen solchen Schritt aus Angst, nachgiebig zu erscheinen, nicht macht, leistet Verschwörungstheorien Vorschub, die USA planten im Geheimen und unter dem Deckmantel der Nato durch die Stationierung eines Raketenabwehrsystems den Aufbau offensiver Fähigkeiten.
Notwendig sind rüstungskontrollpolitische Schritte aber vor allem wegen der Gefahren für Stabilität und Frieden, die mit einem unbegrenzten Wettrüsten verbunden wären. Mittelstreckenwaffen wirken wegen ihrer kurzen Flugzeiten und den damit einhergehenden knappen Reaktionszeiten destabilisierend. Frühwarnsysteme können Angriffe mit tieffliegenden, agilen Marschflugkörpern oft schwer oder gar nicht detektieren, weil die für ballistische Raketen typischen Startsignaturen fehlen. Die Waffen können weite Strecken unterhalb von Radarschirmen zurücklegen. Moderne Marschflugkörper haben eine große Reichweite von bis zu mehreren Tausend Kilometern. Damit ermöglichen sie Angriffe aus verschiedenen Richtungen. Ein Schutz durch Flug- oder Raketenabwehrsysteme ist nach dem aktuellen Stand der Technik allenfalls bei der Verteidigung einzelner Einrichtungen möglich. Nicht ohne weiteres erkennbar ist, ob Mittelstreckenwaffen konventionelle oder nukleare Sprengköpfe tragen. In einer Krise kann dies zu gefährlichen Fehlwahrnehmungen führen.
Wichtig für die europäische Sicherheit ist in diesem Kontext auch die Verlängerung des New-START-Abkommens über die Begrenzung strategischer Nuklearwaffen. New START baut auf dem INF-Vertrag auf, die Reichweiten der darin erfassten Raketen schließen direkt an. Das Abkommen läuft allerdings im Februar 2021 aus, sollten es beide Seiten nicht bis dahin verlängern.
Ansätze zur Kontrolle von Mittelstreckensystemen
Welche Möglichkeiten aber gibt es, auf dem INF-Vertrag (oder seinen Ruinen) aufbauend die von Mittelstreckenraketen ausgehenden Gefahren durch Rüstungskontrolle zu reduzieren? Drei unterschiedliche Ansätze sind denkbar.
Anpassung der geografischen Reichweite
Der INF-Vertrag wurde 1987 zwischen der Sowjetunion und den USA abgeschlossen. Er bindet daher viele Staaten nicht, die Mittelstreckenwaffen besitzen. Mittlerweile verfügen mindestens sieben Staaten über landgestützte Raketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern, nämlich China, Indien, Israel, Nordkorea, Pakistan sowie Iran und Saudi-Arabien. Ob Russland über solche Waffen verfügt, ist umstritten. Nur Iran und Saudi-Arabien sind keine Atomwaffenbesitzer.
Die Frage, ob weitere Staaten in den INF-Vertrag einbezogen werden sollten, stand spätestens im Raum, als Moskau Mitte der 2000er Jahre begann, den »ungerechten« Charakter des INF-Vertrags zu beklagen.
Russland wies darauf hin, dass es selbst durch neue Mittelstreckensysteme in der eigenen Nachbarschaft, insbesondere in Asien, bedroht sei, während die USA dank ihrer Lage zwischen zwei Ozeanen keiner derartigen Bedrohung ausgesetzt seien.
Grafik Die Proliferation landgestützter Mittelstreckenwaffen Besitzerstaaten und Jahr der ersten Stationierung |
2007 schlossen sich die USA der russischen Forderung nach einer Multilateralisierung des Abkommens an. Seitdem allerdings haben weder Moskau noch Washington ernsthafte Schritte unternommen, um andere Staaten davon zu überzeugen, ihre Mittelstreckenwaffen einer vertraglichen Begrenzung zu unterwerfen.
