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Wirtschaftliche Beziehungen zwischen dem Westbalkan und Nicht-EU-Ländern

Wie die EU auf Herausforderungen bei Direktinvestitionen, Handelsaustausch und Energiesicherheit reagieren kann

SWP-Aktuell 2023/A 41, 27.06.2023, 8 Pages

doi:10.18449/2023A41

Research Areas

Die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 hat die EU-Erweiterungspolitik für den Westbalkan (WB) ins Wanken gebracht. Spätestens seit dieser Zeit ist in der Region ein stärkeres Engagement wirtschaftlicher Akteure aus Nicht-EU-Ländern wie China, Russland, der Türkei oder den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) zu beobachten. Ihr Engagement zeigt sich am deutlichsten bei Direktinvestitionen, Handel und Ener­giesicherheit. Die Investitionen aus diesen Ländern können das Risiko »korrosiven Kapitals« vergrößern, das sich negativ auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratieentwicklung im WB auswirken kann. Angesichts einer sich zusehends verschärfenden Riva­lität zwischen der EU einerseits und Russland und China andererseits stellt sich daher die Frage, wie die EU auf die intensivierte wirtschaftliche Vernetzung des WB mit diesen Akteuren reagieren und ihr strategisch entgegenwirken kann.

China ist im Rahmen seiner »Belt and Road«-Initiative (BRI) im WB primär im Infrastrukturausbau, beim Bergbau und im Energiesektor aktiv. Eine Kooperation mit dem WB findet bereits im 17+1-Format statt (nach dem Rückzug der baltischen Staaten nur mehr 14+1), das Chinas regionale Zusammenarbeit mit mittel- und osteuropäischen Ländern fördert. Russlands Investitionen rich­ten sich eher auf den strategischen Energiesektor, etwa in Serbien oder Bos­nien-Herzegowina. Andere Wirtschafts­partner wie die Türkei engagieren sich im Infrastrukturausbau oder investieren in das Bankwesen, die VAE primär in den Immo­biliensektor. Die wirtschaftlichen Aktivitäten all dieser Länder werden jedoch von denen der EU in den Schatten gestellt. Die EU ist die wichtigste Handelspartnerin für den WB: Beispielsweise gingen 2021 81% aller Exporte aus dem WB in die EU; umgekehrt importierte der WB 59,5% der eingeführten Waren aus der EU. Ähnliche Werte wurden auch in den letzten fünf Jahren registriert. Bei Direktinvestitionen sind Unternehmen aus der EU führend: mit einem Anteil von 61% des Investitions­bestands in der Region im Jahr 2021.

Allerdings sind die Investitionen aus China in den letzten zwölf Jahren signifikant gewachsen. Mehr als 50% des von China in die Länder des ehemaligen 17+1-Formats investierten Projektbudgets gelan­gen in den Westbalkan. Dorthin gehen auch rund vier Fünftel der Infrastruktur­investitionen. Zwischen 75 und 85% der Finanzmittel bestehen aus Krediten, was Abhängigkeiten von China erzeugt. Russ­land wiederum ist größter Einzelinvestor in Montenegro (be­rechnet in Volumen zwischen 2012 und 2022). Bei Investitionen in den Straßenbau der Region spielen auch die USA und die Türkei eine Rolle.

Grafik 1

Grafik 1: Exporte in den Westbalkan, Importe in den Westbalkan, nach Länder und Regionen 2021

Dass die Europäische Union diese Länder als Rivalen wahrnimmt, zeigt sich etwa dar­an, dass die EU 2020 einen Wirtschafts- und Investitionsplan für den Westbalkan (WIP) beschlossen hat. Im Rahmen seiner zehn Flaggschiffprojekte sollen grüne Energie- und Infrastrukturmaßnahmen im Wert von neun Mil­liarden Euro aus Mitteln des Instruments für Her­anführungshilfe (IPA III) finanziert werden. Zusätzlich sollen Investitionen von bis zu 20 Milliarden Euro von anderen in­ter­nationalen Finanzinstitutionen angezo­gen werden. Das ist eine direkte Antwort auf Chinas und Russlands Wirtschafts­aktivitäten im WB, ebenso wie die »Global Gateway«-Initiative auf globaler Ebene.

