Die Welthandelsorganisation (WTO) befindet sich in der größten Krise seit ihrer Gründung im Jahr 1995. Seit dem 10. Dezember 2019 ist die Berufungskammer der WTO nur noch mit einem Richter besetzt. Um Streitfälle zu schlichten, sind mindestens drei Richter nötig. Die Vereinigten Staaten blockieren jedoch die Ernennung neuer Juristinnen und Juristen für die Kammer; zudem verwehrt die US-Regierung der WTO sämtliche Zahlungen für die Finanzierung des Berufungsgremiums. Damit ist es faktisch lahmgelegt. Was auf den ersten Blick wie eine reine Verfahrensfrage aussieht, könnte die internationalen Handelsbeziehungen erheblich stören und letztlich zur Auflösung der bestehenden Welthandelsordnung führen. Die EU und gleichgesinnte Partner haben drei Optionen, die Blockade der WTO-Streitschlichtung aufzulösen: Erstens könnten sie abwarten und versuchen, mit der Trump-Regierung weiter über eine von Washington geforderte umfassende WTO-Reform zu verhandeln. Zweitens könnte die EU als Zwischenlösung einen alternativen Mechanismus zur Schlichtung von Streitfällen innerhalb der WTO anstreben, im besten Fall über eine plurilaterale Vereinbarung zwischen möglichst vielen WTO-Mitgliedstaaten. Drittens ist die Suche nach einer Streitbeilegung außerhalb der WTO denkbar. Jede dieser Optionen könnte scheitern, vor allem weil unklar ist, welche Verhandlungsziele die Trump-Regierung verfolgt.
Im Juni 2017 begannen die US-Vertreter bei der WTO in Genf, die Einleitung eines Auswahlverfahrens für neue Mitglieder des Berufungsgremiums der WTO zu blockieren. Die Berufungskammer ist ein ständiges Gremium und wird von den Mitgliedstaaten in Fällen angerufen, in denen eine Partei Einwände gegen eine erstinstanzliche Entscheidung des Dispute Settlement Body erhebt. Die Entscheidungen der zweiten Instanz sind abschließend und verbindlich. Seit 2017 endeten die Amtszeiten dreier Mitglieder des Berufungsgremiums turnusmäßig nacheinander, ein weiteres Mitglied trat zurück, während die USA die Ernennung neuer Mitglieder verhinderten. Damit standen der Berufungskammer zuletzt nur noch drei ihrer üblichen sieben Richter zur Verfügung, was bereits seit Monaten ihre Funktionsfähigkeit beeinträchtigte. Nach den WTO-Regeln sind mindestens drei Richter erforderlich, um überhaupt in einem Verfahren tätig zu werden. Die Amtszeiten von zwei der drei verbliebenen Mitglieder sind am 10. Dezember 2019 ausgelaufen. Seither kann die Kammer keine Berufungen mehr anhören.
Zwischen 1995 und 2014 fochten die Streitparteien 67 Prozent aller Panelberichte an. Sollte das Berufungsgremium außer Kraft gesetzt bleiben, können einzelne WTO-Mitglieder die Annahme von Panelentscheidungen, gegen die sie Einspruch erheben, dauerhaft blockieren, indem sie Berufungen einlegen, die nicht mehr gehört werden können. Verärgerte Streitparteien, deren Beschwerden in der Schwebe bleiben, könnten dazu übergehen, einseitige Gegenmaßnahmen gegen mutmaßliche Regelverstöße zu ergreifen. Infolgedessen könnten Streitigkeiten, die derzeit unter den Streitbeilegungsmechanismus der WTO fallen, eine Kette von Vergeltungsmaßnahmen und viele kleinere Handelskriege auslösen.
Die WTO ruht grundsätzlich auf zwei institutionellen Säulen: Das Verhandlungsforum (Allgemeiner Rat) ermöglicht den Mitgliedstaaten, Handelsregeln auf der Grundlage des Konsenses aller zu ändern und hinzuzufügen. Die zweite Säule ist das Streitbeilegungssystem. Daher könnte eine anhaltende Blockade der WTO-Streitschlichtung den Zusammenbruch der bestehenden Welthandelsordnung herbeiführen.