Es überraschte daher, dass US-Präsident Donald Trump am 20. Oktober 2018 die Ankündigung, aus dem INF-Vertrag auszusteigen, mit einer Aufforderung an China und Russland verknüpfte, über ein Verbot der Entwicklung von Mittelstreckenwaffen zu verhandeln.
Ein solches Ansinnen dürfte auf absehbare Zeit indes wenig Aussicht auf Erfolg haben. Mehr als 90 Prozent aller landgestützten Raketen Chinas sind Mittelstreckenwaffen. Wenn Peking diese Waffen in ein Rüstungskontrollabkommen einbringen soll, bedürfte es besonderer Anreize. Die sind aber weder von Russland noch den USA in Aussicht gestellt worden. Obwohl Moskau und Washington das Interesse teilen, China in die Rüstungskontrolle einzubeziehen, haben sie bisher keinen gemeinsamen Druck auf Peking ausgeübt.
China steht Forderungen nach mehr Transparenz ganz prinzipiell skeptisch bis ablehnend gegenüber, weil die Abschreckungswirkung seines (vergleichsweise) kleinen Arsenals von vermutlich weniger als 300 Atomsprengköpfen in besonderem Maß von effektiver Geheimhaltung abhängt. Die Offenlegung des Umfangs und der Stationierungsorte, die notwendigerweise Bestandteil eines Rüstungskontrollabkommens wäre, würde aus Pekings Sicht die eigene Zweitschlagfähigkeit gefährden.
Wie opak Pekings Atomwaffenpolitik ist, lässt sich an den seit vielen Jahren weitgehend erfolglosen Versuchen der USA ablesen, einen Dialog mit China über Nuklearfragen zu führen, und an den bescheidenen Fortschritten, die im Rahmen ähnlicher Gespräche zwischen den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats erreicht wurden.
Auch andere nukleare Besitzerstaaten machen ihre Teilnahme an einem multilateralen Rüstungskontrolldialog meist davon abhängig, dass die atomaren Supermächte Russland und die USA zunächst weiter abrüsten. Denn diese beiden Staaten verfügen über mehr als 90 Prozent der weltweit knapp 15000 Nuklearwaffen.
Sinnvoller als eine Erweiterung des bilateralen Rüstungskontrollprozesses durch die Einbeziehung anderer Besitzerstaaten dürfte es sein, die Vertrauens- und Sicherheitsbildung im Rahmen regionaler Dialoge voranzutreiben. Drei wichtige Staaten, die über Mittelstreckenwaffen verfügen, befinden sich im Mittleren Osten. Iran, Israel und Saudi-Arabien rüsten – auch und gerade im Mittelstreckenbereich – gegeneinander. In diesem Umfeld Ansätze zur Transparenz- und Vertrauensbildung zu entwickeln, ist gleichermaßen schwierig wie notwendig.
In Südasien sind Indien und Pakistan zwei Antagonisten, die bilateral bereits über Vertrauens- und Transparenzmaßnahmen sprechen und Abkommen geschlossen haben. Die Begrenzung nuklearer Trägersysteme ist aber bisher nicht Gegenstand ihrer Dialoge.
Schließlich stellt sich die Frage nach einer europäischen Regelung im Mittelstreckenbereich. Im Februar 2019 schlugen die beiden Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter (CDU) und Rolf Mützenich (SPD) vor, dass Russland die 9M729 so weit gen Osten verlegt, dass die Rakete Europa nicht mehr erreichen kann. Die Abgeordneten bezeichneten eine solche Verlagerung als Einstieg in umfassendere Rüstungskontrollgespräche. Sie wiesen zugleich darauf hin, dass die Verifikation dieses Schritts erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde, da es sich bei der 9M729 ja um ein mobiles System handelt.
