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Ein zweites Brexit-Referendum

Hindernisse, Risiken und Handlungsoptionen für die EU-27

SWP-Aktuell 2019/A 03, 24.01.2019, 4 Seiten

doi:10.18449/2019A03

Forschungsgebiete

Nach der deutlichen Ablehnung des Austrittsabkommens und angesichts der fort­gesetzten Blockade in London steigt die Wahrscheinlichkeit eines ungeordneten Brexits. Aber auch die Option eines zweiten Referendums gewinnt an Befürwortern. Die EU hält die Tür für einen Verbleib Großbritanniens zwar prinzipiell offen. Einer erneuten Volksabstimmung stehen jedoch etliche Hindernisse im Weg: Not­wendig wären ein Positionswechsel der Regierung, eine stabile Parlamentsmehrheit und eine Verlängerung des Brexit-Prozesses über die Europawahlen hinaus. Falls das britische Parlament eine zweite Abstimmung auf den Weg bringt, sollten die EU-27 Groß­britan­nien die dafür nötige Frist gewähren. Sie sollten aber auch eine eigene politische Strategie für die Referendums­kampagne und die Zeit danach festlegen.

Die Zähmung des Brexits ist vorerst ge­scheitert. Das Austrittsabkommen, welches Großbritannien geregelt aus der EU führen sollte, haben die britischen Abgeordneten mit 432 zu 202 Stimmen abgelehnt. Noch versucht Premierministerin Theresa May, eine neue Mehrheit für das Abkommen zu finden, um mit der EU nach­verhandeln zu können. Doch ihre Aussichten dafür sind gering. Zu groß war die Ab­lehnung, zu strikt hält May an ihren roten Linien fest und zu schwach ist ihr Rückhalt in der eigenen Partei. Für keine der anderen Brexit-Varian­ten zeichnet sich derzeit eine Mehrheit im britischen Parlament ab. Daher wird der un­geordnete Brexit mit seinen gravierenden poli­tischen, wirtschaftlichen und sicherheits­politischen Konsequenzen immer wahrscheinlicher (siehe SWP-Arbeitspapier FG EU/Europa 1/2019).

Druck von den Hinterbänklern

Angesichts dieser Selbstblockade der bri­ti­schen Politik gewinnt ein zweites Refe­ren­dum an Zuspruch. Im Unterhaus sind es vor allem Hinterbänkler, die eine Lösung mit Hilfe einer erneuten Volks­abstimmung fordern. Premierministerin May dagegen lehnt ein zweites Referendum ab. Opposi­tionsführer Jeremy Corbyn hat vor allem Neuwahlen im Sinn und will sich gemäß einem Labour-Partei­tagsbeschluss erst dann für eine abermalige Volksabstim­mung ein­setzen, falls es nicht ge­lingt, Unter­haus­wahlen zu erzwingen. Das Scheitern seines Miss­trauensvotums gegen May am 16. Janu­ar 2019 genügt ihm dafür nicht.

Bisher sind es eine Handvoll konservativer Abgeordneter, 71 Labour-Abgeordnete sowie die Schottische Nationalpartei (SNP) und Teile der Liberaldemokraten, welche eine zweite Volksabstimmung öffentlich unter­stützen. Doch auch wenn es Abgeordneten um den Konservativen Dominic Grieve gelungen ist, dem Par­lament mehr Kontrolle über den Brexit-Prozess zu ver­schaffen, sind die Befürworter eines zwei­ten Referendums von einer eigenen Mehr­heit noch weit entfernt. In Reichweite käme diese erst, wenn entweder Theresa May (unwahrscheinlich) oder Jeremy Corbyn und seine Fraktion sich dafür aussprächen.

Viele Hindernisse

Selbst wenn eine Mehrheit für ein Referendum zustande käme, wären der Weg lang und die politischen Bedenken gravierend. So müsste erstens die Regierung das Refe­rendum unter­stützen, da sie die Agenda im Unterhaus setzt und ihre Gesetzesinitiativen Vorrang haben. Das für eine zweite Volksabstimmung notwendige Referendums­gesetz kann nur als Initiative der Regierung und mit ihrer fortdauernden Rücken­deckung schnell genug durch beide Häuser des britischen Parlaments gebracht werden.