Die Krise der WTO: Ein Rückblick
In den letzten 30 Jahren sind im Welthandelsregime viele Herausforderungen entstanden; zu den schwierigsten gehören die Reformträgheit der WTO in Zeiten dynamischer Globalisierung und die Spaltung zwischen Entwicklungs- und Industrieländern. Die offene Ablehnung des WTO-Regimes durch die Trump-Administration, die die Blockade des Streitbeilegungssystems hervorgerufen hat, ist unter anderem auf diese Probleme zurückzuführen. Ein weiterer Grund ist die Skepsis gegenüber supranationaler Gerichtsbarkeit.
Vom GATT zur WTO
In den 1990er Jahren schlossen die Mitglieder des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT, 1947) die Uruguay-Runde (1986–1994) ab, die achte erfolgreiche Liberalisierungsrunde des internationalen Handelssystems in Folge. Die USA unter Präsident Bill Clinton waren der entscheidende Treiber. Die Uruguay-Runde brachte bedeutende Änderungen und Reformen in der Gesamtarchitektur und im Geltungsbereich des multilateralen Handelssystems. Im Gegensatz zu vielen Entwicklungsländern unterstützten die EU, Japan und Südkorea die Agenda der Uruguay-Runde. Ein wesentliches Ziel der USA war es, den Diebstahl geistigen Eigentums durch private und staatliche chinesische Unternehmen zu begrenzen, aber auch Patentrechte für im Ausland tätige US-Firmen (z. B. in der pharmazeutischen Industrie und der Landwirtschaft) zu sichern. Dies führte zum TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights), das seit 1994 das GATT ergänzt. Ein weiterer Durchbruch war das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), das die Liberalisierung des Dienstleistungshandels regelt.
Zwischen den USA und der EU herrschte während der Verhandlungen lange Uneinigkeit über den Agrarhandel, den Marktzugang, über Dienstleistungen und Antidumpingvorschriften, ebenso über die Schaffung einer Welthandelsorganisation. 1995 schließlich hat die WTO das GATT als Organisation abgelöst; sie fungiert als Dach des reformierten Systems, das das GATT (1994) sowie alle anderen seit 1947 ausgehandelten Abkommen umfasst. 1993 wurde die Uruguay-Runde abgeschlossen, das Abkommen im April 1994 von 123 Regierungen in Marrakesch, Marokko, unterzeichnet.
Das Streitbeilegungssystem war bereits in Verhandlungen 1988 gestrafft worden, als eine neue systematische und regelmäßige Überprüfung der nationalen Politiken und Praktiken im Rahmen des Trade Policy Review Mechanism vereinbart wurde.
Vermächtnis der Uruguay-Runde
Die Uruguay-Runde brachte die sogenannte »Built-in Agenda« hervor, der zufolge nach Abschluss dieser Runde einzelne Themen weiter verhandelt werden sollten. Auch veränderten sich in ihrer Folge die Beziehungen zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern. Letztere wurden aktiver und identifizierten Politikbereiche, für die sie sich engagierten; ferner wurden sie Partner in einer wachsenden Zahl von Präferenzabkommen. Indien, ein Gründungsmitglied des GATT, war während der gesamten Handelsrunde das führende Entwicklungsland. Bereits seit den 1980er Jahren stellten die Entwicklungsländer zwei Forderungen mit Blick auf weitere Verhandlungsrunden: Sie wollten erstens eine Rücknahme der GATT-inkonsistenten Maßnahmen, zweitens ein Aussetzen jener Handelsmaßnahmen, die hauptsächlich die USA verlangten. Die Geschwindigkeit und der Umfang der von den führenden Industriestaaten vorangetriebenen handelspolitischen Prioritäten kollidierten mit den begrenzten Kapazitäten der Entwicklungsländer, weitere neue Regeln umzusetzen. Auch deshalb formulierten die Entwicklungsländer gemeinsame Interessen.