Dass sich diese Länder im WB in diesem Maße etablieren konnten, lässt sich zum einen durch ein nachlassendes Engagement der EU in der Region erklären. Spätestens seit 2009 befindet sich die EU in einer Dauer­krise und musste sich daher auf an­dere Themen fokussieren. Dies zeigt sich auch daran, dass die IPA-II-Mittel (2014–2020) gegenüber den IPA-I-Mitteln (2007–2013) nur um ca. 1 Milliarde Euro gestiegen sind – von 11,5 auf 12,8 Milliarden.

Zum anderen ist dies aber auch eine Folge der zusehends autoritären Tendenzen im WB. In Falle der wirtschaftlichen Zu­sammenarbeit wird oft Partnern der Vorzug gegeben, die weder Reformen verlangen noch die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeits- und Umweltstandards, die mit dem EU-Vergaberecht verknüpft sind. Wenn Länder des WB mit Nicht-EU-Staaten ko­operieren, soll dies auch zeigen, dass sie Alternativen zur EU haben. Lokale Eliten nutzen die Partnerwahl auch als politisches Druckmittel, um den EU-Erweiterungs­prozess auch ohne die notwendigen Refor­men zu beschleunigen. Diese Strategie geht allerdings nur bedingt auf, denn der Erweiterungsprozess kommt trotzdem nicht voran. Und die für den WIP vorgesehenen Mittel sind schon unter IPA III eingeplant und unterliegen strenger Konditionalität. Dies könnte sich aber unter dem Eindruck der Invasion Russlands in die Ukraine ändern, wenn die EU die Erweiterung aus geostrategischen Überlegungen forciert und den Stand der erzielten Reformen im West­balkan als Kriterium vernachlässigt.

Nicht zuletzt ziehen die politischen Eli­ten auch wirtschaftliche Vorteile aus dieser Kooperation, etwa jene in Serbien, die sich auch während der Energiekrise Anfang 2022 rund ein Drittel günstigeres Gas für 31 US-Dollar pro Kilowattstunde aus Russland sichern konnten, während das Gas auf dem Spotmarkt 99 US-Dollar kostete. Angesichts dieser Entwicklungen muss die EU wieder eine realistische Aussicht auf eine EU-Mit­gliedschaft schaffen, die auf Reformen im WB basiert. Dies wäre vor allem nötig als geostrategische Investition in ihre eigene Sicherheit und Zukunft.

Doch welche politischen und wirtschaftlichen Effekte haben die Wirtschaftsaktivi­täten der genannten Nicht-EU-Länder im WB, und welche Handlungsoptionen hat die EU, um deren wachsendem Einfluss ent­gegenzuwirken? Um diese Fragen zu beant­worten, müssen drei wichtige Faktoren genauer untersucht werden: Direktinves­titionen, Handelsbeziehungen und Energie­abhängigkeiten.

Direktinvestitionen

Obwohl Direktinvestitionen im Westbalkan seit dem Zerfall Jugoslawiens deutlich gestie­gen sind, vor allem in Serbien und Alba­nien, scheint dies zur Wirtschaftsentwicklung nicht wesentlich beigetragen zu haben. Eine mögliche Erklärung hierfür ist das Phänomen der »state capture«: der Verein­nahmung des Staates für private Interessen. Profite gelangen in der Folge in die Hände einer kleinen Gruppe von Eliten, nicht aber in die Staatskassen. Die defizitäre Rechtsstaatlichkeit im Westbalkan ermöglicht Investitionen, die »state capture« begünstigen. Die dabei investierten Mittel nennt man korrosives Kapital (»corrosive capital«). Dabei handelt es sich um Gelder (in Form von Eigenkapital oder Krediten), die Schwä­chen im System ausnutzen und potentiell verstärken. Enge Beziehungen von Eliten, die für öffentliche Vergabeverfahren gel­tende Wettbewerbsregeln umgehen, tragen zur Intransparenz von Investitionspraktiken bei. Der Anstieg der Investitionen aus nichtwestlichen Ländern wie Russland und China verschärft das Risiko für das Aufkommen korrosiven Kapitals.