Zweitens bedarf ein Referendum einer stabilen parlamentarischen Mehrheit, um das nötige Gesetz durch alle Ausschüsse, das Plenum und die Abstimmung mit dem House of Lords zu tragen. Diese Mehrheit muss sich über sämtliche Details der Aus­gestaltung des Referendums einig sein. Eine ein­malige Koalition aus wenigen konservativen Ab­geordneten und dem Großteil der Opposi­tion reicht nicht aus.

Die dritte große praktische Hürde ist die Einigung auf die Frage, welche dem briti­schen Volk gestellt werden soll. 2016 schien die Auswahl klar: Die Briten konn­ten sich zwischen Verbleib (»Remain«) und Aus­tritt (»Leave«) entscheiden. Indes hat sich heraus­gestellt, dass es schon damals keine einheit­liche Auslegung von »Leave« gab.

Die Frage wäre bei einem zweiten Referendum noch schwieriger. Generell sollte eine Referendumsfrage drei Kriterien er­füllen: Sie sollte alle politisch relevanten Optionen abdecken, alle Optionen sollten unterscheidbar und politisch umsetzbar sein. Angesichts der Spal­tung in der briti­schen Politik werden min­destens drei Grup­pen fordern, dass ihre bevorzugte Option zur Wahl steht: ein harter No-Deal-Brexit, ein Austritt mit dem vorliegenden Abkommen und zuletzt der Verbleib. Schon an der Gegenüberstellung der verschiedenen Mög­lichkeiten wird deutlich, wie viel Ein­fluss die Wahl der Frage auf den Ausgang der Abstimmung hätte:

Art der Frage

Optionen

Frage mit zwei Optionen

Verbleib oder No-Deal-Brexit?

Verbleib oder Brexit mit Austrittsabkommen?

Brexit mit Austrittsabkommen oder No-Deal-Brexit?

Frage mit drei Optionen

Verbleib oder Brexit mit Austritts­abkommen oder No-Deal-Brexit?

Zwei abgestufte Fragen

1) Verbleib oder Austritt?

Falls für den Austritt:

2) Brexit mit Austrittsabkommen oder No-Deal-Brexit?

1) Akzeptanz oder Ablehnung des Austrittsabkommens?

Falls für die Ablehnung:

2) Verbleib oder No-Deal-Brexit?

Bleibt als viertes der Faktor Zeit. Mit allen parlamentarischen Fristen und der vor­geschriebenen Mindestdauer für die öffent­liche Debatte sind laut Berechnungen des britischen Think-Tanks Institute for Government mindestens 21 Wochen zu veranschlagen, um ein Referendum in Großbritannien durch­zuführen. Die briti­sche Regierung geht wegen der schwierigen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse sogar von einem Jahr aus. In Großbritan­nien gilt zwar die Parlamentssouveränität, doch für Refe­renden gibt es relativ strenge Vorschriften. So muss das Referendums­gesetz durch beide Häuser des Parla­ments. Parallel muss die Frage von der Wahlkommission geprüft werden. Beides zusammen nimmt mindestens 11 Wochen in Anspruch. An­schlie­ßend sind wenigstens zehn Wochen für die Aus­wahl der Leitkampagnen und die öffent­liche Debatte einzukalkulieren. Nach dem Referendum sind mindestens drei Monate einzuplanen, um das Ergeb­nis umzu­setzen. Die zeitlichen Vor­gaben könnten parlamentarisch noch etwas reduziert wer­den, doch die Mehr­heits­verhältnisse im Unter­haus dürften dies eher unwahrscheinlich machen.

Die Frist für den Brexit läuft in weniger als zehn Wochen ab. Realistisch betrachtet, wäre es für ein zweites Referen­dum also nötig, den Aus­trittstermin mindestens bis Ende 2019 hin­auszuschieben. Das wäre gemäß Artikel 50 EUV vor dem vollzogenen Austritt jederzeit möglich, setzt aller­dings einen einstimmigen Beschluss der EU-27 und der britischen Regierung voraus. Damit wäre Großbritannien auch bei den Europa­wahlen und der Neubesetzung der EU-Führungspositionen (Europäische Kommission, Präsident des Europäischen Rates, Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik) noch EU-Mit­glied.

