Seit Wochen rollt eine Welle von Protesten über verschiedene Länder Lateinamerikas. Sie weist auf einen Umbruch historischen Ausmaßes hin, den die Region seit langem nicht erlebt hat. Die Bürger artikulieren ihren Unmut auf der Straße und treiben die Amtsinhaber jedweder politischen Couleur vor sich her. Personelles und institutionelles Versagen in den Regierungen greifen ineinander. Der Widerstand richtet sich gegen Preiserhöhungen, Subventionskürzungen und Wahlfälschung ebenso wie gegen die Korruptheit der politischen Klasse. Strukturelle Defizite wie soziale Ungleichheit und mangelnde Verteilungsgerechtigkeit können den Aufruhr allein nicht erklären. Hinzu kommt die Frustration der einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen über die ausbleibende Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Das Vertrauen in die Politik ist erschüttert, ihre Ideenarmut steigert noch den Druck in Richtung einer politischen Neuordnung jenseits der bestehenden Institutionen und Elitenpakte. Doch die Erwartung, ein Konsens zwischen Protestierenden und den etablierten Eliten über neue Grundlagen des Zusammenlebens ließe sich schnell finden oder eine Verständigung auf ein neues Entwicklungsmodell erzielen, könnte enttäuscht werden. Mit kurzfristigen Zugeständnissen wird sich dies nicht bewerkstelligen lassen.
Ein »lateinamerikanischer Frühling«? – das scheint die Frage zu sein, die sich aufgrund der nahezu gleichzeitigen Proteste in Lateinamerika und der Karibik stellt: von Haiti bis Chile, von Ecuador bis Argentinien und von Bolivien bis Peru. Während die Demonstrationen in Ecuador nach Rücknahme der Benzinpreiserhöhungen wieder abgeflaut sind, ziehen sie sich in Chile und Haiti bereits seit Wochen hin. In Bolivien hat Präsident Evo Morales den Rücktritt erklärt, zusammen mit seinen Gefolgsleuten, aber eine Beruhigung der Lage ist nicht absehbar, zumal die Opposition fragmentiert ist und ihre Vorstellungen von der Zukunft des Landes sehr weit auseinanderliegen.
Der Protest hat keine bestimmten politischen Vorzeichen, er richtet sich gleichermaßen gegen Regierungen, die dem linken oder dem rechten Lager zugerechnet werden. Wichtiger sind grundsätzliche Faktoren: die Ablehnung der Wiederwahl (Bolivien), das Machtspiel verschiedener Interessengruppen in den politischen Institutionen (Peru), Kürzungen von Treibstoffsubventionen (Ecuador) oder Erhöhungen der Preise für den öffentlichen Nahverkehr (Chile). So unterschiedlich die konkreten Anlässe für die Unruhen auch sind, sie machen deutlich, dass sich die politische Initiative jetzt »auf die Straße« verlagert hat.
Die traditionellen Muster der Kooptation von Kritikern und die Erweiterung des Elitenkonsenses tragen nicht mehr. Den Regierenden scheint die Macht zu entgleiten, weil sie nicht in der Lage sind, die soziale und politische Dynamik in ihrem Land zu lesen. Es fehlt ihnen an Empathie, sie sahen die Massenmobilisierung nicht kommen oder dachten, dass sie nur vorübergehender Natur sein würde. Aber diese Wellen der Unruhe sind zu einer Flut lange aufgestauter Emotionen geworden, zuerst von Ressentiments angesichts Jahre andauernder Benachteiligung und Ungleichheiten, dann von Empörung über staatliche Akteure wegen der Verachtung, die sie gegenüber den Bedürfnissen der Bevölkerung an den Tag gelegt haben. Ursachen und Anlässe haben sich insofern vermischt: Angst vor dem Sozialabbau und dem Verlust erlangten (bescheidenen) Wohlstands schürt die Unruhe der Menschen. In Anbetracht der tiefen politischen und sozialen Spaltung der Gesellschaften sind neue Standards für das wirtschaftliche und soziale Zusammenleben gefragt.