Dies bedeutet nicht, dass solches Kapital nicht auch aus dem Westen kommen kann. Das zeigt zum Beispiel das »Jadar«-Projekt in Serbien, das die anglo-australische Firma Rio Tinto initiiert hat, um Lithium zu extra­hieren. Bei der Vereinbarung des Projekts wurden die regulären juristischen Proze­duren für ein Projekt mit potentiell großen Schäden für die Umwelt missachtet. Die Folge waren Massenproteste, das Projekt wurde schließlich abgeblasen. Ähnliches gilt für die Aktivitäten der US-türkischen Firma Bechtel-Enka im Kontext des Vor­habens, eine Autobahn zu bauen, die Kosovo und Albanien verbindet. Lobby­arbeit der US-Botschaft für die Firma, schlechte Planung, das Fehlen einer wett­bewerbsgemäßen Ausschreibung und das Versäumnis, Kostenobergrenzen festzule­gen, haben den albanischen und kosovari­schen Steuerzahler 2 Milliarden Euro für den Bau von 137 km Autobahn gekostet. Das Risiko korrosiven Kapitals ist indes größer, wenn Investitionen aus Ländern kommen, die ihrerseits klientilistische Investitionspraktiken befolgen und Deals hinter verschlossenen Türen abwickeln, unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Ein Beispiel sind Investitionen aus China, die im Westbalkan in den letzten zwölf Jahren signifikant angestiegen sind. Nach Angaben der Zentralbank Serbiens, der größten Ökonomie im WB, nahm der Wert der Investitionen aus China von 2,4 Millio­nen Euro 2010 auf knapp 1,4 Milliarden Euro 2022 zu (Nettozuflüsse). China war 2022 der größte Einzelinvestor, nur die EU als Gesamtregion rangierte mit 1,46 Milliar­den Euro knapp vor China. Investitionen aus Russland und der EU nehmen dagegen seit 2019 ab (Grafik 2). Von insgesamt 136 Projekten Chinas im WB zwischen 2013 und 2021 wurden 61 in Serbien durch­geführt oder vereinbart – mit einem Wert von 18,77 Milliarden Euro. Bosnien-Herze­gowina liegt an zweiter Stelle (29 Projekte mit einem Wert von über 5,2 Milliarden Euro). Auch wenn man sich Chinas Aktivi­täten im Jahr 2020 in den Ländern der da­maligen 17+1-Initiative anschaut, wird deutlich, dass der Gesamtwert der chine­sischen Projekte im Westbalkan mehr als die Hälfte beträgt (1,4 Milliarden Euro im WB, 1,38 Milliarden Euro in die restlichen 17+1-Länder). Wie erwähnt, handelt es sich bei diesen Investitionen mehrheitlich um Kre­dite, die den Wert von 18% des Brutto­inlandsprodukts (BIP) in Montenegro, 12% in Serbien, 10% in Bosnien-Herzegowina und 7% in Nord-Mazedonien erreichen können.

All diese Daten deuten auf ein Wachstum von Chinas wirtschaftlichem Engagement im WB hin, insbesondere in Serbien, das in absoluten Zahlen am meisten von den Investitionen profitiert. Da es sich meist um Kredite handelt, müssen die Län­der staatliche Garantien für die Projekte geben, was Abhängigkeiten in strategischen Sektoren wie Energie und Infrastruktur verursachen kann.