Die Situation änderte sich erneut mit der Uruguay-Runde. Brasilien und Indien fingen an, hinter den globalen Liberalisierungstrends zurückzubleiben, für die sich andere Länder geöffnet hatten – einschließlich China, das seit 1984 Beobachter war und 1986 den Beitritt zum GATT beantragt hatte. Die fortgesetzten Verhandlungen der »Built-in Agenda« und die von den USA unterstützte Erweiterung der Handelsfragen auf geistiges Eigentum und andere Themen stellten enorme Anforderungen an die meisten Entwicklungsländer. Die Ende 2001 eingeleitete Doha-Runde griff daher deren Forderungen auf, die »Built-in Agenda« von 1994 mit einer Wiederaufnahme von Gesprächen über Landwirtschaft und Dienstleistungen zusammenzuführen. Wegen der Kritik der Entwicklungsländer an der Uruguay-Runde beschlossen die WTO-Minister, Entwicklungsfragen in den Mittelpunkt der Verhandlungen zu stellen (Doha-Entwicklungsrunde).
Im Zuge der Doha-Entwicklungsrunde 2003 stellten 20 größere WTO-Mitglieder, die zu den Entwicklungsländern gehören (WTO G20), darunter Indien, China, Indonesien und Mexiko, auf der WTO-Ministerkonferenz in Cancún offen die Dominanz der USA und der EU in Frage. Während die EU auf die sogenannten Singapur-Themen (u. a. öffentliches Beschaffungswesen, Handelserleichterung, Handel und Investitionen, Handel und Wettbewerb) drängte, forderten die USA von den Entwicklungsländern eine Senkung der Industriezölle als Gegenleistung für die Senkung der Agrarzölle.
Im Sommer 2006 brachen die Gespräche ab, vor allem weil sich die USA, die EU, Indien, Brasilien, Japan und Australien nicht einigen konnten über einzelne Punkte zum Agrarhandel (z. B. Abbau von US-Subventionen) und auf eine Senkung der Industriezölle nach der Schweizer Formel, einem Instrument zur Berechnung des Zollsenkungssatzes. Das Ende der Verhandlungen illustriert einmal mehr die veränderten geopolitischen Realitäten.
Seit Jahren äußern die USA immer wieder ihre Bedenken gegenüber dem multilateralen Handelssystem, ebenso darüber, dass aufstrebende Wirtschaftsmächte wie China und Indien für sich den Status eines Entwicklungslandes in Anspruch nehmen. Überdies haben die USA die allgemeine Unfähigkeit der WTO kritisiert, marktverzerrende Praktiken einzuschränken, wie Subventionen und Dumping, Diebstahl geistigen Eigentums und erzwungenen Technologietransfer, vornehmlich durch China. Die WTO-Verhandlungen über diese Fragen wurden behindert durch das Konsenserfordernis und, wie die Trump-Administration argumentiert, durch den »justiziellen Aktionismus« des Berufungsgremiums, das die WTO-Mitglieder ermutige, Privilegien eher durch Rechtsstreitigkeiten als durch Verhandlungen zu erlangen.
Wandel der US-Position gegenüber China
Der WTO-Beitritt Chinas am 11. Dezember 2001 wurde anfangs von beiden politischen Parteien in den Vereinigten Staaten mehrheitlich begrüßt. Die Clinton-Regierung, die die Beitrittsverhandlungen geleitet hatte, und ein Großteil der US-Unternehmen erwarteten große Vorteile durch sinkende Importpreise und damit fallende Produktionskosten. Darüber hinaus erhoffte sich die US-Wirtschaft hohe Gewinne aus dem Zugang zu chinesischen Dienstleistungsmärkten (Telekommunikation, Finanzen, Versicherungen). Die US-Regierung hatte den Chinesen schon seit 1979 »normale Handelsbeziehungen« (das Äquivalent zum Meistbegünstigungsstatus der WTO) angeboten, die allerdings jährlich vom Kongress überprüft und neu genehmigt werden mussten. Washingtons Zustimmung zu Chinas WTO-Beitritt war also keinesfalls überstürzt.
Ein Jahrzehnt später jedoch kippte die Stimmung in den USA. Aus einer zunächst rein akademischen Debatte über das Ausmaß und die Bedeutung des »China-Schocks« für lokale Arbeitsmärkte und das wirtschaftliche Wachstum wurde eine hochpolitisierte Debatte über Chinas aggressive wirtschaftliche Maßnahmen.