Das »Volk auf der Straße« gegen die Staatsmacht
In allen Fällen reagierten die Regierenden damit, jedwede Verhandlungen abzulehnen, und setzten die Sicherheitskräfte ein, was eine rasche Radikalisierung der mobilisierten Gruppen zur Folge hatte. Die Repression verbreiterte die soziale Basis des Widerstands und verhärtete die Fronten. Das »Volk auf der Straße« nahm die Herausforderung durch die Staatsgewalt an, die Bewegungsdynamik weitete sich aus zu einem umfassenden »wir von unten« gegen »die da oben«. Die Bilder etwa in Chile und Ecuador gleichen sich: Die Präsidenten Lenín Moreno (Ecuador) und Sebastián Piñera (Chile) lassen sich mit den Führern der Streitkräfte ablichten – Fotos, die landesweit verbreitet werden. Ein Zugehen auf die Protestierenden wird zunächst ausgeschlossen, bis deutlich wird, dass die Konfrontation in Form von Gewalt, Plünderungen und Straßenschlachten eine solche Wucht erlangt hat, dass Zugeständnisse angezeigt sind. Die Ausrufung des Ausnahmezustands und die Verhängung einer Ausgangssperre wie in Chile erinnern nicht nur die Älteren an die Jahre der Diktatur, das Vorgehen von Polizei und Militär hat die Spannungen dort weiter verschärft. Schuldzuweisungen an externe Mächte bleiben nicht aus: So sollen Venezuela, Kuba bzw. ihre Unterstützer den Konflikt in Ecuador und Chile geschürt haben; umgekehrt werden Brasilien und die USA beschuldigt, am Staatsstreich in Bolivien beteiligt zu sein.
Doch die Gründe für die Massenmobilisierung liegen im Innern: Unzufriedenheit hat sich nach Jahren der wirtschaftlichen Expansion im Gefolge des Rohstoffbooms ausgebreitet. Der Krise, in die die Staatsfinanzen im Zuge des Preisverfalls auf den Primärgütermärkten geraten sind, wird mit klassischen Programmen der Anpassungspolitik begegnet; die negativen Erfahrungen mit dem Sozialabbau der 1980er und 1990er Jahre werden in der Bevölkerung erneut aufgerufen. Der Wahlerfolg der peronistischen Opposition in Argentinien unter Alberto Fernández und Cristina Fernández de Kirchner ist Ausdruck dieser Entwicklung, Strukturanpassungsprogramme erweisen sich politisch als kaum mehr durchsetzbar.
Jenseits traditioneller Aktivistengruppen, die weithin transnational vernetzt sind, hat sich bei der breiten Masse der Bevölkerung sozialer Unmut aufgestaut. Ethnische Gruppen trugen in Ecuador den Protest, Jugendliche und Studenten organisieren seit Wochen Demonstrationen in Chile und verlangen den Rücktritt des Präsidenten und eine grundlegende Erneuerung des politischen Systems. Der häufig beschworene »Tropfen« hat nach vielen Jahrzehnten der Ungleichheit und Ausgrenzung das Fass zum Überlaufen gebracht, das sich aus der Dynamik steigender Preise für Grundprodukte, fehlendem Zugang zu Bildungseinrichtungen und Gesundheitsdiensten oder unzureichender Absicherung durch niedrige Löhne und Renten speist. Es stellt sich die Frage, wie handlungsfähig die politischen Eliten sind, wie erschöpft die politischen Ressourcen und wie ratlos die Amtsinhaber, wenn es gilt, die Forderungen aus der Gesellschaft zu verarbeiten. Der wachsende Einfluss der Streitkräfte auf politische Entscheidungen und ihre tragende Rolle für Sicherheit und Ordnung im Innern ist ein Symptom. In Bolivien liegt der politische Prozess nun in der Hand eines explosiven Konglomerats aus traditionellen Politikern, Militär, Polizei und regionalen caudillos, die in einer von Mobilisierung und Konfrontation gekennzeichneten Konstellation die politische Willensbildung wieder in institutionelle Bahnen lenken soll. Die Gefahr einer instabilen Entwicklung ist damit vorgezeichnet.