Grafik 2

Grafik 2: Direktinvestitionen (Nettozuflüsse) in Serbien (in Millionen Euro)

Diese Investitionen können die ohnehin schon fragile Rechtsstaatlichkeit weiter unterminieren und darüber hinaus auch Umweltprobleme verursachen. Das um­strittene Projekt der Bar-Boljare-Autobahn in Montenegro, finanziert von der chinesischen Exim Bank und implementiert von chinesischen Bauunternehmen, hatte Mon­tenegro in eine Schuldenkrise gestürzt. Daraufhin benötigte es Hilfe von der Euro­päischen Kommission und einer Gruppe westlicher Banken, um sich vor Währungsschwankungen zu schützen und den Rück­zahlungsplan einhalten zu können. Das Projekt hatte aber auch negative Folgen für die Umwelt: So musste der Fluss Tara (eine Schlucht des Tara gehört zum UNESCO-Weltnaturerbe) umgeleitet werden, worauf­hin es zur Ablagerung von Sedimenten kam, die Folgen für den Fischbestand hat.

Weitere Negativbeispiele sind die chinesischen Investitionen in das Stahlwerk Sme­derevo und die Kupfermine Bor in Serbien. In diesen beiden Städten liegt die Feinpartikelbelastung weit über dem erlaubten Wert, mit krebsverursachenden Luftschadstoffen wie Arsen, Kadmium, Nickel, Blei und Ko­balt. Laut Aktivistinnen und Aktivisten aus Smederevo und Bor ist die Produktivität der Kupfermine seit Übernahme durch das chi­nesische Unternehmen Zijin um 150% gestiegen. Doch das Gesetz zu den Feinpartikelgrenzwerten werde nicht eingehalten. Die serbische Regierung verpflichtet das Unternehmen Zijin nicht dazu, verschmutzungsmindernde Filter zu installieren.

Nach einer Studie des Belgrade Center for Security Policy hat der Anreiz zu kontinuierlichem Wirtschaftswachstum in Serbien ein wirtschaftliches und politisches Modell hervorgebracht, das soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten verursacht und zur Umweltzerstörung beiträgt. Ein konkretes Beispiel sind neben den Investitionen aus China auch jene aus den VAE in das Immo­bilienprojekt »Belgrade Waterfront« und in die serbische Fluggesellschaft Air Serbia. Der Deal zum ersten Projekt kam 2015 hin­ter verschlossenen Türen zustande, eine Ausschreibung gab es nicht. Die serbische Regierung hat dem VAE-Investor viele Zu­geständnisse gemacht, darunter einen An­teil von 68% am Eigentum der Immobilien, 99 Jahre geltende Extraterritorialitätsrechte über das im Zentrum der Hauptstadt gele­gene Bauland, außerdem wurden Gesetze zugunsten des Investors geändert. Die Fol­gen waren Massenproteste in Serbien und die Etablierung grün-liberaler Bewegungen. Ähnlich verlief die »Air Serbia«-Investition, die 2013 ebenfalls hinter verschlossenen Türen vereinbart wurde. Die dabei gezahl­ten Subventionen haben den serbischen Staat 88 Millionen Euro mehr gekostet, als vertraglich vereinbart war, um das Unter­nehmen profitabel zu machen.

Was ist letztlich verantwortlich für die wirtschaftliche Ausbeutung und die Um­weltschäden, die mit diesen Investitionen verbunden sind? Die Ursachen liegen primär in den schwachen gesetzlichen und poli­tischen Strukturen der Westbalkanländer, weniger darin, dass ein Investor prinzipiell »korrosiv« handelt. Chinesische Staats­unternehmen haben durchaus bewiesen, dass sie nach EU-Standards bauen und Aus­schreibungen gewinnen können, wie sich an der Errichtung der Pelješac-Brücke in Kroatien gezeigt hat. Deswegen sollte man die lokale Gesetzeslage im WB genauer ins Visier nehmen.