Die US-Politik gegenüber China war indessen schon vor Trumps Wahl zum US-Präsidenten an einem Wendepunkt angelangt. Im September 2009 führte Präsident Barack Obama erstmals Zölle ein, um einen Anstieg der Reifenimporte aus China in die USA zu bremsen. In der offiziellen Trade Agenda von 2010 wurden außerdem chinesische Handelspraktiken beanstandet, die US-Unternehmen schadeten, darunter »ungerechtfertigte« Beschränkungen für US-Agrarexporte nach China, Beschränkungen beim Erwerb von Vertriebsrechten für amerikanische Unternehmen in China sowie chinesische Exportbeschränkungen für Rohstoffe, die bestimmte US-Unternehmen für die eigene Produktion benötigen.
Zwischen 2009 und 2016 reichte der Handelsvertreter der Vereinigten Staaten (USTR) 13 WTO-Klagen gegen China ein, die alle zugunsten der USA beigelegt oder entschieden wurden. Des Weiteren hat die Obama-Regierung ab 2009 zahlreiche Antidumping- und Ausgleichszölle auf chinesische Waren eingeführt. Bevor US-Präsident Trump im Frühjahr 2018 einseitige Zölle von 25 Prozent auf Stahl und 10 Prozent auf Aluminium verhängt hat, hatten die von seinem Vorgänger getroffenen Maßnahmen bereits dazu geführt, dass nahezu gar keine direkten Stahlimporte aus China mehr auf den US-Markt gelangten. Trotzdem wuchs während der Obama-Jahre der Unmut gegenüber der WTO-Streitschlichtung. Anlass boten mehrere wegweisende Entscheidungen der WTO-Berufungskammer dagegen, dass die USA Schutzmaßnahmen (trade remedies) einsetzten.
So erklärte die Berufungskammer das »Zeroing« für unzulässig, eine Methode zur Berechnung der Dumpingspannen für Einfuhren, die als Grundlage für Einfuhrzölle herangezogen werden. Auch die gleichzeitige Einführung von Antidumping- und Ausgleichsmaßnahmen gegenüber chinesischen Importen (double remedy) wurde als unzulässig beschieden. Die Obama-Regierung wertete dies als Beleg für den von ihr beklagten »justiziellen Aktionismus« der Berufungskammer, der zu Lasten der US-Wirtschaft gehe. Darüber hinaus bekräftigte die US-Handelsbehörde in den letzten Jahren wiederholt ihre Unzufriedenheit darüber, dass die bestehenden WTO-Regeln unzureichend seien, um China wegen Verletzungen der Rechte an geistigem Eigentum vor Gericht zu bringen.
Dennoch: Donald Trump ist der erste US-Präsident, der China außerhalb des WTO-Rahmens herausfordert. Trump untergräbt die multilaterale Organisation, indem er ohne jede Abstimmung mit anderen Handelspartnern und allein auf der Basis nationalen Rechts US-Zölle auf chinesische Importe einführt und andere nichthandelsbezogene Maßnahmen ergreift.
Blockade der Berufungskammer
2016 blockierte die Obama-Regierung über einen Zeitraum von sechs Monaten die Neubesetzung eines Richterpostens der Berufungskammer, um ihrer Unzufriedenheit mit vorausgehenden Entscheidungen eines Mitglieds des Gremiums Ausdruck zu verleihen. Die EU kritisierte diesen Schritt als »beispiellos« und sah im Verhalten der USA eine ernste Bedrohung für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Berufungskammer. Andere Mitglieder teilten die Kritik der EU.
Die Trump-Administration begründet ihre einseitige Blockade von Neubesetzungen des Berufungsgremiums seit 2017 in erster Linie damit, dass sich trotz langjähriger US-Kritik am Fehlverhalten des Gremiums nichts ändere. Konkret erheben die USA den Vorwurf, dass die Berufungskammer die von den WTO-Mitgliedern vereinbarten Regeln missachte und die Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten teils erweitere, teils beschneide. Insbesondere beklagen die USA, die Auslegung der WTO-Regeln für Subventionen, Antidumping- und Ausgleichszölle schränke die Fähigkeit der USA und anderer Länder ein, sich gegen unfaire und handelsverzerrende Wirtschaftspraktiken bestimmter Länder zu wehren.