Polarisierung und Ablehnung von Machtteilung
Proteste und Unruhen sind Folge einer umfassenden sozialen und politischen Polarisierung in den lateinamerikanischen Gesellschaften. Zu ihr haben die Parteien massiv beigetragen, weil sie sich von der Personalisierung der Politik und der emotionalen Aufladung der Auseinandersetzung bessere Wahlergebnisse und eine Absicherung ihrer Macht versprachen. Die soziale Abkapselung der Eliten nährt die allgemeine Empörung darüber, dass politische Systeme und Akteure aller Couleur jede Sensibilität für die Bedürfnisse der Bürger verloren haben und an ihren traditionellen Praktiken der stetigen Wiederwahl und der persönlichen Bereicherung festhalten. Dort, wo wie in Chile die Protestierenden keine Unterschiede zwischen Regierung und Opposition mehr wahrnehmen können oder wollen, wird das gesamte politische System in Frage gestellt. Die wütenden Proteste, die spontan von einem Land zum anderen übergesprungen sind, deuten auf einen Wendepunkt in der politischen Entwicklung der Region hin: Das Versagen der politischen Eliten wird als Grunderfahrung der Protestierenden bleiben, eng verbunden mit der Überzeugung, dass die hermetische Abschottung der Eliten sozialen Aufstieg verhindert und die Anerkennung der eigenen Lebensleistung ausschließt. Obwohl sich Präsident Sebastián Piñera öffentlich für die unzureichende soziale Sensibilität gegenüber Ungleichheit und Missbrauch entschuldigt hat, beruhigte sich die Stimmung in Chile nicht; seine Abbitte erreichte die Bürger »auf der Straße« nicht (mehr), die sich seit den Massenprotesten der Jahre 2006 und 2011 ausgegrenzt und ausgenutzt fühlen, weil die Forderung nach Verbesserung der Bildungsbedingungen nicht erfüllt wird.
Es fehlt dabei auch an der Bereitschaft, andere soziale Gruppen an der Macht zu beteiligen. Das betrifft zunächst die politische Opposition, die zwar an einem nationalen Dialog teilnehmen soll, aber keinen Platz im neuen Kabinett Präsident Piñeras erhält. Ganz zu schweigen von den Protestierenden, die immer stärker ausgegrenzt und als »gewaltbereite Gruppen« marginalisiert werden. Auch die linken Regierungen der vergangenen Dekade haben nicht zur Erneuerung der politischen Institutionen beigetragen: Die Regierungswechsel haben nicht verhindert, dass die politische Elite autoritären Versuchungen ebenso wie Korruption erlegen ist und die Pressefreiheit eingeschränkt hat, das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Staates erodierte weiter.
Offenkundig waren weder Piñera noch die Präsidenten Boliviens, Ecuadors oder Haitis in der Lage, die Dynamik in ihren Gesellschaften vorherzusehen. Die Protestierenden rütteln an den Grundfesten bisheriger Politik und erheben ihre Stimme für eine Erneuerung der sozialen Grundlagen des Zusammenlebens. Auf der Straße artikuliert sich eine Art von Protest, der in seiner massiven Form den sozialen Wandel in Lateinamerika deutlich beschleunigen könnte. Der wäre nötig, um den sozialen Riss zu schließen, der diese Gesellschaften durchzieht. Diesen Umbruch zu einem politischen Aufbruch werden zu lassen liegt in der Hand vieler junger Menschen, aber auch der politischen Elite, wenn sie sich nicht nur auf Demobilisierung und symbolische Befriedigung der Forderungen beschränkt.