Ein Referendum als Spaltpilz

Jenseits dieser praktischen Hindernisse würde ein zweites Referendum Großbritan­nien, aber auch die EU vor enorme politi­sche Herausforderungen stellen. Hierzu gehört erstens, dass den Briten die Notwendigkeit eines neuen Votums überzeugend vermittelt werden müsste. Die Abstimmung von 2016 war zwar rechtlich unverbindlich, hat in der britischen Politik aber beträcht­liche politische Bindewirkung entfaltet. Ein erneutes Referendum würde daher den Verdacht nähren, die politische Elite – die 2016 mehrheitlich den Verbleib wollte – lasse das Volk so lange abstimmen, bis ihr das Ergebnis genehm ist. Die Forderung nach einer weiteren Volksabstimmung kann des­halb nur aus Großbritannien selbst kommen und muss von der britischen Poli­tik gut untermauert werden. Aus Gründen der Legi­timität müsste zudem die Option eines harten No-Deal-Brexits zur Wahl stehen, so hoch das Risiko auch wäre.

Zweitens würde eine neue Volksabstimmung die Spaltung der britischen Gesellschaft weiter vertiefen. Ursprünglich hatte der damalige Premier David Came­ron das Referendum angesetzt, um die tiefen Risse in seiner eigenen Partei zur EU zu über­brücken. Das Gegenteil ist eingetreten, die Gräben in der konservativen Partei, aber auch der britischen Gesellschaft insgesamt sind groß wie nie zuvor. Viele Briten identi­fizieren sich politisch mittlerweile ebenso als »Remainer« oder »Leaver« wie als Tory oder Labour-Anhänger. Schon das erste Referendum war von Desinformation und aufgeheizter politischer Atmosphäre ge­kennzeichnet, wovon der Mord an einer Ab­geordneten zeugte. Seit 2016 war der Brexit in den briti­schen Medien zwar pausenlos Thema Nummer eins, doch Polarisierung und Falschinforma­tionen haben eher zu- als abgenommen. Eine zweite Volksabstim­mung wird dies noch einmal verschärfen.

Drittens ist nicht geklärt, auf welcher Seite sich die britische Regierung und die großen Parteien positionieren würden. Der Riss wegen des Brexits geht so tief durch die Parteien, dass eine einheit­liche Haltung kaum vorstellbar ist. Selbst Theresa May hat in Interviews bisher immer eine Antwort auf die Frage vermieden, wie sie in einem Referendum abstimmen würde.

Viertens ist zu betonen, dass ein zweites Referendum auch und gerade für die Be­fürworter eines Verbleibs sowie die EU ein hohes Risiko darstellt. In Um­fragen liegt »Remain« im Durchschnitt mit 54 zu 46 Prozent zwar mittlerweile leicht vorne, aber ein Sieg ist alles andere als aus­gemacht. Die meisten Leave-Wähler sehen sich aufgrund der harten Brexit-Verhand­lungen in ihrer Ableh­nung der EU-Mitglied­schaft eher bestätigt. Sie werden argumentieren, dass nur ein klarer No-Deal-Brexit Großbritan­niens Souveränität wieder­herstellen kann.