Im Kern kritisieren die USA an der WTO-Streitschlichtung, dass die Berufungskammer zunehmend in nationale Angelegenheiten eingreife und damit die Souveränität der USA verletze. Verfahrensbedenken, wie die Missachtung der 90-Tage-Frist für die Berichte des Berufungsgremiums und die gelegentliche Fortsetzung der Tätigkeit der Richter über den Ablauf ihrer Amtszeit hinaus, ohne ausdrückliche Zustimmung der WTO-Mitglieder, werden oft verbunden mit Kritik an einer als zu weitreichend empfundenen Einschränkung der Souveränität. Beispielsweise ist die Missachtung der Berichtsfrist nach Ansicht der USA problematisch, weil sie die rasche Beilegung von Streitfällen behindere. Außerdem nutze das Berufungsgremium die ausgedehnte Frist häufig dazu, den Anwendungsbereich seiner Berichte auszuweiten, statt sich nur auf die Fragen der Beschwerde zu konzentrieren.
Unsicherheit über US‑Verhandlungsziele
Seit dem Beginn der US-Blockade der Berufungskammer im Juni 2017 erarbeiteten die EU und weitere WTO-Mitgliedstaaten zwei weitreichende Reformvorhaben, um auf US‑Kritik gegenüber der Zweitinstanz sowie an der WTO im Allgemeinen zu reagieren und Washington zu einem Einlenken zu bewegen. Informationen darüber, welche Punkte aus US-Sicht besonders kritisch sind, entnahmen die Handelsexperten im Wesentlichen der Trade Agenda von 2018, einem offiziellen Strategiedokument des Weißen Hauses, und den Äußerungen des US-Vertreters bei der WTO. Von den Reformvorschlägen zeigte sich die Trump-Regierung jedoch weitgehend unbeeindruckt. Auf der Tagung des Allgemeinen Rats der WTO am 12. Dezember 2018 argumentierten die USA, dass die Vorschläge ihre Bedenken zwar in gewissem Maße anerkennten. Die vorgebrachten Regeländerungen würden die Probleme aber verschärfen, weil sie die Unabhängigkeit der Berufungskammer noch stärken und damit weiteren »justiziellen Aktionismus« fördern würden. Zwar haben sich die WTO-Mitglieder darauf geeinigt, auch künftig über denkbare Reformen zu sprechen. Die US-Regierung ging allerdings bis zuletzt nicht auf Vorschläge der Verhandlungsgruppe ein und setzt stattdessen ihre Blockade der Berufungskammer fort.
Die nun eingetretene Pattsituation bei der Ernennung neuer Mitglieder des Berufungsgremiums dürfte sich noch über Monate, wenn nicht Jahre, hinziehen. US-Vertreter bei der WTO weigern sich, eigene Reformideen für das Gremium vorzulegen. Gleichzeitig hat der US-Handelsbeauftragte Robert Lighthizer die Blockade von Ernennungen im Berufungsgremium als den »einzigen Hebel« der USA bezeichnet, um eine umfassende Reform der WTO voranzutreiben. Da die Trump-Regierung keine konkreten Vorschläge für das Gremium präsentiert, ist es für alle anderen WTO-Mitglieder schwierig festzustellen, was notwendig wäre, um die USA für eine erneute Kooperation zu gewinnen. Ein völliger Zusammenbruch der WTO wäre indes auch nicht im Interesse der USA. Lighthizer selbst gab zu, dass sie ohne die WTO und ihr Regelwerk deutlich schlechter dastünden.
Rettung der Streitschlichtung, Reform der WTO-Regeln
Die EU und andere WTO-Mitglieder müssen sich auf eine Fortsetzung der Blockade des Berufungsgremiums durch die USA vorbereiten. Angesichts dieser Situation gibt es grundsätzlich drei Optionen.
