2019 stehen in der Ukraine zwei richtungsweisende Wahlen an: Ende März findet die Präsidentschaftswahl statt, im Oktober wird ein neues Parlament gewählt. Der Ausgang der Präsidentschaftswahl ist vollkommen offen. Eine außen- und sicherheitspolitische Kursänderung der Ukraine wäre allerdings auch bei einem Wechsel an der Staatsspitze unwahrscheinlich. Über die Machtverteilung und damit die politische Ausrichtung im Inneren wird hingegen erst die Parlamentswahl entscheiden. Ihr Ausgang wird entscheidend dafür sein, ob unerlässliche innenpolitische Reformprozesse vorangetrieben und zu Ende geführt werden.
Mit dem Jahreswechsel hat in der Ukraine offiziell der Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl am 31. März 2019 begonnen. Inoffiziell ist dieser bereits seit mehreren Monaten im Gange. Bislang haben über 30 Personen angekündigt, für das höchste Staatsamt kandidieren zu wollen. Die sich abzeichnende hohe Anzahl an Bewerbern lässt sich einerseits damit erklären, dass der Einsatz sogenannter Zählkandidaten in der Ukraine ein erprobtes Mittel ist, um Konkurrenten den Einzug in eine Stichwahl zu erschweren. Sie ist andererseits aber auch ein Indiz dafür, dass die Präsidentschaftswahl bereits den Wahlkampf für die Parlamentswahl einläutet, die nur wenige Monate später stattfindet. Nach der 2014 erfolgten Rückkehr zur Verfassung von 2004 und der damit einhergehenden Parlamentarisierung des ukrainischen Regierungssystems ist die Bedeutung der Parlamentswahl größer denn je. Wie wichtig die Rolle des Parlaments in der Ukraine ist, zeigte sich zuletzt Ende November 2018. Damals folgte das Parlament zwar der Empfehlung Präsident Petro Poroschenkos, in Teilen des Landes ein dreißigtägiges Kriegsrecht zu verhängen und so auf die militärische Konfrontation mit Russland an der Meerenge von Kertsch zu reagieren. Dem ursprünglichen Vorschlag Poroschenkos, das Kriegsrecht landesweit und für sechzig Tage zu proklamieren, was zu einer Verschiebung der Präsidentschaftswahl geführt hätte, kam das Parlament indes nicht nach.
Offenes Rennen um das Präsidentenamt
Meinungsumfragen zur Präsidentschaftswahl zeigen, dass etwa 20 Prozent der Ukrainer noch unschlüssig sind, wem sie ihre Stimme geben werden. Belastbare Aussagen über einen möglichen Wahlausgang sind daher derzeit kaum zu treffen. Hinzu kommt, dass die Frist zur Registrierung der Kandidaten erst Anfang Februar endet; zudem können mögliche Anwärter ihre Kandidatur auch später noch zurückziehen. Sehr wahrscheinlich ist allerdings, dass es keinem der Bewerber gelingen wird, die Wahl im ersten Urnengang zu gewinnen. Da vom gegenwärtigen Stand aus mehrere Aspiranten Aussicht haben, in eine dann voraussichtlich im April stattfindende Stichwahl einzuziehen, ist der Ausgang der Präsidentschaftswahl vollkommen offen.