In den INF-Verhandlungen hatten die USA und die Sowjetunion auch ein auf Europa begrenztes regionales Stationierungsverbot als Alternative zu dem letztlich vereinbarten globalen Verbot aller landgestützten Mittelstreckenwaffen erwogen. Die USA hatten eine solche Option aber nach Protesten Japans verworfen. Tokio befürchtete, dass eine auf Europa limitierte Regelung zu einer Verlagerung von Mittelstreckenwaffen nach Asien geführt hätte. Ähnliche Befürchtungen dürfte es in Japan auch heute noch geben.
Ein auf Europa beschränktes Stationierungsmoratorium bzw. die Einigung auf eine Nichtstationierungszone in Europa würde darauf hinauslaufen, den gegenwärtigen Zustand bei der Dislozierung landgestützter Mittelstreckenwaffen einzufrieren. Moskau hat laut Presseberichten bisher »nur« vier Bataillone mit je 16 Raketen der umstrittenen 9M729 stationiert, davon zwei im europäischen Teil Russlands. Diese beiden Einheiten müssten dann hinter den Ural verlagert werden. Die USA wollen im August mit der Erprobung eines neuen Marschflugkörpers beginnen, der dann innerhalb von 18 Monaten einsatzbereit sein soll. Die Erprobung einer neuen ballistischen Rakete soll im November erfolgen. Deren Entwicklung wäre wohl allerdings erst in mehreren Jahren abgeschlossen.
Ein weiterer Baustein, um den Status quo zu erhalten, könnte darin bestehen, die momentan noch durch den INF-Vertrag gebundenen Nachfolgestaaten der Sowjetunion Ukraine, Belarus und Kasachstan dazu zu bewegen, weiterhin und völkerrechtlich verbindlich auf Mittelstreckenwaffen zu verzichten. Insbesondere die Ukraine wäre auch technologisch in der Lage, solche Raketen herzustellen. Die Existenz ukrainischer Mittelstreckenraketen würde aber die Suche nach Rüstungskontrollregelungen für diese Waffengattung nach dem Ende des INF-Vertrags zusätzlich erschweren.
Anpassung des Verbotstatbestands
Der INF-Vertrag verbietet die Erprobung, die Produktion und die Stationierung landgestützter Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern. Waffen anderer Reichweite werden ebenso wenig erfasst wie luft- und seegestützte Systeme. Die Begrenzung des Verbotstatbestands reflektiert die damalige Sicherheitslage, denn die Stationierung landgestützter SS-20 durch die Sowjetunion veränderte damals das strategische Gleichgewicht in Europa. Auch hätte die Einbeziehung see- und luftgestützter Mittelstreckenwaffen die Verifikation eines Abkommens erschwert.
Die Begrenzung auf das Verbot landgestützter System hatte eine absehbare Folge: Die Besitzerstaaten Russland und USA rüsteten im Mittelstreckenbereich um. Sie setzten auf Systeme, die vom INF-Vertrag nicht erfasst sind. Die USA verfügen heute über sieben Typen luft- und seegestützter Marschflugkörper mittlerer Reichweite, Russland hat gar neun verschiedene derartige Systeme. Und beide Seiten rüsten weiter auf.
Ein vieldiskutierter Vorschlag, um auf diese Entwicklung zu reagieren, läuft darauf hinaus, nicht die Art der Stationierung zum Ausgangspunkt für Rüstungskontrolle zu machen, sondern die Bewaffnung der Systeme. Ein Verbot nuklear bewaffneter Marschflugkörper etwa würde dem Risiko entgegenwirken, dass in einer Krise der Einsatz konventioneller Marschflugkörper fälschlicherweise als Atomwaffenangriff wahrgenommen wird – und möglicherweise eine nukleare Gegenreaktion auslöst. Dass die Angst vor einem solchen Szenario nicht unbegründet ist, sieht man unter anderem in Syrien. Dort haben die Atommächte Russland, Frankreich, Großbritannien und USA konventionelle Marschflugkörper eingesetzt.
