Deutschland und andere Staaten werben dafür, einen potentiellen Impfstoff als globales öffentliches Gut zu behandeln, das weltweit gerecht verteilt wird. Doch in der Realität sorgt jeder zuerst für sich selbst. Ein Interview mit Maike Voss über die Herausforderungen der gerechten Impfstoffverteilung.
Candida Splett: Reiche Staaten sorgen über Abnahmegarantien und Vorkaufsrechte dafür, dass ihre Bevölkerungen zuerst geimpft werden. Damit ist ein großer Teil der absehbar vorhandenen Impfdosen bereits verteilt. Der selbst erhobene Anspruch, Impfstoffe global fair zu verteilen, läuft ins Leere. Wie erklären Sie sich das?
Maike Voss: Staaten müssen unterschiedliche Interessen balancieren. Der Schutz der eigenen Bevölkerung steht dabei an erster Stelle. Deutschland will außerdem dem deutschen Unternehmen BioNTech Gewinne sichern. Und dann geht es auch um die moralisch-rechtliche Selbstverpflichtung, den Impfstoff als globales Gut zu behandeln, das für alle Menschen weltweit und unabhängig von ihrer Kaufkraft zugänglich ist. Außenpolitisch hat man sich dafür stark gemacht. Innenpolitisch aber wird das nicht mitgetragen, da geht es vor allem um die eigene Bevölkerung.
Wieso kann man nicht genug Impfstoff für alle produzieren?
Das liegt daran, dass die traditionellen Verfahren in der Forschungsförderung, Produktentwicklung und im Patentsystem dafür sorgen, dass nur die Unternehmen, die den Impfstoff entwickeln, ihn auch produzieren bzw. am Ende vermarkten dürfen. Durch dieses System werden Produktion und Vertrieb künstlich begrenzt.
Wie können Staaten hier Abhilfe schaffen?
Costa Rica hat schon frühzeitig vorgeschlagen, einen von der WHO koordinierten, freiwilligen »Covid-19 Technology Access Pool« einzurichten. Dort würden Daten zu medizinischen Behandlungen und Impfstoffen gesammelt und geistige Eigentumsrechte gebündelt. Bisher wollen sich etwas mehr als 40 Länder beteiligen, das sind allerdings Länder mit eher niedrigem Einkommen und geringen Produktionskapazitäten. Damit das Verfahren funktioniert, müssten sich Pharmaunternehmen beteiligen, die freiwillig ihre Patente in den Pool geben, und möglichst viele Staaten mit großen Produktionskapazitäten. Dann könnten Impfstoffe, Medikamente und Diagnostika kostengünstig, in großem Umfang und schnell nachproduziert werden. Das wird wohl auf diesem Weg nicht klappen. Aber auch die Welthandelsorganisation könnte Abhilfe schaffen.
Wie sähe das aus?
Südafrika und Indien schlagen dort den vorübergehenden Verzicht auf bestimmte Verpflichtungen in den TRIPS-Abkommen zum Schutz des geistigen Eigentums vor. Ziel ist es, allen Mitgliedstaaten die Möglichkeit zu geben, für den Zeitraum der Pandemie den Schutz des geistigen Eigentums für Covid-19-Impfstoffe auszusetzen und keine Patente dafür zu vergeben. So könnten Produkte nachproduziert und importiert werden, ohne Handelskonflikte zu riskieren. Jedoch muss dieser Vorstoß von einer Zweidrittelmehrheit der WTO-Staaten mitgetragen werden, die bisher nicht vorliegt. Immerhin haben einige Unternehmen signalisiert, individuell von ihrem Patentrecht zurückzutreten, damit andere Hersteller die Impfstoffe schnell nachbauen können. Die wichtigen Impfstoffhersteller in Deutschland und den USA sind aber nicht dabei.
Wie funktioniert die Impfstoffplattform COVAX zur gerechten Verteilung von Impfstoffen in der Theorie?
COVAX ist ein von der WHO, der Impfallianz Gavi und der Forschungsplattform CEPI koordinierter Verteilungsmechanismus, an dem sich momentan mehr als 180 Staaten beteiligen, womit rund 90 Prozent der Weltbevölkerung abgedeckt sind. Zunächst sollen dort alle Staaten Impfstoffe für drei Prozent, anschließend für zwanzig Prozent ihrer Bevölkerungen beziehen können.
Wird das in der Praxis funktionieren?
Nein. Viele Staaten haben sich, vor und während des Aufbaus von COVAX, schon direkt bei den Herstellern Impfstoffe gesichert und damit den Markt leergekauft. Daher sind sie an COVAX nur als Geber beteiligt, die für Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen Impfstoffe finanzieren. Aber weder reichen die bereitgestellten Gelder aus, noch gibt es genug Impfstoffe, die COVAX kaufen könnte. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Staaten selbst nicht über den Mechanismus beziehen und COVAX damit wenig Macht in den Preisverhandlungen mit den Herstellern hat. Insofern unterwandern die reichen Staaten COVAX, auch wenn sie zahlen – preisen aber paradoxerweise gleichzeitig die Idee des Impfstoffs als globales öffentliches Gut.
Was können Deutschland und andere reiche Staaten jetzt noch tun, damit COVAX ins Rollen kommt?
Die meisten Staaten haben ja viel mehr Impfstoffdosen reserviert, als ihre Bevölkerungen brauchen. Daher könnten sie zehn bis zwanzig Prozent davon – Frankreich hat das schon angekündigt – an COVAX abgeben. Das wird wahrscheinlich passieren, schon allein aus Gründen der Gesichtswahrung. Das ideale, aber unrealistische Szenario ist, dass Deutschland und weitere Staaten, etwa die G7, sich darauf einigen, die gesamten vorab gesicherten Impfstoffdosen an COVAX abzugeben und selbst auch darüber zu beziehen. Außenpolitisch wäre das ideal, aber innenpolitisch nicht zu verkaufen. Da ist in Deutschland schon die Erwartung geweckt worden, dass der Impfstoff im Dezember kommt. Die muss jetzt erfüllt werden.
Wie kann man diese kommunikative Diskrepanz zwischen Innen- und Außenpolitik verringern?
Wenn Deutschland einen Anteil seiner reservierten Dosen an COVAX abgibt, ist es wichtig, das gut zu kommunizieren: Es sollte betont werden, dass damit an erster Stelle Gesundheitsfachkräfte geimpft werden, wie es die WHO empfiehlt. Deutschland könnte sich außerdem dafür einsetzen, dass die humanitären Kontingente in COVAX befüllt werden, die für Menschen in Krisen- und Fluchtsituationen gedacht sind. Auch bilateral kann man für solche Kontingente sorgen. Und schließlich kann Berlin entwicklungspolitisch zur Verbesserung der Sicherheit und Logistik der Lieferketten von Impfstoffen, Medikamenten und diagnostischen Tests beitragen. Ein Impfstoff wird bald das rarste Gut auf der Welt sein. Wir werden viel über Arzneimittelkriminalität, auch über Angriffe auf Impfstoffkonvois hören. Dass man hier gegensteuern muss, wird die Mehrheit der Deutschen verstehen.
Nächste Woche erscheint die SWP-Studie »Internationale Politik unter Pandemiebedingungen: Tendenzen und Perspektiven für 2021«, die u.a. einen Beitrag von Maike Voss mit zwei Szenarien zur Impfstoffverteilung enthält.
Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion der SWP.
Tendenzen und Perspektiven für 2021
doi:10.18449/2020S26
Beitrag zu einer Sammelstudie 2020/S 26, 17.12.2020, 90 Seiten, S. 40–44
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