Option 1: Abwarten und weiter über WTO-Reformen verhandeln
Die EU und ihre gleichgesinnten Handelspartner könnten den derzeitigen Stillstand der Berufungskammer akzeptieren, aber weiterhin versuchen, mit der Trump-Administration über die Reform des Berufungsgremiums zu verhandeln. Kurz vor dem Ausscheiden der beiden Richter am 10. Dezember hat eine große Gruppe von Mitgliedsländern den USA einen Reformvorschlag unterbreitet – bisher lehnen sie ihn jedoch ab. Er zöge umfassende Änderungen der Regeln für die Streitbeilegung nach sich und würde seit Langem aufgestellte Forderungen der USA berücksichtigen. Darüber hinaus diskutieren Juristinnen und Juristen seit einiger Zeit unter anderem darüber, die Streitbeilegungsfunktion der WTO enger an ihr anderes Standbein, also an den Allgemeinen Rat, zu koppeln. Findet eine bestimmte Auslegung der WTO-Regeln durch das Berufungsgremium keinen Konsens, könnte der Vorgang an einen Fachausschuss verwiesen werden, der die Frage weiter behandelt. Abschließend könnte der Allgemeine Rat einen endgültigen Beschluss fassen, der auf einer Dreiviertelmehrheit aller Mitgliedstaaten beruht (legislative remand).
Alternativ dazu könnten sich die WTO-Mitgliedstaaten darauf einigen, die umstrittensten Entscheidungen des Berufungsgremiums – vor allem zu Antidumping- und Ausgleichsmaßnahmen – für eine begrenzte Zeit auszusetzen, bis ein dauerhafter Kompromiss mit den USA erzielt werden kann. Auch gibt es Vorschläge, die Verfahren zu Schutzmaßnahmen getrennt von anderen Fällen zu behandeln, zum Beispiel von einer spezialisierten Berufungskammer. Da es in 45 Prozent aller Streitfälle um Schutzmaßnahmen geht, würde die derzeitige Arbeitsbelastung der Berufungsinstanz stark sinken. Allerdings würde eine entsprechende Umgestaltung des Berufungsgremiums eine Änderung der Streitbeilegungsvereinbarung (DSU) erfordern.
Beide oben genannten Varianten setzen einen Konsens der WTO-Mitglieder über eine grundlegende Umstrukturierung der bestehenden zweistufigen Streitschlichtung voraus. Unklar ist indes, ob die Trump-Regierung sich tatsächlich auf derartige Reformen einlassen würde. Schließlich wäre die Zustimmung Chinas zu Reformvorschlägen, die hauptsächlich den Anliegen der US-Regierung Rechnung tragen, keineswegs sicher.
Option 2: Alternative Streitschlichtung innerhalb der WTO
Ein proaktiver Ansatz wäre es, wenn die EU mit anderen WTO-Mitgliedern eine Koalition bilden würde, um den vorhandenen zweistufigen Streitbeilegungsprozess aufrechtzuerhalten, auch gegen die Einwände der USA. Die Mitgliedstaaten, mit Ausnahme der USA, könnten die Auswahl neuer Mitglieder des Berufungsgremiums mit qualifizierter Mehrheit im Allgemeinen Rat vorantreiben. Auf diese Weise würden die WTO-Mitglieder vom regulären Prozess abweichen, der eine Konsensabstimmung über das Streitbeilegungsgremium der Organisation vorsieht. Sie könnten jedoch behaupten, ihren Verpflichtungen gemäß Artikel 17.2 DSU nachzukommen: »Offene Stellen werden bei ihrer Entstehung besetzt.« Dieser Ansatz würde eine offene Konfrontation mit den USA bedeuten. Das könnte einige Staaten davon abhalten, sich an der Richterwahl zu beteiligen, was wiederum die notwendige qualifizierte Mehrheit gefährden könnte.
Um den Stillstand bei den Berufungsverfahren zu überwinden, könnten die Mitgliedstaaten außerdem auf Artikel 25 der DSU zurückgreifen, der es den WTO-Mitgliedern gestattet, ein Schiedsverfahren als alternatives Instrument der Streitbeilegung in Anspruch zu nehmen. Hierfür müsste die organisatorische Infrastruktur geschaffen werden, denn mit der Blockade der Berufungskammer ist ab Januar 2020 auch das Sekretariat geschlossen. Die genaue Verfahrensordnung würde von den Streitparteien im Vorfeld festgelegt. Sie könnten sich darauf einigen, Berufungen zu schlichten, bevor ein reguläres WTO-Verfahren in erster Instanz entschieden wird. Die Streitschlichtung nach Artikel 25 würde sich stark am noch geltenden WTO-Berufungsprozess orientieren, etwa indem erfahrene ehemalige Mitglieder der Berufungskammer die neuen Verfahren übernehmen. Die WTO-Regeln für die Umsetzung von Entscheidungen (Art. 21 DSU) und Entschädigungen (Art. 22 DSU) könnten weiter als Grundlage für alle Schiedssprüche dienen.