Die größten Chancen auf den Einzug in eine Stichwahl hat derzeit Julia Tymoschenko. Die frühere Ministerpräsidentin und Ikone der Orangenen Revolution von 2004/ 2005 führt seit Wochen in sämtlichen Umfragen. Unter all jenen Ukrainern, die angeben, wählen zu wollen, belief sich ihr Zuspruch laut einer Erhebung von Ende Dezember 2018 auf etwa 16 Prozent (Democratic Initiatives Foundation/Razumkov Centre). Chancen auf einen Einzug in die Stichwahl haben auch der amtierende Präsident Poroschenko, der ehemalige Verteidigungsminister (2005–2007) Anatolij Hryzenko, der von Teilen der reformorientierten proeuropäischen Opposition unterstützt wird, der Führer der »Radikalen Partei« Oleh Ljaschko sowie der frühere Fraktionsvorsitzende des russlandfreundlichen Oppositionsblocks Jurij Bojko. Alle Genannten liegen in den Umfragen derzeit eng beieinander und kommen auf circa 7 bis 13 Prozent. Aussichten auf einen Einzug in die Stichwahl hat auch der Kabarettist und Schauspieler Wolodymyr Selenskyj (knapp 9 Prozent, Democratic Initiatives Foundation/Razumkov Centre). Er ist bislang politisch noch nicht in Erscheinung getreten. Die vergleichsweise hohen Umfragewerte des Newcomers Selenskyj, der in der beliebten Fernsehserie »Diener des Volkes« einen redlichen, unerwartet zum Präsidenten gewählten Lehrer spielt, sind vor allem Ausdruck für einen Vertrauensvorschuss, den Teile der ukrainischen Bevölkerung neuen Gesichtern in der Politik entgegenbringen. Die Veröffentlichung von Selenskyjs Geschäftsbeziehungen nach Russland und seine Verbindungen zum ukrainischen Oligarchen Ihor Kolomojskyj haben jedoch prompt Zweifel an seiner Unabhängigkeit gestreut. Auch der von Teilen des reformorientierten Lagers favorisierte Musiker Swjatoslaw Wakartschuk könnte sich als unverbrauchter Seiteneinsteiger profilieren. Er hat bisher jedoch offengelassen, ob er kandidieren wird.
Refokussierung auf die nationale Sicherheit und Unabhängigkeit
Anders als in weiten Teilen des postsowjetischen Raums stellt die Wiederwahl eines amtierenden Präsidenten in der Ukraine keine Regel, sondern die Ausnahme dar. Auch Poroschenkos Aussichten auf eine zweite Amtszeit waren bislang mäßig. 2014, als er unter dem Eindruck der Annexion der Krim und erster militärischer Auseinandersetzungen im Donbas mit absoluter Mehrheit im ersten Wahlgang zum Präsidenten gewählt wurde, konnte er sich noch als künftiger Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte profilieren. Im Folgenden jedoch war seine Amtszeit von durchwachsenen Reformergebnissen, einer nur schleppenden wirtschaftlichen Erholung und anhaltenden Korruptionsaffären in seinem Umfeld geprägt.
Im Zuge der jüngsten militärischen Eskalation mit Russland im Schwarzen Meer im Spätherbst 2018 hat sich der innerukrainische Diskurs jedoch wieder stark auf die von Russland ausgehende Bedrohung der territorialen Integrität und politischen Souveränität der Ukraine fokussiert. Vor dem Hintergrund der partiellen Verhängung des Kriegsrechts zum Ende des letzten Jahres betrachtet die ukrainische Öffentlichkeit somit auch die Innenpolitik wieder verstärkt durch ein sicherheitspolitisches Prisma. Die neuerliche Zuspitzung des Konflikts mit Russland und der damit einhergehende »rally around the flag«-Effekt dürften dabei im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl insbesondere zum Nachteil der Politikneulinge ausschlagen. Auch die Kampagne Tymoschenkos, die sich bislang vor allem über Kritik an der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung zu profilieren suchte, hat durch die entstandene sicherheitspolitische Diskursdominanz – zumindest vorübergehend – an Zugkraft eingebüßt. Tymoschenko steht nach wie vor in der Kritik, 2009 einen für die Ukraine unvorteilhaften Gasliefervertrag mit dem russischen Präsidenten Putin ausgehandelt zu haben. Poroschenko konnte indes von den jüngsten Entwicklungen profitieren. Ihm kommt dabei zugute, dass seine Kampagne voll und ganz auf Patriotismus setzt. Durch die Loslösung der Orthodoxen Kirche der Ukraine vom Moskauer Patriarchat, die zeitgleich mit dem offiziellen Auftakt des Präsidentschaftswahlkampfs verkündet wurde und ein zentrales Element von Poroschenkos Wahlkampf darstellt, dürfte die Popularität des Amtsinhabers einen weiteren Schub erhalten.
