Der ägyptische Präsidenten Muhammad Mursi wird heftig kritisiert. Die komplizierte Situation in Ägypten aber legt es nahe, genauer hinzusehen. Stephan Roll nimmt die fünf wichtigsten Kritikpunkte unter die Lupe.
Kurz gesagt, 29.01.2013 Research AreasDer ägyptische Präsidenten Muhammad Mursi wird heftig kritisiert. Die komplizierte Situation in Ägypten aber legt es nahe, genauer hinzusehen. Stephan Roll nimmt die fünf wichtigsten Kritikpunkte unter die Lupe.
Erstens: Mursi hat sich über das Gesetz gestellt
Muhammad Mursi hat sich im vergangenen November per Dekret über das Gesetz gestellt und hierdurch ein absehbares Eingreifen der Judikative in den Verfassungsgebungsprozess unterbunden. Dieses Vorgehen wurde sowohl von der ägyptischen Opposition als auch im Ausland scharf kritisiert. Dem Präsidenten wurde vorgeworfen, er habe durch die Aufhebung der Gewaltenteilung gegen demokratische Grundregeln verstoßen. Ganz stimmig ist dieser Vorwurf allerdings nicht. Ägypten ist bislang keine Demokratie. Weite Teile der Judikative entstammen dem autoritären Mubarak-Regime. Demokratische Maßstäbe anzusetzen, greift daher zu kurz. Mursis Vorgehen mag problematisch gewesen sein, und sicherlich hätte er es besser kommunizieren müssen. Die Maßnahmen allerdings waren von Anfang an zeitlich befristet. Nach Inkrafttreten der neuen Verfassung steht der Präsident nicht mehr über dem Gesetz. Deshalb sollte auch Mursis Einfluss auf gegenwärtige Gerichtsprozesse wie den zur Aufarbeitung des Fußball-Massakers in Port Said nicht überbewertet werden.
Zweitens: Mursi verhandelt nicht mit der Opposition
In der Tat ist Muhammad Mursi seit Beginn seiner Präsidentschaft zu wenig auf die nicht-islamistische Opposition zugegangen. Sowohl im Verfassungsgebungsprozess als auch bei der Regierungsbildung hätte Mursi versuchen müssen, die oppositionellen Kräfte glaubwürdig einzubeziehen. Die Opposition hat es dem Präsidenten allerdings auch nicht einfach gemacht. So war etwa der Boykott der verfassunggebenden Versammlung durch die Opposition ab September 2012 wenig konstruktiv. Zudem stellt sich die Frage, was die von der Opposition und westlichen Regierungen geforderte "Inklusion aller politischen Kräfte" in den Verfassungsgebungsprozess am Ergebnis geändert hätte. Letztlich ist die neue Verfassung ein Spagat zwischen völlig konträren Positionen. In ihr finden sich wichtige Positionen säkularer, liberaler und linker Parteien und Gruppierungen nicht oder nur beschränkt wieder; allerdings gilt dasselbe für die fundamentalistischen Positionen des salafistischen Spektrums, das einen nicht unwesentlichen Teil der Bevölkerung repräsentiert. Aktuell erheben Teile der Opposition, die sich in der "Nationalen Heilfront" zusammengeschlossen haben, Maximalforderungen, die ohne Gesichtsverlust des Präsidenten nicht umzusetzen sind.
Drittens: Mursi ist nicht der Präsident aller Ägypter, sondern der Muslimbrüder
Dies ist mittlerweile der zentrale Vorwurf der Opposition. Tatsächlich wurde Muhammad Mursi mit den Stimmen von lediglich 27 Prozent der Wahlberechtigten gewählt. Allerdings ist ein knapper Wahlsieg in einer demokratischen Wahl keine Seltenheit. Und für ägyptische Verhältnisse war die Wahl frei und fair, was auch vom überwiegenden Teil der Opposition akzeptiert wird. Allerdings hat der Präsident den Wahlsieg bislang nicht genutzt, um sich über Parteigrenzen hinweg und bei den politikverdrossenen Teilen der Bevölkerung Legitimation zu verschaffen. Vielmehr stimmt er seine politischen Entscheidungen offenbar vor allem mit zentralen Führungspersonen der Muslimbruderschaft ab, der er selbst angehört. So ist es auch wenig verwunderlich, dass seine politischen Entscheidungen derzeit vor allem darauf abzielen, den Muslimbrüdern bei den kommenden Parlamentswahlen eine Mehrheit zu ermöglichen. In diesem Sinne hält er sich wohl auch mit unpopulären, aber überfälligen Wirtschafts- und Sozialreformen bis nach den Wahlen zurück.
Viertens: Mursi hat sich mit dem Militär verbündet
Tatsächlich hat der Präsident bereits im August 2012 einen Großteil der Militärführung ausgewechselt. Dieser Schritt wurde oftmals als Entmachtung des Militärs interpretiert. Die neue Verfassung zeigt allerdings, dass das Militär eine weitgehende Autonomie behält. Muhammad Mursi kann sich nicht ohne Weiteres in interne Angelegenheiten der Streitkräfte, z.B. in Personal- oder Finanzfragen, einmischen. Dies deutet auf ein Machtteilungsarrangement zwischen dem Präsidenten bzw. der hinter ihm stehenden Muslimbruderschaft und der Militärführung hin. Für einen demokratischen Staat ist ein solches Arrangement hoch problematisch und die Kritik von Teilen der Opposition vollkommen berechtigt. Allerdings stellt sich die Frage, ob eine Entmachtung des Militärs in der gegenwärtigen Situation überhaupt möglich gewesen wäre.
Fünftens: Mursi ist ein Antisemit
Für viele westliche Kritiker des Präsidenten ist dieser Punkt am problematischsten. Tatsächlich ist Muhammad Mursi in seiner Vergangenheit als Funktionär der Muslimbruderschaft durch antisemitische Äußerungen aufgefallen. Mursi rechtfertigt sich damit, dass seine Äußerungen im Kontext seiner Kritik an Israels Politik gegenüber den Palästinensern zu sehen seien. Mit einer weiteren Entschuldigung ist kaum zu rechnen, nicht zuletzt, weil Mursis Äußerungen in der ägyptischen Mehrheitsgesellschaft keineswegs als Problem gesehen werden. Ganz im Gegenteil kann Mursi in diesem Punkt sogar mit der Unterstützung weiter Teile der nicht-islamistischen Opposition rechnen. Bei aller berechtigter Kritik an diesen Äußerungen gilt es aber nun, Muhammad Mursi an seinen konkreten Handlungen zu messen. Gegenüber Israel hat sich der Präsident bislang äußerst pragmatisch gezeigt; im letzten Gaza-Konflikt hat er zwischen Israel und der Hamas einen Waffenstillstand vermittelt. Anders als sein Vorgänger Husni Mubarak genießt Mursi auch das Vertrauen der palästinensischen Hamas. Dieses Kapital sollte der Westen nutzen, um den Nahost-Friedensprozess voranzubringen.
Der Text ist auch auf Tagesspiegel.de und Zeit.de erschienen.
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Die Auswechslung der ägyptischen Militärführung ist Ergebnis eines von langer Hand vorbereiteten Generationenwechsels. Die Generäle werden eine Vetofunktion im künftigen politischen System behalten, so die Einschätzung Stephan Rolls.