Handelsbeziehungen

Im Unterschied zu den Direktinvestitionen sind die Handelsbeziehungen der Nicht-EU‑Länder mit dem Westbalkan nicht sehr ausgeprägt, insbesondere wenn man sie mit jenen der EU vergleicht (vgl. Grafik 1). Zwischen 2017 und 2021 gingen zwischen 81 und 83,1% der Exporte aus dem WB in die EU, aber nur zwischen 2,8 und 4,2% nach Russland, 0,8 und 2,9% nach China und 2 und 2,6% in die Türkei. In die USA exportierten die WB-Länder zwischen 1,4 und 2,4% ihrer Ausfuhren; die Golfstaaten fallen in der Statistik kaum ins Gewicht (0,6 bis 1,3%).

Bei den Importen ist es ähnlich: Von 2017 bis 2021 importierten die WB-Länder zwischen 50,9 und 63,9% der eingeführten Waren aus der EU. Aus China wurde mehr importiert (8,3 bis 11%), als der WB in die Volksrepublik exportiert hat. Die Importe aus Russland (3,3–5,7%), den USA (1,8–2,6%), der Türkei (5,3–6,9%) und den Golf­staaten (1–1,7%) waren im Vergleich dazu sehr gering.

Alle WB-Länder haben Freihandels­abkommen mit der EU abgeschlossen. Serbien hat außerdem auch mit Russland ein solches Abkommen geschlossen und plant eines mit China. Auch mit den USA und der Türkei hat Serbien ein Freihandelsabkommen, allerdings gelten im Handel stellenweise Quoten. Alle anderen WB-Län­der haben ebenfalls Freihandelsabkommen mit der Türkei. Ungeachtet dieser Abkommen mit externen Partnern ist die EU für die einzelnen WB-Länder (mit Ausnahme Kosovos und Montenegros) sowohl der größte Importeur als auch der größte Exporteur.

Zweifellos sind die Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem Westbalkan bedeutend. Doch macht eine neuere Studie des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche und der Bertelsmann Stiftung auf zwei wichtige Fakten aufmerksam: 1) Die Westbalkanländer profitieren nicht genügend von der Handelsvernetzung mit der EU; alle Länder außer Nord-Maze­donien haben eindeutig Handelsdefizite gegenüber der EU. 2) Das jetzige Modell der Handelsintegration mit der EU trägt nicht zur Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder bei. Eine bessere Handelsintegration ließe sich erreichen, indem man nichttarifäre Handelshemmnisse abbaut (im Agrarsektor z. B. durch die Aufhebung bestimmter Im­portquoten) und die Wettbewerbsfähigkeit dadurch fördert, dass die Länder bei der Modernisierung von Institutionen und dem Ausbau von Infrastruktur unterstützt wer­den. Zudem könnten Investitionen in eine grüne und digitale Transition den Westbalkanländern dabei helfen, sich als robustere Industriestandorte zu profilieren. Das große Potential für erneuerbare Energien, das sich im WB bietet, ist gut dokumentiert. Würde es sachgemäß ausgeschöpft, könnte die Region sogar sauberen Strom exportieren.

Energiesicherheit

Obwohl die Region ein großes Potential für die Nutzung erneuerbarer Energien auf­weist, sind die WB-Länder in ihrer Energieversorgung nach Daten der Internationalen Energieagentur von 2020 überwiegend auf Braunkohle und Rohöl angewiesen. Der Anteil von Kohle ist in Albanien am gering­sten, der von Öl beträgt 53% (überwiegend aus Eigenproduktion), jener von Hydroenergie 23,1% (wiederum aus Eigenproduktion). In puncto Energieressourcen ist Alba­nien also weitgehend autark. Hydroenergie aus Eigenproduktion hat in Montenegro einen Anteil von 12,3%. Ein Mix aus Kohle und Öl hat jedoch in jedem WB-Land einen Anteil von mindestens 60,7% an der Ener­gieversorgung. In Kosovo ist dieser Anteil mit 85% am höchsten. Die Energieabhängigkeit von fossilen Brennstoffen ist im Westbalkan folglich sehr groß, wobei die genutzte Kohle überwiegend aus der regio­nalen Produktion stammt.