Kein außen- und sicherheitspolitischer Kurswechsel
Von den potentiellen Kandidaten, die derzeit Aussicht auf einen Einzug in die Stichwahl haben, kritisiert vor allem Jurij Bojko die von der Regierung verfolgte euroatlantische Integration. Bojko war bis zuletzt Vorsitzender der Parlamentsfraktion des sogenannten Oppositionsblocks, der nach dem Euromajdan aus Janukowytschs »Partei der Regionen« hervorgegangen ist. Anfang November gab Bojko bekannt, dass der Oppositionsblock ein Bündnis mit der Partei »Für das Leben« des fraktionslosen Abgeordneten Wadym Rabinowytsch geschlossen habe. Bojko soll als gemeinsamer Präsidentschaftskandidat antreten. Rabinowytsch kündigte unterdessen an, auf eine Kandidatur zu verzichten. Bereits zuvor, im Sommer 2018, war Rabinowytschs Partei mit der von Viktor Medwedtschuk initiierten Bewegung »Ukrainische Wahl« fusioniert. Diese Bewegung war seit 2012 vehement gegen die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union eingetreten. Medwedtschuk gilt als enger Vertrauter des russischen Präsidenten Putin. Der vom einflussreichen Oligarchen Rinat Achmetow kontrollierte Flügel des Oppositionsblocks sprach sich jedoch gegen das Bündnis mit Rabinowytsch beziehungsweise Medwedtschuk aus und sorgte damit für Bojkos Ausschluss aus der Fraktion.
Sollte Achmetow, der Teile seines Im- und Exportgeschäfts über den Hafen von Mariupol abwickelt und dementsprechend durch die von Russland initiierten Handelsbeschränkungen im Asowschen Meer unter Druck gesetzt worden ist, Bojko am Ende doch noch unterstützen, würden sich dessen Chancen für einen Einzug in die Stichwahl zwar erhöhen. Dass es jedoch einem prorussischen Kandidaten, der den außen- und sicherheitspolitischen Kurs der Ukraine in Frage stellt, gelingen könnte, in einer Stichwahl eine Mehrheit zu erlangen, ist äußerst unwahrscheinlich. Spätestens seit der Annexion der Krim durch Russland und dem Ausbruch des Krieges im Donbas sind prorussische Positionen in der ukrainischen Gesellschaft nicht mehr mehrheitsfähig.
Katalysator für die Parlamentswahl
Die jüngsten Entwicklungen innerhalb des Oppositionsblocks sind nicht alleine mit Blick auf die Präsidentschaftswahl, sondern auch vor dem Hintergrund der nur wenige Monate später stattfindenden Parlamentswahl zu betrachten. Dieser kommt eine besondere Bedeutung zu: Mit der Rückkehr zu der Verfassungsversion von 2004, die 2014 beschlossen wurde, hat sich das Kräfteverhältnis im semipräsidentiellen Regierungssystem der Ukraine zugunsten des Parlaments und der Regierung verschoben. Der Präsident hat zwar nach wie vor umfangreiche Exekutivkompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik und nominiert sowohl den Außen- als auch den Verteidigungsminister. Der Generalstaatsanwalt und der Chef des Inlandsgeheimdienstes werden ebenfalls vom Präsidenten bestimmt. Die Wahl des Ministerpräsidenten wie auch die Ernennung aller übrigen Kabinettsmitglieder auf dessen Vorschlag sind indes ein exklusives Prärogativ des Parlaments.