In jüngsten bilateralen Abkommen haben sich die EU, Kanada und Norwegen verpflichtet, das Schiedsverfahren nach Artikel 25 als verbindlich anzuerkennen. Da es sich bei Artikel 25 DSU um eine bestehende Bestimmung handelt, ist für ihre Anwendung – zumindest als Zwischenlösung – keine Konsensabstimmung nötig. Dennoch hat dieser Ansatz mehrere Nachteile: Für kleine Staaten bedeutet beispielsweise die relativ große Flexibilität des Artikels 25 ein Risiko. Mächtige WTO-Mitglieder wie China oder die EU könnten sich selbst Vorteile verschaffen, indem sie die Verfahrensregeln einseitig zu ihren Gunsten festlegen. Doch auch die kleineren Staaten haben die Möglichkeit, die Beilegung von Streitigkeiten zu blockieren, nämlich dadurch, dass sie Berufung einlegen bei der faktisch lahmgelegten WTO-Berufungskammer. Diese Fälle würden für die kommenden Jahre in der Schwebe bleiben. Daher ist es unsicher, ob und wie diese Lösung praktisch umsetzbar wäre.
Besser geeignet wäre eine plurilaterale Schiedsvereinbarung, die die teilnehmenden WTO-Mitgliedstaaten schon vor Beginn neuer Streitigkeiten an ein bestimmtes Schiedsverfahren bindet. Eine solche Lösung würde mehr Zeit und politisches Kapital erfordern. Zudem wäre mit heftigem politischen Gegendruck der US-Regierung zu rechnen, die bereits im Dezember 2019 während der Haushaltsverhandlungen für die Jahre 2020/2021 die finanzielle Ausstattung der WTO-Berufungskammer blockiert und ihren völligen Rückzug aus der Organisation angedroht hat. Ein Rückgriff auf Artikel 25 als Basis für eine schriftliche Vereinbarung vieler Staaten – und damit eine zumindest zeitweise, faktische Abkehr vom Konsensprinzip – könnte der Trump-Regierung als Rechtfertigung dafür dienen, die WTO zu verlassen.
Die Vorteile eines plurilateralen Abkommens gegenüber einem Schiedsverfahren nach Artikel 25 würden entscheidend von der Beteiligung Chinas abhängen; damit ein Abkommen ohne US-Beteiligung an Fahrt gewinnt, müsste es China einbeziehen.
Option 3: Streitbeilegung außerhalb der WTO
Wenn innerhalb der WTO kein Konsens über ein weiteres Vorgehen bei der Streitbeilegung erzielt werden kann, könnte die EU auf ihre bilateralen und regionalen Freihandelsabkommen wie das Abkommen EU–Kanada (CETA) zurückgreifen. Allerdings bieten die bestehenden bilateralen und regionalen Abkommen der EU wenig oder gar keinen Rechtsschutz in Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten, der über den Rechtsschutz der WTO hinausginge.
Aufgrund der jüngsten Abkommen mit Singapur und Vietnam sowie eines Vorabkommens mit den MERCOSUR-Ländern wird erwartet, dass der Anteil des EU-Außenhandels, der unter bilaterale und regionale Abkommen der EU fällt, steigen wird von rund 30 Prozent (Stand 2017) auf rund 40 Prozent. Dennoch findet der Handel mit wichtigen Partnern nach wie vor gemäß den Regeln der WTO statt, darunter mit den USA und China, der zusammen etwa ein Drittel des Außenhandels der EU ausmacht. Umfassende EU-Abkommen mit beiden Ländern sind eher unwahrscheinlich, zumindest in naher Zukunft.
