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Von Worten und Stimmen in Venezuela

Die Gespräche zwischen den Konfliktparteien und die Wahlen im November

SWP-Aktuell 2021/A 66, 12.10.2021, 7 Pages

doi:10.18449/2021A66

Research Areas

Am 21. November finden in Venezuela Regional- und Kommunalwahlen statt. Nach einer mehrjährigen Phase des Wahlboykotts werden daran auch wieder die Opposi­tionskräfte teilnehmen. Sie beteiligen sich zudem seit August dieses Jahres an einem Dialog mit Entsandten von Präsident Nicolás Maduro in Mexiko. Während in der venezolanischen Bevölkerung viele um das nackte Überleben kämpfen, suchen beide Konfliktparteien ihren Handlungsspielraum zu erweitern. Die internationale Gemein­schaft sollte den Dialog- und Wahlprozess unterstützen. Druck und Anreize gegenüber dem Maduro-Regime gilt es dabei so zu dosieren, dass die Bedürfnisse der Gesell­schaft im Vordergrund stehen.

Venezuela, das Land mit den größten Erd­ölreserven der Welt, leidet heute unter Engpässen in der Erdöl- und Stromversorgung und ist mittlerweile das ärmste Land Lateinamerikas und der Karibik. Nach Daten der VN-Wirtschaftskommission für die Region (ECLAC) schrumpfte die vene­zolanische Wirtschaft 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent. Ein Minus war dabei das siebte Jahr in Folge zu verzeichnen. Die Hyperinflation, die 2017 eingesetzt hatte, sank zwischen 2019 und 2020 von 9.585 auf 2.969 Prozent. Im selben Zeit­raum nahm jedoch die Kaufkraft des Min­destlohns um rund 70 Prozent ab. Unter starkem Rückgriff auf US-Dollar und Kryptowährungen versuchen Regierung und Bevölkerung, der Entwertung des Bolivar zu entkommen. Die Dollarisierung der Wirtschaft entwertet jedoch die Rück­überweisungen der venezolanischen Diaspora, die ohnehin seit Ausbruch der Corona-Pandemie zurückgegangen sind. Der ungleiche Zugang zu ausländischer Währung verschärft die sozialen Unter­schiede.

Über 5,4 Millionen Menschen haben das vom Chavismo regierte Venezuela mittler­weile verlassen, bei einer Bevölkerung von rund 30 Millionen (2016). Zwar bringt die massive Emigration angesichts einer drama­tischen sozio-ökonomischen Lage auch Erleichterungseffekte, doch verblassen diese vor den Auswirkungen der Pandemie, der Abnahme der Rücküberweisungen und den Folgen der US-Sanktionen.

Die Entwicklungs- und die Regimefrage, beide nationalen Ursprungs, sind hier eng miteinander verwoben. Venezuela, das in den 1980er Jahren eine Insel der Demokra­tie in Südamerika bildete, wird spätestens seit 2015 autoritär regiert. Trotz Staats­terrors ist die Regierung nicht in der Lage, das Territorium vollständig zu kontrollieren; Gangs fordern die Staatsgewalt heraus, ebenso Dissidenten der FARC aus dem Nachbarland Kolumbien.

Verhandlungsprozess in Mexiko

Absichtserklärung von August

Am 13. August 2021 einigten sich Regie­rung und Oppositionskräfte Venezuelas in Mexiko-Stadt darauf, einen »integralen und inkrementellen Dialog- und Verhandlungsprozess« zu initiieren. Ziel ist dabei, wie in einer Absichtserklärung festgehalten wurde, »klare Regeln für das politische und soziale Zusammenleben« unter Beachtung der Nationalverfassung zu etablieren.

Zum einen umfasst die Erklärung eine Sieben-Punkte-Agenda. Verwirklicht wer­den sollen demnach: 1. Politische Rechte für alle; 2. Garantien und Zeitplan für Wahlen unter (internationaler) Beobach­tung; 3. Aufhebung der Sanktionen und Wiederherstellung der Verfügungsgewalt (der Regierung) über (Auslands-)Vermögens­bestände; 4. Achtung der Verfassung und des Rechtsstaates; 5. soziales und politi­sches Zusammenleben, Gewaltverzicht und Wiedergutmachung für Gewaltopfer; 6. Schutz der Nationalwirtschaft und sozia­le Fürsorge für das venezolanische Volk; 7. Garantien für die Umsetzung, Nach­verfolgung und Überprüfung des Verein­barten.

