Auf die Machtübernahme der Taliban haben die zentralasiatischen Nachbarn Afghanistans überwiegend pragmatisch reagiert. Für die autokratisch regierten, säkularen Staaten an der Peripherie des ehemaligen sowjetischen Imperiums stehen die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem südlichen Nachbarn und eine dafür notwendige rasche Stabilisierung der humanitären und politischen Verhältnisse im Vordergrund des Interesses. Folgt man offiziellen Darstellungen, so wird Zentralasiens gefestigte Säkularität durch den Islamismus der Taliban nicht herausgefordert. In den sozialen Medien zentralasiatischer Länder dagegen erscheint das islamische Emirat der Taliban als politisches Gegenmodell, dessen Bewertung umso positiver ausfällt, je größer die diskursiven Freiräume in den einzelnen Staaten sind und je offener die Regierungspolitik selbst den Taliban begegnet. Dies offenbart einen Trend hin zu islamistisch inspirierten Identitätsbildungen, den Zensur und Repression kaum aufhalten werden.
Die Geschwindigkeit, mit der die Taliban im Frühsommer 2021 Afghanistan eroberten und im August die Hauptstadt Kabul einnahmen, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, kam auch für Afghanistans zentralasiatische Nachbarn überraschend. Turkmenistan, Kirgistan und besonders Usbekistan hatten zwar bereits zuvor Kontakte zu den Taliban unterhalten, doch beschränkten sich diese auf Vertreter des für die Außenpolitik zuständigen Flügels der Taliban. Genauere Kenntnis der militärischen Strategie der Bewegung und ihrer internen Strukturen besaßen die Nachbarn offenbar ebenso wenig wie die in Afghanistan operierenden westlichen Akteure.
Gleichwohl fällt auf, wie rasch sich die Regierungen in den säkularen Staaten Zentralasiens zu einem pragmatischen Kurs im Umgang mit dem islamistischen De-facto-Regime der Taliban entschlossen haben. Lediglich Tadschikistan hat das Bedrohungsszenario eines Übergriffs von Taliban-Milizen auf das eigene Land in den Vordergrund gerückt und sich – vor allem mit russischer Hilfe – militärisch dagegen gewappnet. Für die anderen beiden Afghanistan-Anrainer, Usbekistan und Turkmenistan, spielen solche Bedrohungsperzeptionen eine untergeordnete Rolle und auch in Kasachstan und Kirgistan werden die Taliban nicht als unmittelbare Gefahr wahrgenommen.
Vor allem Usbekistan und Turkmenistan, aber auch Kasachstan verbinden ausgeprägte wirtschaftliche Interessen mit Afghanistan. Diese knüpfen sich an den Handel und den Ausbau der Infrastruktur für den Transport von Waren und Energie nach und durch Afghanistan. Besonders für Usbekistan und Turkmenistan sind die betreffenden Projekte – der Ausbau der Eisenbahnlinie Mazar-i Sharif-Kabul-Peschawar, des usbekisch-afghanischen Stromnetzes und der Bau einer Gaspipeline von Turkmenistan nach Indien – von vitaler Bedeutung. Gleichzeitig haben sich die Regierungen beider Länder mit den Taliban dahingehend verständigt, dass eine Zusammenarbeit die Unantastbarkeit der jeweiligen Landesgrenzen voraussetzt. Sowohl in Taschkent als auch in Aschgabad vertraut man darauf, dass die Taliban ihr Versprechen halten und ein eventuelles Übergreifen islamistischer Militanz, sei es aus den eigenen Reihen, sei es durch konkurrierende jihadistische Gruppierungen, verhindern werden. Vorsichtshalber haben beide Nachbarn dieses Arrangement durch militärische Maßnahmen zur Grenzsicherung flankiert, die Abwehrbereitschaft demonstrieren und die Taliban auf Abstand halten sollen.