Die Aussichten für ein solches Verbot nuklear bewaffneter Marschflugkörper werden sich vermutlich in den kommenden Jahren verschlechtern. Momentan haben nur Frankreich, Russland und die USA solche Waffen in ihren Arsenalen, möglicherweise auch Israel. China, Indien und Pakistan arbeiten vermutlich aktiv darauf hin, Atomwaffen auch mit Marschflugkörpern einsetzen zu können.
Die Verifikation eines Verbots nuklearer Marschflugkörper wäre anspruchsvoll. Die entsprechenden Verfahren könnten an den New-START-Vertrag anknüpfen, der beispielsweise Regelungen enthält, wie überprüft werden kann, ob strategische Bomber nuklear oder konventionell bewaffnet sind.
Gelegentlich wird auch darüber diskutiert, eine Obergrenze für die Stationierung von landgestützten Mittelstreckenwaffen bzw. Marschflugkörpern festzusetzen. Dann könnten Russland und die USA ihre vorhandenen Programme weiterverfolgen und gleichzeitig versuchen, die mit einer Aufrüstung verbundenen Gefahren für die Stabilität zu reduzieren. Die Überprüfung solcher Obergrenzen erfordert allerdings ein höheres Maß an Intrusivität als die eines umfassenden Verbots.
Ein weitergehender Ansatz läuft darauf hinaus, die nukleare Rüstungskontrolle insgesamt so zu erweitern, dass alle Sprengköpfe unter einem einzigen Vertrag gezählt würden. Eine einheitliche Obergrenze für Sprengköpfe, die auf Kurz-, Mittel- und Langstreckenwaffen stationiert sind, würde den Vertragsparteien die Freiheit geben, selbst zu entscheiden, welche Trägersysteme ihnen wichtig sind. Ein solcher »freedom to mix«-Ansatz würde zudem die Tatsache angemessen reflektieren, dass die amerikanischen und russischen Atomarsenale unterschiedlich strukturiert sind.
Der Oberbefehlshaber der amerikanischen Atomstreitkräfte, General John E. Hyten, sprach sich in einer Kongressanhörung am 26. Februar für einen solch umfassenden Rüstungskontrollansatz für die »nächste Phase« von New START aus. Hyten argumentierte, dass auf diese Weise unter anderem neuartige russische Atomwaffen erfasst würden, die bisher nicht unter den New-START-Vertrag fallen.
Nonproliferation
Angesichts der Verbreitung von Raketentechnologie schlagen eine Reihe von Staaten Maßnahmen vor, um Exporte besser kontrollieren zu können. Solche Handelsrestriktionen können Rüstungskontrolle nicht ersetzen, zumindest aber der weiteren Verbreitung von Raketentechnologie entgegenwirken.
Gegenwärtig gibt es zwei Exportkontrollregime für den Handel mit relevanter Raketentechnologie. Diese Vereinbarungen beruhen nicht auf völkerrechtlich verbindlichen Verträgen, sondern sind Absprachen unter Technologiehaltern, die gemeinsam daran mitwirken wollen, der Raketenproliferation Einhalt zu gebieten.
Im Trägertechnologie-Kontrollregime (Missile Technology Control Regime, MTCR) koordinieren gegenwärtig 35 Staaten ihre Exporte von Raketen- und Marschflugkörpertechnologie. Die Teilnehmer haben zugesichert, Lieferungen von Raketentechnologie zu untersagen, wenn der Empfängerstaat Trägersysteme zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen nutzen kann. Exporte von kompletten Systemen sind zu verhindern, wenn diese einen Sprengkopf von mehr als 500 Kilogramm tragen können und eine Reichweite von mehr als 300 Kilometern haben. Damit greift das MTCR schon unterhalb der INF-Reichweitengrenze.
Deutschland und auch eine Reihe anderer Staaten fordern eine Multilateralisierung des MTCR. China, Pakistan, Nordkorea haben Mittelstreckenwaffen, nehmen aber bisher nicht teil. Insbesondere die Teilnahme Chinas wird seit langem diskutiert. Ein solcher Schritt wird jedoch von jenen Staaten kritisch gesehen, die die chinesische Kontrolle von Raketentechnologieexporten für unzureichend erachten.