Zum anderen werden darin Einzelheiten des geplanten Prozederes festgehalten. Für die Verhandlungen gilt: Nichts ist verein­bart, bis alles vereinbart ist. Zu bestimmten Themen sind dennoch Teilvereinbarungen zulässig, wenn deren Implementierung dringend notwendig oder vor Abschluss der Gespräche machbar ist. Die zwei Delegatio­nen bestehen aus jeweils neun Mitgliedern, wobei es »Anstrengungen um die Inklusion von Frauen« geben soll. Von den 18 Perso­nen, die die Absichtserklärung unterzeich­net haben, sind sechs Frauen; vier gehören dem Regierungs- und zwei dem Opposi­tionslager an. Vorgesehen ist auch, einen Konsultationsmechanismus für den Aus­tausch mit weiteren politischen und sozialen Akteuren und Akteurinnen zu schaffen.

Mehrere Staaten begleiten den Verhand­lungsprozess. Mexiko fungiert als Gast­geber, Norwegen – vertreten durch den Diplomaten Dag Nylander – als Vermittler. Beide Staaten hatten die venezolanische Interimsregierung von Juan Guaidó nicht anerkannt und stattdessen diplomatische Beziehungen mit der Maduro-Regierung weitergeführt. Norwegen hat zudem Erfah­rung mit der Moderation von Friedens­prozessen und war in früheren venezola­nischen Dialogen involviert. Unterstützt werden die Gespräche von den Niederlan­den, die der Opposition den Rücken stär­ken, sowie Russland, das auf Seiten der Regierung steht. Weitere Staaten sollen auf Einladung Norwegens eine »Gruppe der Freunde des Prozesses« bilden.

Verhandlungsführer auf Regierungsseite ist der Psychiater Jorge Rodríguez, seit 2020 Präsident der Nationalversammlung; ihm gegenüber steht der Jurist Gerardo Blyde, ehemaliger Bürgermeister von Baruta und Wahlkampfführer des größten Opposi­tionsbündnisses »Tisch der Demokratischen Einheit« (Mesa de la Unidad Democrática, MUD). Heute finden sich die diversen Oppo­sitionskräfte – neben politischen Parteien auch Gewerkschaften, Mitglieder der Zivil­gesellschaft und ehemalige Militärs – auch unter der neuen Bezeichnung »Einheitsplattform« (Plataforma Unitaria) zu­sam­men, die Guaidó bereits in einer Presse­kon­ferenz von April 2021 als eine Art Opposi­tions-Relaunch der Öffentlichkeit vorstellte.

Veränderter Verhandlungskontext

Dialogversuche zwischen den Konflikt­parteien gab es bereits 2001 und 2002/2003, vor und nach einem erfolglosen Putsch­versuch gegen den damaligen Präsidenten Hugo Chávez. Die Initiative kam dabei vom Unternehmensverband Fedecámaras bzw. von Abgeordneten der sogenannten Boston Group in der Nationalversammlung. 2003 bzw. 2016 suchten regionale Regierungs­organisationen wie die Organisation Ameri­kanischer Staaten (OAS) und die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) zu vermitteln. Verhandlungsprozesse wurden 2017 in der Dominikanischen Republik sowie 2019 in Norwegen und Barbados gestartet und beide Male wieder abgebro­chen. Anzeichen dafür, dass die laufenden Gespräche von einem wie auch immer gearteten Erfolg gekrönt sein könnten, gibt es nicht. Doch sind Regierung wie Opposi­tion in ihrer jeweiligen Position heute derart geschwächt, dass sich beide von der Kooperation eine Erweiterung ihres Hand­lungsspielraums erhoffen.

Auf der einen Seite haben die US-ameri­kanischen und europäischen Sanktionen den Zugang der Maduro-Regierung zu drin­gend benötigten Finanzressourcen stark eingeschränkt. Venezuelas Ölexport ist ein­gebrochen, Vermögenswerte des Staates im Ausland wurden eingefroren oder an die Interimsregierung von Guaidó übertragen, Geldanlagen und Bankkonten regime­tragender Akteure und Akteurinnen ge­sperrt.