Islamistische Herausforderungen
Die Bedrohung, die von jihadistischen Gruppen ausgeht, ist für die säkularen Staaten Zentralasiens besonders bedeutsam, denn diese haben ein schwieriges Verhältnis zum Islam. Die Religion gilt zwar als elementarer Bestandteil der Nationalkultur und »muslimische« Werte und Moralvorstellungen werden als grundlegend für den sozialen Zusammenhalt verteidigt – auch und gerade gegenüber dem Geltungsanspruch liberal-universalistischer Normen. Doch sehen sich Zentralasiens autoritäre Machthaber mit Akteuren konfrontiert, die islamischen Rechts- und Ordnungsvorstellungen mehr Gewicht verschaffen wollen. Vor allem in Usbekistan und Tadschikistan, beides unmittelbare Nachbarn Afghanistans, haben islamistische Gruppierungen und Bewegungen in der Vergangenheit bereits für einen islamischen Staat gekämpft, teils mit friedlichen Mitteln, teils mit Gewalt. In beiden Ländern war es gelungen, die Islamisten außer Landes zu treiben oder sie durch strikte Kontrolle und Repression zu neutralisieren und den entsprechenden Bewegungen so den Boden zu entziehen. Deren Anhänger schlossen sich dann vielfach islamistischen Verbänden im Ausland an – dem ersten Islamischen Emirat der Taliban (1996–2001) oder dem Islamischen Staat (IS) in Syrien und dem Irak (2013–2017). So wird die Zahl der aus Zentralasien stammenden Kämpfer in den Reihen des IS auf mindestens 5.000 geschätzt, die Mehrzahl von ihnen kam aus Tadschikistan und Usbekistan.
Nach der Bereinigung des religiösen Feldes von der islamistischen Konkurrenz übernahmen die autoritären Machthaber in Usbekistan und Tadschikistan mehr oder weniger unangefochten die Deutungshoheit in religiösen Fragen. Während dieser Prozess in Usbekistan schon in den 1990er Jahren mit der Vertreibung der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU) begann, gelang es dem Staat in Tadschikistan erst 2015 mit dem Verbot der Partei der Islamischen Wiedergeburt (PIWT), die Vorherrschaft auf dem Gebiet der Religion zu erringen. Auch in Tadschikistan ist seither der staatskonforme, mit säkularen Prinzipien kompatible Islam hanafitischer Prägung, den die säkularen und religiösen Eliten im postsowjetischen Zentralasien kultivieren, Teil der inoffiziellen Staatsdoktrin.
Die Taliban aus Sicht der Eliten
Vor allem im außenpolitischen Diskurs Usbekistans spielt der Verweis auf transnationale historische Bezüge, kulturelle Gemeinsamkeiten und geteilte Werte eine wichtige Rolle, um das pragmatische Interesse an der Zusammenarbeit mit den Taliban zu unterfüttern. Große Bedeutung wird muslimischen Rechtstraditionen und davon abgeleiteten theologischen Grundüberzeugungen beigemessen, die Zentralasiens sunnitische Muslime mit den (ebenfalls sunnitischen) Taliban verbinden. In der Tat gehen deren Rechtsvorstellungen auf einen Zweig der hanafitischen Rechtsschule, die Maturidiyya, zurück. Diese entstand im 10. Jahrhundert in Samarkand (heute Usbekistan) und prägt maßgeblich das Selbstverständnis der zentralasiatischen Religionsgelehrten. Auch der religiöse Purismus der Taliban ist dem muslimischen Establishment in Zentralasien nicht fremd: Schon während der Sowjetzeit hatten reformistische Strömungen des Islams in Zentralasien Einzug gehalten; sie begünstigten später die Verbreitung neo-salafistischer Lehren. In den radikalen Ausprägungen, wie sie die Taliban propagieren, haben sie sich in Zentralasien jedoch nicht durchgesetzt. Stattdessen kultiviert der lokale muslimische Klerus die Tugenden der Mäßigung und der Toleranz. Vor allem aber ist in Zentralasien das Prinzip des (säkularen) Nationalstaats unumstritten; die Idee eines islamischen Kalifats ist demgegenüber keine Option.
Vor dem Hintergrund der gefestigten Säkularität erscheinen den staatlichen Eliten in Zentralasien die Beziehungen zu den Taliban politisch unbedenklich und im Lichte der religiösen und kulturellen Gemeinsamkeiten naheliegend. Auf das Verbindende rekurrieren auch muslimische Autoritäten, die der Politik die theologischen Argumente für die Akzeptanz der Taliban liefern. Die Reden solcher Autoritäten lassen erkennen, dass sich diese keineswegs als bloße Sekundanten der Politik verstehen. Vielmehr gehen sie weit über das hinaus, was offizielle Verlautbarungen über die staatliche Perzeption der Taliban preisgeben. So vermitteln die Vorträge eines populären usbekischen Predigers ein Bild von den Taliban, das diese als gleichsam natürliche Verbündete Usbekistans erscheinen lässt. Die Taliban werden mit den Basmachi verglichen, muslimischen Guerillakriegern, die nach der Eroberung Zentralasiens gegen die Bolschewiki kämpften. Ebenso wie diese Rebellen wollten die Taliban vor allem eines: das Land von den westlichen Besatzungsmächten befreien. Die afghanische Bevölkerung, der die korrupte, vom Westen gestützte Regierung verhasst gewesen sei, stehe deshalb auch auf der Seite der Taliban. Anders als die Terrororganisation des IS strebten die Taliban eine friedliche regionale Ordnung an und respektierten die territoriale Integrität der Nachbarstaaten. Die Machtübernahme der Taliban sei folglich uneingeschränkt zu begrüßen.