Den Haager Verhaltenskodex gegen die Proliferation ballistischer Raketen (The Hague Code of Conduct against Ballistic Missile Proliferation, HCoC) haben 138 Staaten unterzeichnet. Diese haben sich politisch verpflichtet, bestimmte Grundsätze für den Umgang mit Trägersystemen einzuhalten und vertrauensbildende Maßnahmen, etwa Ankündigungen von Raketenstarts, durchzuführen. Die Mitglieder tauschen jährlich Berichte über nationale Raketenprogramme aus.
Auch im Kreis des HCoC wird daran gearbeitet, die Reichweite und Tiefe der Regelungen zu verbessern. Deutschland hat beispielsweise vorgeschlagen, bestehende Regeln zur Notifizierung von Raketentests zu vereinheitlichen und zu verschärfen. Mehr Transparenz in diesem Bereich würde zumindest dazu beitragen, das Misstrauen über vorhandene oder angestrebte militärische Fähigkeiten abzubauen. Auch eine weitere Multilateralisierung des HCoC steht auf der politischen Tagesordnung.
Wie weiter?
Mit dem Auslaufen des INF-Vertrags verschlechtern sich die Chancen für weitergehende Regelungen bei den Mittelstreckenwaffen. Für das von der Trump-Administration ins Feld geführte Argument, dass man auf den Scherben eines aufgekündigten Abkommens einen »besseren Deal« aushandeln kann, gibt es keine Belege. Im Gegenteil besteht die Gefahr, dass die Bereitschaft kleinerer Atommächte, an einem multilateralen Rüstungskontrollprozess mitzuwirken, abnimmt, wenn die beiden größten Atomwaffenbesitzer die letzten Regelwerke zur Begrenzung ihrer Arsenale über Bord werfen.
Bei der Suche nach Möglichkeiten, Rüstungswettläufe bei den Mittelstreckenwaffen jenseits des INF-Vertrags einzuhegen, sind grundsätzlich drei Überlegungen wichtig:
In erster Linie geht es in der gegenwärtigen angespannten Lage um Schadensbegrenzung. Im Hinblick auf die Mittelstreckenwaffen sollten vor diesem Hintergrund vor allem jene Initiativen Aufmerksamkeit erhalten und unterstützt werden, die weitere Stationierungen (in Europa) und/oder eine atomare Aufrüstung verhindern. Die Nato sieht bisher keine Notwendigkeit und hat auch keine Pläne für die Stationierung neuer Atomwaffen auf europäischem Boden. Ein Stationierungsstopp für Atomwaffen würde daher keine Änderung der Bündnispolitik notwendig machen.
Vorstellbar ist zudem, dass sich die MTCR-Mitglieder zu einem Moratorium beim Ausbau ihrer nuklearen Mittelstreckenwaffenarsenale verpflichten.
Wichtig ist auch, ein ersatzloses Auslaufen des New-START-Vertrags Anfang 2021 oder gar eine vorzeitige Kündigung des Abkommens zu verhindern. Eine solche Entwicklung wäre nicht in erster Linie deshalb so dramatisch, weil beide Seiten dann auch im strategischen Bereich aufrüsten würden – weder Russland noch die USA haben entsprechende Pläne. Folgenreich aber wäre ein Ende des New-START-Vertrags, weil damit das letzte Instrument der direkten Verifikation und Vertrauensbildung im Nuklearbereich zwischen den beiden atomaren Großmächten wegfallen würde.
Zweitens beruht Rüstungskontrolle auf Reziprozität. Auch wenn sich eine Seite ins Unrecht gesetzt hat, kann es notwendig und sinnvoll sein, das Prinzip der Gegenseitigkeit zu wahren. Transparenz bei legitimen Verteidigungsprogrammen anzubieten, ist kein Ausweis eigener Schwäche, sondern kann ein notwendiger Schritt zur Vertrauensbildung sein.