Naturgas hat in Nord-Mazedonien und Serbien einen Anteil von 11,7% bzw. 12,5% der Energieversorgung. 97,5% bzw. 92,3% ihres Gases importieren diese beiden Länder aus Russland. Montenegro und Kosovo benö­tigen nach der Statistik der Internationalen Energieagentur kein Gas für ihre Energieversorgung. Albanien und Bosnien-Herzegowina, die 2,1 bzw. 2,3% ihres Ener­giebedarfs mit Erdgas decken, importieren das Gas zu 100% aus den Niederlanden (Albanien, Statistik aus dem Jahr 2015) bzw. zu 98,7% aus Russland (Bosnien-Herzego­wina, Statistik aus dem Jahr 2021).

Energieabhängigkeiten von Russland bestehen vor allem in Serbien, Nord-Maze­donien und Bosnien-Herzegowina. Russland betreibt in der Region das Tankstellennetz Lukoil und kontrolliert die Erdölindustrie Bosnien-Herzegowinas. Das russische Unternehmen Gazprom besitzt auch noch immer die Mehrheit der Anteile am serbi­schen Ölunternehmen NIS. Da aber die An­teile von Erdgas an der Energieversorgung dieser Länder nicht so groß sind, lassen sich die Abhängigkeiten mit politischem Willen verringern. Serbien hat beispielsweise nach Russlands Angriff auf die Ukraine und unter dem Druck der EU begonnen, seine Gaszulieferer zu diversifizieren. So bemüht es sich etwa darum, Gas auch aus Aserbai­dschan zu importieren, mit dessen Vor­kommen voraussichtlich auch die ganze Region ihren Importbedarf decken wird. Serbien hat in den letzten acht Jahren zu­dem seine Abhängigkeit von russischem Erdöl reduziert: 2015 stammten 84% des eingeführten Erdöls aus Russland, 2021 waren es nur noch 24,5%.

Charakteristisch für die Energieversorgung im Westbalkan sind nicht nur stra­tegische Abhängigkeiten von Russland, sondern auch eine starke Fokussierung auf fossile Brennstoffe. In Kombination mit gestiegenen Energiepreisen in Europa und einer erhöhten Inflationsrate wird dies eine grüne Energietransition in der Region erschweren. Käme es zu einer solchen Tran­sition, würden die Abhängigkeiten von Russland verringert. Die sechs Westbalkanländer haben sich im November 2020 bei einem Gipfeltreffen in Sofia auf die Grüne Agenda im Westbalkan verpflichtet, die unter anderem eine Dekarbonisierung und die Reduzierung der Auswirkungen des Klimawandels vorsieht. Doch ist unklar, wie effektiv sie umgesetzt werden kann.

Politische Auswirkungen

Die politischen Auswirkungen der wirt­schaftlichen Zusammenarbeit der Westbalkanstaaten mit Russland oder China lassen sich anhand der außenpolitischen Beziehungen der sechs Staaten evaluieren. Ob­wohl die meisten Staaten mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU vollkommen harmonieren, verweigert Serbien seit Jahren China-kriti­schen Deklarationen seine Unterstützung, wie das jährliche Monitoring der serbischen Außenpolitik durch den Fonds des Inter­national and Security Affairs Centre (ISAC) verdeutlicht. Dies gilt überwiegend auch für Deklarationen, die gegen Russland gerichtet sind. Die Ursachen hierfür liegen nicht nur in Serbiens wirtschaftlichen Ab­hängigkeiten von Russland und China, sondern auch in deren Unterstützung für Serbiens Kosovopolitik.

Handlungsempfehlungen für die EU

Angesichts der aufgezeigten Abhängigkeiten der Westbalkanländer in strategischen Sektoren und der steigenden, umwelt­gefährdenden Investitionen Chinas in die Region stellt sich die Frage, wie die EU auf diese Herausforderungen reagieren kann.