Die Taliban in sozialen Medien
Die wohlwollende Beurteilung der Taliban durch die außenpolitischen Eliten und das positive Bild, das religiöse Autoritäten in Usbekistan von den Taliban vermitteln, spiegeln sich auch in den sozialen Medien wider. In den dortigen Kommentaren und Diskussionsbeiträgen wird es sogar noch zugespitzt. Usbekistans Reformpolitik hat eine Öffnung der Medienlandschaft ermöglicht und diskursive Freiräume geschaffen, die von der Gesellschaft genutzt werden. So zeigt eine Analyse der Kommentare zu Artikeln und Videos auf populären Nachrichtenkanälen im Zeitraum Mai 2021 bis Januar 2022, dass viele usbekische Nutzerinnen und Nutzer die Machtübernahme der Taliban nicht nur begrüßen, sondern in den Taliban sogar ein Vorbild für das eigene Land sehen.
Ein wiederkehrendes Motiv der Debatten in den sozialen Medien ist dabei das nicht nur in islamistischen Kreisen populäre Narrativ vom Kampf des Westens (insbesondere der USA) gegen die Muslime. Ziel des Westens sei es, Zwietracht zwischen den Muslimen zu säen und so den Islam zu schwächen. In dieser Erzählung, die an eschatologisch-apokalyptische Traditionen des Islams anknüpft, erscheint die Machtübernahme der Taliban als wichtiger Etappensieg. Auch der Vergleich mit den Basmachi wird in den Social-Media-Kommentaren wiederholt herangezogen, ihr Kampf gegen die Sowjetherrschaft ebenfalls vor dem Hintergrund der universellen Auseinandersetzung zwischen Muslimen und Ungläubigen gedeutet.
Ein weiterer wiederkehrender Topos in den sozialen Medien ist die Scharia. Darunter verstehen die Userinnen und User die von den Taliban eingeführten strengen Kleidervorschriften für Frauen, das Verbot von Drogen und Genussgiften, die Ächtung von Musik und Tanz und die archaischen Körperstrafen bei Verstößen gegen die Rechtsnormen der Taliban. Während die weibliche Körperverhüllung vor allem von männlichen Teilnehmern befürwortet wird und bei Frauen tendenziell auf Kritik stößt, ist ein solcher Bias in den Kommentaren, die sich auf die sonstigen Gesetze der Taliban beziehen, nicht erkennbar. So werden drakonische Strafen und die öffentliche Zurschaustellung von Hingerichteten von den Nutzerinnen und Nutzern mehrheitlich als wirksame Instrumente zur Bekämpfung von Kriminalität und Korruption gewertet, die auch in Usbekistan zur Anwendung kommen sollten.
Auch in tadschikischen Kommentaren zur Berichterstattung über die Taliban werden deren Rechtsvorstellungen vielfach positiv bewertet. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil die staatliche Führung eine konfrontative Haltung gegenüber den Taliban einnimmt, die von den gleichgeschalteten Medien des Landes folgsam vertreten und verbreitet wird. In den staatlichen und staatsnahen Kommunikationsorganen werden die paschtunischen Gotteskrieger stereotyp als Feinde der Tadschiken beschrieben, gegenüber denen maximale Wachsamkeit vonnöten sei. Dem stimmt eine Mehrheit der Kommentatorinnen und Kommentatoren in den sozialen Medien – sei es aus Überzeugung, sei es aus Opportunismus – zu.
Viele von ihnen kritisieren jedoch auch die »Islamfeindlichkeit« des Regimes von Präsident Rahmon und die negative Berichterstattung über die Taliban, die als Propaganda der »Ungläubigen« gewertet wird. Dies lässt sich mindestens als Distanzierung vom staatlichen Narrativ deuten und den vorsichtigen Schluss zu, dass die Zahl derer, die mit dem Islamismus sympathisieren, erheblich größer ist als die analysierten Kommentare in sozialen Medien vermuten lassen.