Auf der anderen Seite fällt die Bilanz der Interimsregierung, die sich im Januar 2019 unter Guaidós Führung konstituierte, extrem dürftig aus. Maduro sitzt weiterhin fest im Sattel, während sich die humanitäre Lage verschlechtert hat. Es mehren sich Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit venezolanischen Vermögenswerten, die von der Opposition im Ausland kontrolliert werden. Diese bewegt sich zudem außer­halb des politischen Institutionensystems des Landes. Die 2015 noch unter semi-kompetitiven Bedingungen gewählte und von der Opposition kontrollierte National­versammlung, die die demokratische Legi­timationsgrundlage für Guaidós Interims­regierung darstellte, ist aufgelöst. Ihre Legislaturperiode endete mit der Wahl des neuen Parlaments 2020, von der sich die Opposition größtenteils fernhielt. Auch der internationale Rückhalt für sie schwindet, weil es an institutionellen Stützen und sichtbaren Ergebnissen mangelt. Die Präsi­denten Brasiliens, Chiles und Kolumbiens, die sich einst ostentativ an Guaidós Seite stellten, werden nun durch interne Heraus­forderungen stark beansprucht.

Der EU fehlt es an einer soliden regiona­len Verankerung für ihre Initiativen, sprich an einer lateinamerikanischen Regierungs­organisation oder Staatengruppe, mit der sie in der Venezuela-Frage nachhaltig zusammenarbeiten könnte. Und in den USA regiert nicht mehr Donald Trump, der eine scharfe, konfrontative Rhetorik gegen­über dem Maduro-Regime pflegte, sondern Joe Biden, der unter anderem die desaströ­sen Folgen des Afghanistan-Einsatzes zu bewältigen hat. So bleiben in der regiona­len wie internationalen Gemeinschaft – auch pandemiebedingt – wenig Ressourcen für Venezuela übrig. Generell aber werden die Verhandlungen positiv auf­genommen; USA wie EU haben in Aussicht gestellt, ihre Sanktionen gegen das Maduro-Regime zu überprüfen, sollte es Fortschritte im Dialogprozess geben. Sogar OAS-Gene­ralsekretär Luis Almagro, dem eine Art persönlicher Kreuzzug gegen Maduro und den Chavismo zugeschrieben wird, be­grüß­te die Gespräche und bot institutionelle Unterstützung an. In der OAS ist Venezuela seit 2019 durch Guaidós Interimsregierung vertreten.

Gesellschaft skeptisch, aber für Dialog

Inmitten einer vielschichtigen Dauerkrise und zunehmend von der Gesellschaft entkoppelt, benötigen Regierung und Oppositionskräfte in Venezuela ein neues Projekt, um Perspektiven für die Bevölke­rung entwickeln zu können. Nach Daten des Meinungsforschungsinstituts Datincorp von August 2021 sind 63 Prozent der Menschen mit der Leistung der Maduro-Regierung »überhaupt nicht zufrieden« und nur 12 Prozent »sehr zufrieden«. Im Falle Guaidós fallen die entsprechenden Werte – mit jeweils rund 77 und 3 Prozent – noch schlechter aus. Unter den Bürgerin­nen und Bürgern hat kaum noch jemand Vertrauen in die zivilen und militärischen Institutionen des Staates. Im Falle der Nationalversammlung sind dies nur knapp 4 Prozent, gegenüber den Streitkräften sogar nur etwas über 2 Prozent.

In diesem Kontext erwarten die Venezo­lanerinnen und Venezolaner sehr wenig vom Verhandlungsprozess; eine Mehrheit ist dennoch grundsätzlich dafür. Laut einer Datincorp-Umfrage begrüßen es knapp 51 Prozent, dass solche Gespräche geführt werden, während rund 39 Prozent dagegen sind. 58 Prozent meinen, das Hauptthema auf der Agenda sollte die Krise von Wirt­schaft und öffentlichen Dienstleistungen sein, gefolgt von der Pandemie (knapp 20 Prozent) und der politischen Krise (rund 16 Prozent). Eine große Mehrheit von über 67 Prozent wäre auch dann einver­standen, die Überwindung der sozioöko­nomischen Krise ins Zentrum der Gesprä­che zu stellen, wenn dies dazu führen sollte, dass im Jahr 2022 keine Präsident­schaftswahl stattfindet (und damit keine Chance auf Abwahl Maduros besteht). Hier zeigen sich die Prioritäten in der Gesell­schaft: Erst kommt das Überleben, dann kommt die Regimefrage.