1. Rechtsstaatlichkeit im Westbalkan stärken durch einen schrittweisen EU-Beitritt mit Fokus auf den Binnenmarkt

Die Ursache für die negativen politischen und Umwelteffekte der genannten Wirt­schaftsaktivitäten ist größtenteils nicht in den Herkunftsländern dieser Investitionen zu suchen, sondern in Missständen im West­balkan: in schwacher Rechtsstaatlichkeit, fragilen und korrupten Strukturen und der Maxime »Wirtschaftswachstum um jeden Preis«. Daher ist es nötig, Demokratie- und Rechtsstaatlichkeitsprinzipien und ‑mecha­nismen im Westbalkan selbst zu stärken.

Der Reformprozess im WB kommt jedoch seit Jahren nicht voran, und das hat hauptsächlich zwei Ursachen: Zum einen die sich verstärkenden antidemokratischen Tendenzen in den Eliten mancher Länder, die keine Vorteile in Reformen sehen, wel­che ihre Macht gefährden können; zum anderen die fehlende Bereitschaft der EU, neue Mitglieder aufzunehmen. Zwischen beiden Faktoren gibt es Wechselwirkungen. Um der Reformbereitschaft im WB einen neuen Impuls zu geben, sollte der Erweiterungsprozess den Beitrittsländern nicht nur an dessen Ende Vorteile bieten, sondern auch auf dem Weg dorthin. Eine Option wäre etwa ein schrittweiser EU-Beitritt.

Dazu gibt es mindestens zwei Vorschläge: 1) das sogenannte »staged accession«-Modell, das vier Stufen der Mitgliedschaft vorsieht, wobei der betroffene Staat auf jeder Stufe, nach vollzogenen Reformen, mehr Geld aus den Strukturfonds erhalten würde; 2) das Modell, vor einer vollen Mit­gliedschaft den Binnenmarkt zu öffnen, wie 1994 im Falle Finnlands, Schwedens oder Österreichs im Zuge ihrer Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum. Das »staged accession«-Modell sieht in Stufe 3 auch die Mitgliedschaft im Binnenmarkt vor. Um dem Binnenmarkt beizutreten, müssen die WB-Länder ohnehin signifikante Reformen bei der Rechtsstaatlichkeit (Vergaberecht, Korruptionsbekämpfung usw.) durchführen. Jene WB-Länder, die aufgrund auto­ritärer Tendenzen hinter reformbereiten Ländern zurückbleiben, können auch von ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern zur Rechenschaft gezogen werden. Eine neue Dynamik in einem Beitrittsprozess, der auf schrittweiser wirtschaftlicher Inte­gration mit der EU beruht, würde greifbare Ziele in Aussicht stellen, die vor einer vollen Mitgliedschaft zu erreichen sind. Die stufenweise Anhebung der Mittel aus den Europäischen Struktur- und Investitionsfonds würde ebenso als ein Reformanreiz dienen. Dabei sollte die EU aber auch die 2020 revidierte Beitrittsmethodologie an­wenden und konkrete Maßnahmen für den Fall der Nichteinhaltung von EU-Standards vorsehen (beispielsweise bei Regression oder Stagnation im Reformprozess). Endziel sollte immer die volle EU-Mitgliedschaft sein.

Schließlich würde diese veränderte Dy­namik im Beitrittsprozess die Staatskassen der EU-Länder nicht nennenswert belasten. Das BIP des gesamten WB ist vergleichbar mit jenem der Slowakei; würde die Region finan­ziell so behandelt wie andere Mit­gliedstaaten, die von EU-Fonds profitieren, würde das die Staatskassen der Mitgliedstaaten nur zwischen 1,6 und 10,8 Euro pro Kopf und Jahr mehr belasten.