Die Rolle der EU-27

Doch auch die EU-27 sähen sich im Falle eines zweiten Referendums mit erheblichen Problemen konfrontiert. Zwar wäre eine neue Volksabstimmung in erster Linie eine innerbritische Angelegenheit und ein Mittel, um den weiteren Kurs im Brexit-Prozess zu bestimmen. Zumindest indirekt haben die EU-27 aber ein Mitspracherecht, da alle EU-Staaten einer Verlängerung dieses Prozesses zustimmen müssten. Kommt sie zustande, müss­ten die Briten 2019 Europawahlen abhalten, was zusätz­liche Komplikationen mit sich brächte. Dennoch sollten die EU-27 Großbritannien, wenn es das wünscht, die Zeit geben, den Brexit zu über­denken. Allerdings sollten sie der Ver­suchung wider­stehen, über die Verlängerungsentscheidung Einfluss auf die Frage oder die Bedingungen der Abstimmung zu nehmen. Bevor sie einer britischen Ver­län­gerungs­initiative ihr Plazet erteilen, sollten die EU-Staaten aber ein posi­tives Votum des House of Commons für eine Volksabstimmung sowie die Festlegung des Datums verlangen. Erst dann lässt sich die Dauer der Verlängerung realistisch ein­schätzen, erst dann kann verhindert wer­den, dass das zweite Refe­rendum während des Parlaments­prozesses immer weiter verschoben wird und dass EU-27 und Groß­britannien wieder ohne Ent­scheidung vor der Brexit-Klippe stehen.

Was die EU-27 und vor allem die deutsche Politik brauchen, ist eine klare politische Strategie für die Referendums­kampagne. Möglicherweise werden Ver­bleibbefürworter fordern, die EU solle Großbritannien für den Fall des Verbleibs weitere Sonderkonditio­nen anbieten. Die von Cameron 2016 ausgehandelten Ände­rungen am Status Großbritanniens in der EU sind mit dem negativen Referendum rechtlich automatisch hinfällig geworden. Dennoch hat etwa der einstige Premier Tony Blair behauptet, mit neuen Beschränkungen der Freizügigkeit wäre Großbritannien zu einem Verbleib zu bewegen.

Auf jeden Fall sollte die europäische Poli­tik nicht dieselbe Zurückhaltung wie bei der Abstimmung 2016 an den Tag legen. Statt­dessen empfiehlt sich eine klare Bot­schaft aus Politik und Zivilgesellschaft der ande­ren EU-Staaten, dass die Briten in der Union weiterhin willkommen sind. Damit könn­ten und sollten die Kontinentaleuropäer eine Verbleibskampagne wirksam unterstützen.

Zuletzt braucht die EU auch eine Strategie für die Zeit nach einer erneuten Volks­abstimmung. Das umfasst die weitere Vor­bereitung auf den No-Deal-Bre­xit, aber auch auf die politische Reintegration Großbritan­niens in die EU. Der Europäische Gerichtshof hat zwar geurteilt, dass das Vereinigte Königreich bei einem einseitigen Rückzug aus dem Verfahren gemäß Artikel 50 EUV sämtliche Rechte als EU-Mit­glied behält, einschließlich aller Sonderrechte. Politisch hat der Brexit-Prozess aber tiefe Narben hinterlassen. Bei einem Verbleibsvotum wäre die EU einerseits symbolisch gestärkt. Andererseits müsste sie mit einem Mitglied umgehen, bei dem sich ein großer Teil der Bevölkerung und Politik nicht nur für den Austritt an sich, sondern möglicherweise sogar für einen harten Brexit aus­gesprochen hat.

Ausblick

Der weitere Verlauf des Brexit-Prozesses ist mehr als ungewiss, das Risiko für britische, aber auch europäische Bürgerinnen und Bürger wie Unternehmen sehr groß. Nach der Ablehnung des Austrittsabkommen in Westminster ist völlig unklar, welche der verschiedenen Brexit-Optionen überhaupt eine Mehrheit im britischen Parlament be­kommen kann (siehe SWP-Aktuell 55/2018). Trotz, aber auch wegen der Blockade in Westminster ist ein zweites Referendum weder leicht zu erreichen noch ein Allheil­mittel. Selbst wenn eine Mehr­heit dafür im britischen Parlament gefun­den werden sollte, sind noch eine deutliche Verlängerung des Brexit-Prozesses, schwie­rige Ver­handlungen sowie eine Referendums­kampagne zu erwarten, welche die Risse in der britischen Gesellschaft und Politik eher vertiefen wird. Und dennoch, verglichen mit den Alternativen, vor allem den Kosten und Risiken eines harten No-Deal-Brexits, wäre eine neue Abstimmung auch für die EU-27 die beste aller schlechten Optionen.

Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter (a.i.) der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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ISSN 1611-6364