Das Parlament ist der Dreh- und Angelpunkt der Einflussnahme konkurrierender Elitengruppen. Zudem ist das ukrainische Parteiensystem kaum konsolidiert und stark personenfixiert. Vor diesem Hintergrund könnten die Parteien jener Kandidaten, die die zweite Runde der Präsidentschaftswahl nicht erreichen, es schwer haben, bei der folgenden Parlamentswahl erfolgreich um Unterstützung – sowohl beim Elektorat als auch bei Sponsoren – zu werben. Dieses Risiko besteht in erster Linie für Poroschenko und dessen Seilschaft. Sollte Poroschenko zur Wahl antreten und die Stichwahl nicht erreichen, würde voraussichtlich auch seine nach ihm benannte Partei erheblich an Einfluss verlieren. Andere Kandidaten können die Präsidentschaftswahl indes nutzen, um durch Achtungserfolge neue politische Parteien populär zu machen. Die Chancen, beträchtlich an Einfluss zu gewinnen, stehen jedoch insbesondere für Tymoschenko gut. Ihr kommt zugute, dass die von ihr geführte Partei »Vaterland« eine etablierte politische Kraft darstellt, die in weiten Teilen des Landes stärker und besser als andere Parteien organisiert ist. Sollte sich Tymoschenko tatsächlich durchsetzen, könnte sich nach den Parlamentswahlen aber auch das Risiko einer politischen Machtkonzentration erhöhen. Ein Präsident ohne den Rückhalt einer mächtigen Parlamentsfraktion wäre indes der Gefahr ausgesetzt, stärker mit möglichen exekutiv-legislativen Konflikten sowie entsprechenden Politikblockaden konfrontiert zu werden. Ein solches Schicksal würde vor allem Außenseitern drohen, zum Beispiel auch Hryzenko. Zwar wird Hryzenko von Teilen der reformorientierten proeuropäischen Opposition unterstützt. Dieser ist es bislang aber noch nicht gelungen, sich zu einer geeinten politischen Kraft zu organisieren. Sollte die Fragmentierung anhalten, schmälert dies ihre Chancen, im Zuge der Parlamentswahlen an Einfluss zu gewinnen.
Günstige Voraussetzungen für die Oligarchen – schlechte für die Umsetzung notwendiger Reformen
Sowohl bei der Präsidentschafts- als auch der Parlamentswahl dürften am Ende vor allem die Oligarchen ihren Einfluss erhöhen. Sie spielen nach wie vor eine sehr bedeutende Rolle im politischen Willensbildungsprozess der Ukraine. Das sich abzeichnende enge Rennen um das Präsidentenamt vergrößert ihre Chancen, mit den finanziellen Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, und dank ihrer Kontrolle über die wichtigsten Massenmedien des Landes ihr politisches Gewicht geltend zu machen. Und auch die Ausgangslage der Parlamentswahl ist für die Einflussnahme der Oligarchen vorteilhaft. Ausschlaggebend hierfür ist vor allem, dass es in den vergangenen Jahren nicht gelungen ist, die von der ukrainischen Zivilgesellschaft und internationalen Akteuren wie der Venedig-Kommission und der OSZE geforderte Wahlrechtsreform umzusetzen. Seit 2012 wird das Parlament in einem gemischten Wahlsystem gewählt, das durch Direktmandate einerseits und landesweite geschlossene Parteilisten andererseits der politischen Korruption Vorschub leistet. Zwar hat das Parlament im Herbst 2017 in erster Lesung den Entwurf eines Wahlgesetzbuchs angenommen, das eine reine Verhältniswahl mit lose gebundenen Listen vorsieht. Dass dieser Entwurf jedoch vor der anstehenden Parlamentswahl verabschiedet wird, ist unwahrscheinlich. Hinzu kommt die unzureichende Reglementierung der Finanzierung von Wahlkampagnen und politischer Werbung. Die Oligarchen werden daher auch bei der diesjährigen Parlamentswahl günstige Voraussetzungen vorfinden, um eigene Stellvertreter in der Legislative zu installieren und politische Verbündete zu protegieren. Entsprechend dürfte sich für reformorientierte Kräfte voraussichtlich der Spielraum verringern, neue Regelungen durchzusetzen, die die Rentenmaximierung der Oligarchen begrenzen und die politische Korruption eindämmen.
Steffen Halling ist Promotionsstipendiat in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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doi: 10.18449/2019A02