2. Investitionen in Solar- und Windenergie als stra­tegisches Instrument nutzen, um den Investitionen aus China oder Russland entgegenzuwirken

Die Wettbewerbsfähigkeit der sechs WB-Länder lässt sich nicht nur durch eine tie­fergehende Handelsintegration steigern (die mit einem schrittweisen Beitritt in die EU verbunden ist), sondern auch durch mehr Investitionen in nachhaltige Infra­struktur und erneuerbare Energien.

Im Wirtschafts- und Investitionsplan der EU gibt es nur ein Flaggschiffprojekt (»Flag­ship 4: Renewable energy« [erneuerbare Energie]), das Solar- oder Windenergie för­dert. Dabei weist der WB in diesen beiden Energiefeldern das größte Potential auf. Erst 2022 wurde ein zusätzliches schwimmendes Solarkraftwerk in Albanien in die Pla­nung aufgenommen. Die Mehrheit der Pro­jekte unter »Flagship 4« betreffen jedoch die För­derung von Hydroenergie. Das birgt in­sofern ein Risiko, als Wasserkraft nicht nur Schäden an lokalen Ökosystemen verursachen kann. Sie wird wahrscheinlich auf­grund des Klimawandels auch keine ver­lässliche Energiequelle mehr sein. In Alba­nien war schon 2022 zu bemerken, dass Wasserkraft als Folge von Dürren nicht wie in den Jahren zuvor bis zu 85% des inlän­dischen Energiebedarfs decken konnte.

Im WIP wird unter »Flagship 5: Transi­tion from coal« (Übergang von der Kohle) vor allem der Bau von Gasleitungen finan­ziert, der nicht zur Abkehr von fossilen Brennstoffen beitragen wird. Obwohl die Plattform für gemeinsam von EU und West­balkan zu tätigende Gaseinkäufe etabliert worden ist, muss ein Ausstieg aus fossilen Brennstoffen oberstes strategisches Ziel sein. Der neu angekündigte Plan der EU und der USA, 3,5 Milliarden Euro in Gasinfrastruk­tur im Westbalkan zu investieren, dient dieser längerfristigen Strategie nicht.

Will sie den »dreckigen« chinesischen oder russischen Investitionen in den Berg­bau- oder Energiesektor etwas entgegen­halten, sollte die EU ihre strategischen Prio­ritäten für grüne Investitionen überdenken. An­statt Gas oder Wasserkraft zu fördern – die nur als Übergangslösungen angesehen werden sollten –, sollte die EU Wind- und Solarenergieprojekte im WB finanzieren. Dies kann langfristig strategische Abhängig­keiten von Russland vermindern. Jedoch macht es eine solche Transition auch erfor­derlich – besonders im Falle dezentralisierter Solarenergie –, die Kapazitäten der Über­tragungs- und Verteilungsnetze im WB auszubauen.

3. Strategische Kommunikation über die Wirt­schaftsaktivitäten der EU stärken

Grüne Investitionen sollten auch von stra­tegischer Kommunikation begleitet werden. Die EU sollte sich die Chance, diese Inves­titionen auch als narratives Mittel gegen »dreckige« Investitionen (etwa aus Russland oder China) zu nutzen, nicht entgehen las­sen. Da die Umweltbewegungen im West­balkan regen Zulauf haben, findet dieses Thema Resonanz auch in der Bevölkerung. Jedes EU-Projekt im WB (vor allem die WIP-Projekte) sollte in eine Kommunikations­strategie eingebettet werden, um den Investi­tionen aus China oder Russland auch narra­tiv entgegenzuwirken. So glaubt schon jetzt die Mehrheit der Befragten in Serbien, dass die EU die größte wirtschaftliche Stütze für die Zukunft ist; gleichzeitig sehen sie Russ­land als wichtigsten außenpolitischen Part­ner an. Diese Diskrepanz der Perzeptionen ließe sich mit einer breit angelegten stra­tegischen Kommunikation verringern.

Dr. Marina Vulović ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Geostrategische Konkurrenz für die EU im westlichen Balkan«.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

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