Die Nato fordert, dass Moskau einseitig den 9M729-Marschflugkörper sowie alle damit assoziierten Startgeräte und die entsprechende Infrastruktur unter internationaler Kontrolle abrüstet. Gegenleistungen lehnt der Westen ab, weil er sich im Recht sieht. Damit befindet sich Russland in der komfortablen Position, reziproke Schritte zur Rettung des INF-Vertrags anbieten zu können, ohne dass die westlichen Staaten die Ernsthaftigkeit der Offerten überprüfen können. Ein zeitlich begrenztes und klar definiertes Gesprächsangebot, die im Raum stehenden Vorwürfe gegenseitig zu klären, würde die Allianz diplomatisch wieder in die Offensive bringen.
Zumindest sollte die Nato die gegenwärtige Pattsituation dazu nutzen, einen Konsens zwischen den Bündnismitgliedern darüber herzustellen, welche vertrauensbildenden Maßnahmen man Russland sinnvollerweise anbieten könnte, wenn sich das politische Klima wieder verbessert. Diese Diskussionen könnten in dem 2012 auf deutsches Betreiben geschaffenen Abrüstungs-, Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungsausschuss (Special Advisory and Consultative Arms Control, Disarmament and Non-proliferation Committee) geführt werden. Die Wiederaufnahme der direkten Kontakte auf militärischer Ebene zwischen Nato und Russland, die nach der Krim-Annexion suspendiert wurden, wären ein weiteres Element.
Drittens scheint es sinnvoll, stärker auf regionale Ansätze der Vertrauensbildung bei den Mittelstreckenwaffen zu setzen. Solche regionalen Dialoge können die Sicherheitsinteressen der beteiligten Staaten passgenauer berücksichtigen als globale Ansätze.
Die pauschale Forderung nach Einbeziehung weiterer Staaten in den INF-Vertrag ist vor diesem Hintergrund wenig hilfreich. Deutschland könnte allerdings den Vorschlag in die Diskussion bringen, regionale Moratoria für die Erprobung von Kurz- und Mittelstreckenwaffen zu vereinbaren. Insbesondere im Mittleren Osten wäre dies eine Möglichkeit, die Entwicklung neuer Mittelstreckenwaffen zu verlangsamen. So haben die sogenannten E4 (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien) in Gesprächen mit Iran bereits die Raketenproliferation in der Region thematisiert. Eine Fokussierung auf die mit Mittelstreckenraketen zusammenhängenden regionalen Risiken wäre möglich und sinnvoll. Sanktionen oder Liefermoratoria für Raketentechnologie könnten solche Maßnahmen unterstützen.
Die globalen Implikationen der Aufrüstung im Mittelstreckenbereich könnten dann auch Thema im UN-Sicherheitsrat sein. Initiativen zur Eindämmung der Proliferation solcher Waffen und zur Wiederaufnahme von Rüstungskontrollgesprächen wären ein Teil jener Politik der Einhegung von nuklearen Eskalationsrisiken, die Außenminister Heiko Maas am 2. April anlässlich einer von Deutschland geleiteten Beratung des Gremiums zu Fragen der nuklearen Nichtverbreitung anmahnte.
Das Aktivieren direkter Gespräche auf allen Ebenen, die Anerkennung des Prinzips der Reziprozität und die gleichzeitige Betonung des Grundsatzes, dass die Nato gemeinsam und geschlossen auf die russische Aufrüstung reagieren sollte – das wären die drei Leitplanken einer deutschen Politik, die konkrete Initiativen, etwa in Bezug auf ein Verbot nuklear bewaffneter Marschflugkörper oder die Etablierung zeitlich begrenzter Nichtstationierungszonen in Europa, unterstützen könnte. Auch eine Diskussion über militärische Reaktionen auf Russlands Atomwaffenpolitik wäre dann sicher leichter zu führen.
Dr. Oliver Meier ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A20