Eine noch ehrgeizigere und politisch kostspieligere Möglichkeit für die EU wäre es, herauszufinden, ob andere Länder sich dafür entscheiden würden, ein paralleles Streitbeilegungssystem für Verfahren zwischen Staaten außerhalb der WTO aufzubauen. Ein solcher Schritt könnte – vielleicht noch mehr als ein Vorstoß in Richtung eines alternativen Streitschlichtungsmechanismus innerhalb der WTO – den Ausschlag dafür geben, dass US-Präsident Trump den WTO-Austritt der USA erklärt. Vor allem würde er diejenigen Akteure in den USA vor den Kopf stoßen, die die Politik der Trump-Administration gegenüber der WTO kritisieren und sich für die multilaterale Handelsordnung ausgesprochen haben. Damit würden frühere Zusagen der EU weniger glaubwürdig erscheinen, sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um das Streitbeilegungssystem der WTO zu bewahren.
Ausblick
Wenn sie die WTO erhalten und reformieren will, muss die EU Hebel finden und die richtigen Anreize setzen, um sowohl die USA als auch China wieder an den Verhandlungstisch zu bringen. Um die nun faktisch blockierte WTO-Berufungsinstanz zu umgehen, kann die EU kurzfristig auf Schlichtungsverfahren in ihren bestehenden Handels- und Investitionsabkommen mit anderen Staaten zurückgreifen. Eine tragfähigere Lösung wäre es, im Rahmen der WTO Schiedsverfahren nach Artikel 25 DSU anzuwenden. Im besten Fall könnte das über eine plurilaterale Vereinbarung mit einer Vielzahl von WTO-Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Eine vorübergehende Lösung außerhalb der WTO wäre nur dort erstrebenswert, wo zwei Streitparteien durch ein bilaterales oder regionales Handelsabkommen verbunden sind, das mindestens gleichwertigen Rechtsschutz wie WTO-Verfahren gewährleistet. Für jeden einzelnen Streitfall müsste die EU zunächst einmal prüfen, ob ein bilaterales Abkommen vorliegt, das ein zweistufiges, bindendes Verfahren jenseits der WTO möglich macht. Ansonsten wären die Bedingungen schlechter als ein Verfahren innerhalb der WTO. Außerdem: Macht die EU zunehmend von einer Streitbeilegung außerhalb der WTO Gebrauch, könnte ihr bisheriges Bekenntnis zu einer unabhängigen, zweistufigen und bindenden WTO-Streitschlichtung an Glaubwürdigkeit verlieren.
Die EU sollte prüfen, ob sie gemeinsam mit anderen Staaten, einschließlich China, die Blockade der Berufungskammer überwinden kann. Dies wird jedoch mit Kosten verbunden sein. So könnte China früher oder später verlangen, dass die EU der Volksrepublik den WTO-Status als Marktwirtschaft zugesteht, was Brüssel bisher aus weitgehend den gleichen Gründen wie die USA abgelehnt hat – insbesondere wegen schwerer staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft, Subventionen, des Umgangs mit geistigem Eigentum und des erzwungenen Technologietransfers. Peking könnte auch eine Lockerung der Investitionskontrollen und einen leichteren Zugang zum EU-Binnenmarkt fordern.
Bei allen diplomatischen Versuchen, mit den USA und China notwendige Reformen zu verhandeln, muss die EU-Kommission überlegen, wie sie die derzeitigen und zukünftigen Kosten für die europäische Wirtschaft begrenzt. Die EU sollte weiterhin mit anderen Handelspartnern wie Japan, Kanada, Mexiko und Indien zusammenarbeiten – zum Beispiel indem sie lang- und kurzfristige Alternativen diskutiert und ein gemeinsames Verständnis davon entwickelt, wie man strategisch mit den schwierigen Handelspartnern China und USA umgeht.
Dr. Laura von Daniels ist Leiterin der Forschungsgruppe Amerika.
Dr. Susanne Dröge ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Globale Fragen.
Alexandra Bögner ist Studentin im Masterstudiengang Internationale Beziehungen der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Potsdam.
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doi: 10.18449/2020A01
(Überarbeitete und ins Deutsche übersetzte Fassung von SWP Comment 46/2019)