Wider die »Talibanisierung«
Der staatlich gelenkte Diskurs in Tadschikistan zielt erkennbar darauf ab, durch Kontrolle und strikte Zensur, durch vehemente Agitation gegen die Taliban und ethnisch-nationale Mobilisierung einer Solidarisierung im Namen des Islams vorzubeugen. In ihrer Geschlossenheit und Konsistenz ist Tadschikistans staatliche Propaganda der Ausnahmefall in der Region. In Kirgistan und Kasachstan fürchtet man weniger die Taliban selbst als die islamistischen »Schläferzellen« im eigenen Land. Auch in Usbekistan rechnet man mit der Existenz eines gewaltbereiten islamistischen Untergrunds, der durch den Aufstieg der Taliban wieder erstarken und vor allem dem IS Unterstützer zuführen könnte.
Der afghanische IS-Ableger »Provinz Khorasan« (ISPK) konnte seit dem Abzug der Nato aus dem Land am Hindukusch seine Aktivitäten erheblich ausweiten und hat, anders als die Taliban, auch Afghanistans zentralasiatische Nachbarn im Visier. Der ISPK versucht insbesondere usbekische Jihadisten an sich zu binden, indem er die Gegnerschaft zwischen den Taliban und der IBU, die sich 2015 dem IS angeschlossen hat, propagandistisch ausschlachtet. Die Zusammenarbeit zwischen den Taliban und dem säkularen Regime in Taschkent, das in der Vergangenheit eine repressive Religionspolitik verfolgt hat, dient dem ISPK dabei als zusätzliches Argument, um Usbeken für den Kampf gegen die Taliban zu gewinnen.
Der Propaganda radikaler Gruppen versuchen die staatlichen Behörden in Zentralasien durch den Einsatz militärischer, polizeilicher und pädagogischer Mittel vorzubeugen. Mit der Stärkung militärischer Abwehrbereitschaft und durch die Sicherung der Landesgrenzen will man verhindern, dass Islamisten aus Afghanistan in die nördlichen Nachbarländer einreisen. Die restriktive Flüchtlingspolitik der Afghanistan-Anrainer ist nicht zuletzt auf solche Befürchtungen zurückzuführen. Auch die Kontrolle der religiösen Szene in den Staaten Zentralasiens selbst ist seit der Machtübernahme der Taliban rigider geworden. So wurde seit August 2021 vermehrt von Razzien und Verhaftungen im islamistischen Milieu berichtet – vor allem in Kirgistan und Usbekistan. Dort arbeitet man zudem an einem Aktionsplan zur Extremismus- und Terrorismusbekämpfung, der zunächst für den Zeitraum 2022–2026 gelten soll.
Vor allem aber durch pädagogische Initiativen versuchen die zentralasiatischen Regierungen, einer »Talibanisierung« im eigenen Land vorzubeugen. Staatliche und religiöse Institutionen und Akteure sind gehalten, ihre Ressourcen zu bündeln, etwa indem sie Bildungsmaßnahmen durchführen, die dazu beitragen sollen, die Bevölkerung gegen extremistisches Gedankengut zu immunisieren. Imame werden angewiesen, Aufklärungsgespräche mit Moscheebesuchern zu führen und die Gläubigen vor den Gefahren zu warnen, die von Extremismus und Terrorismus ausgehen. In Usbekistan werden die Imame dabei durch zusätzliches Personal aus der geistlichen Verwaltung unterstützt. Unter dem Motto »Aufklärung wider die Unwissenheit« sollen diese geschulten Kräfte den Menschen den »wahren Islam« nahebringen und sie gegen die Bedrohung durch extremistische Indoktrination schützen.
Die Anhänger radikaler Überzeugungen werden sich durch solche pädagogischen Maßnahmen freilich nicht umstimmen lassen – zumal die Extrempositionen, die der Staat bekämpfen will, von der religiösen Elite zumindest toleriert, teils sogar offen propagiert werden. Nützlich sind die Dialog- und Bildungsinitiativen trotzdem, denn mit ihrer Hilfe lässt sich die Szene immerhin im Blick behalten. Dies dürfte sich für die Prävention von islamistisch inspirierter Gewalt langfristig als wirksamer erweisen als scharfe Zensur und Repression, die keinen Raum für Grauzonen lässt und auch Angehörige des gemäßigten Spektrums in den Untergrund treibt. Die Sympathien für die Taliban, die in den sozialen Medien zum Ausdruck kommen, offenbaren einen Trend hin zu islamistisch inspirierten Identitätsbildungen in Zentralasien, der nicht jedem gefallen mag. Eine repressive Religionspolitik wird diesen Trend aber kaum aufhalten, sondern lediglich unsichtbar machen.
Dr. Andrea Schmitz ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
Für die Datenerhebung in den sozialen Medien danke ich Shokirjon Shokirov, M.A.
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doi: 10.18449/2022A15