Politik unter Zugzwang
»Chile despertó!« (Chile ist aufgewacht): Diesen Namen hat sich die Protestbewegung in den vergangenen Wochen gegeben. Ihr Aufbruchssignal hat den chilenischen Präsidenten nun dazu bewogen, eine verfassunggebende Versammlung vorzubereiten. Die neue Verfassung soll jene aus dem Jahr 1980 ablösen, die unter der Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) entstanden ist. Damit wird ein Zeichen der Ablösung von einem Ordnungsmodell gesetzt, das neue Standards des Zusammenlebens begründen soll. Hierzu wird gefordert, das Entwicklungsmodell zu überprüfen und soziale Grundrechte einzubeziehen. Nach Ansicht der Protestierenden soll aber auch die institutionalisierte Beteiligung der Bürger gestärkt werden. Doch darin werden sich die in Chile und den anderen Ländern erhobenen Forderungen nicht erschöpfen: Oft genug sind Protestbewegungen in verfassunggebenden Prozessen versandet, ohne dass sich die realen Lebensverhältnisse verändert haben. Allerdings deutet die Dimension der Protestbewegung an, dass es entgegen dem früheren Auf und Ab studentischer Mobilisierung in den Jahren 2006 und 2011 in Chile nicht nur bei Teillösungen und der Kooptation von Sprecherpersönlichkeiten in das System bleiben kann.
Von diesem Punkt sind die Protestbewegungen in Ecuador und Bolivien noch weit entfernt: In Ecuador wurden Konsultationen mit den indigenen Verbänden vereinbart sowie mit den Transportunternehmen, Gewerkschaften und einer Fülle weiterer Organisationen. Dabei soll über ein neues Dekret zu den Treibstoffsubventionen beraten werden. Ein Konsens dürfte nur schwierig zu erreichen sein, zumal der Indigenen-Dachverband CONAIE sehr viel weiter reichende Forderungen geltend gemacht hat.
In Bolivien sind nach dem Rücktritt von Präsident Evo Morales (gewaltförmige) Konfrontationen zwischen den sich gegenüberstehenden Lagern an der Tagesordnung. In seiner (Bewegungs-)Partei MAS (Movimiento al Socialismo) wird intensiv an seiner Rückkehr aus dem mexikanischen Exil gearbeitet. Bereitschaft zum Dialog, um einen Ausweg aus der Krise zu finden, ist nicht zu erwarten. Zudem tragen die Anfeindungen gegenüber indigenen Gruppen, die von den Anführern der Bürgerkomitees aus dem Tiefland (Santa Cruz) als Teil der politischen Opposition inszeniert werden, nicht zu einem gesellschaftlichen Ausgleich bei. Doch eine Rückkehr zur »alten Ordnung«, die vor der zwölf Jahre dauernden Regierungszeit herrschte und in Instabilität endete, ist weder möglich noch hilft sie dem Land weiter. Nach dem Umbruch könnte der Weg bald ins Abseits führen, wenn es nicht gelingt, die angespannte Lage rasch zu beruhigen, indem faire und transparente Wahlen abgehalten, die Gewaltenteilung wiederhergestellt und repräsentative Institutionen aufgebaut werden. Gefragt ist ein ausgleichendes Regieren, bei dem keine ethnische Gruppe einseitig bevorzugt wird und das sich von etablierten Mustern der Aufteilung in »Gewinner und Verlierer« entfernt. Ob daraus ein neuer Aufbruch werden kann, hängt stark davon ab, ob das politische Personal in der Lage ist, sich zu erneuern und Brücken über die alten Zugehörigkeitsgrenzen ethnischer, kultureller und regionaler Art zu schlagen. So ließe sich ein nationales Projekt begründen, das nicht darauf angelegt ist, breite Bevölkerungsgruppen auszuschließen.
Die aktuellen Protestbewegungen – wenn sie nicht schnell in Verdrossenheit umschlagen – setzen auf die Dynamik des überfälligen Wandels. Nötig sind neue Grundlagen des Zusammenlebens, sei es in der Verfassung oder darüber hinaus in der Sozial-, Bildungs- und Rentenpolitik, sei es durch Formulierung von Rechtspositionen und materielle Verbesserungen. Diese festzuschreiben ist das zentrale Anliegen des Protests. Dazu braucht es Offenheit und langen Atem, nicht nur bei den Protestierenden, sondern auch bei den Regierenden.
Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A63