Mühsamer Verhandlungsstart

Bislang haben in Mexiko drei Verhandlungsrunden stattgefunden. Ein Durchbruch ist dabei erwartungsgemäß noch aus­ge­blieben. Zunächst soll es auch nur darum gehen, gegenseitiges Vertrauen auf­zubauen und einen Arbeitsmodus einzuspielen.

Aus der ersten Runde ging die erwähnte Absichtserklärung von August hervor. Das zweite Dialogtreffen erfolgte Anfang Sep­tember. Ergebnisse waren eine weitere gemeinsame Erklärung sowie zwei Teil­vereinbarungen. In der ersten bekräftigten die Konfliktparteien den venezolanischen Souveränitätsanspruch auf Guayana Ese­quiba – ein Territorium, das seit einem von Caracas nicht anerkannten Schieds­spruch einer internationalen Juristenkom­mission von 1899 zum guyanischen Staats­gebiet gehört. Es stellt zwar keinen Ver­handlungsfortschritt dar, dass Regierung und Opposition einen solchen nationalis­tischen Konsens verkünden. Doch als Verständigungsritual könnte es durchaus vertrauensbildende Effekte zeitigen.

In der zweiten Teilvereinbarung einigte man sich darauf, Priorität auf die Versorgung der Bevölkerung zu legen, wobei Gesundheits- und Ernährungsfragen beson­ders berücksichtigt werden sollen. Zu die­sem Zweck soll eine sechsköpfige Koordi­nierungsinstanz – mit drei Personen je Konfliktpartei – entstehen. Eine Gruppe aus weiteren vier Personen soll sich kritisch mit der »Übererfüllung von Sanktionen« durch Dritte im Finanzsystem auseinander­setzen. Damit sollen Ressourcen identifi­ziert und gesichert werden, die zur Linde­rung der humanitären Katastrophe nötig sind.

Die dritte Verhandlungsrunde, die Ende September stattfand, verlief konfliktträch­tiger. Einige Vorfälle hatten dafür gesorgt, dass die Regierungsdelegation ihre Teil­nahme zunächst in Frage stellte und schließlich verzögerte. Dazu gehörte die Entscheidung Kolumbiens, einem US-Auslieferungsgesuch für den kolumbiani­schen Unternehmer Alex Saab stattzuge­ben, der unter anderem der Geldwäsche im Zusammenhang mit Ernährungsprogram­men und Sozialbauprojekten der Maduro-Regierung beschuldigt wird. Diese hatte am 14. September angekündigt, Saab werde als vollwertiges Delegationsmitglied am Ver­handlungsprozess teilnehmen. Der Unter­nehmer gilt als Strohmann Maduros; an­geblich ist er mit Finanztransaktionen und Außenhandel betraut. Er wurde seit Juni 2020 im afrikanischen Kap Verde festgehal­ten, dessen Verfassungsgerichtshof nun ebenfalls seine Auslieferung an die USA bewilligte.

Für Irritation bei der Maduro-Regierung sorgte auch eine Rede, die Norwegens Ministerpräsidentin Erna Solberg am 22. September in der VN-General­versamm­lung gehalten hatte. Darin brachte sie ihre Sorge um die Menschenrechtssituation in Venezuela zum Ausdruck. Die Wogen konnten aber geglättet werden, als der nor­wegische Vermittler Nylander in einer offiziellen Erklärung seine Unparteilichkeit im Verhandlungsprozess bekräftigte.

Zu den bescheidenen, eher deklaratori­schen Ergebnissen der dritten Runde zählte, dass sich die Konfliktparteien verpflichte­ten, einen gendersensiblen Ansatz zu ver­folgen sowie Beratungs- und Partizipations­mechanismen für den Austausch mit der Zivilgesellschaft zu schaffen. Verurteilt wurden zudem xenophobe Angriffe auf Venezolanerinnen und Venezolaner in Chile.

Regional- und Kommunalwahlen

Konzessionen mit Restriktionen

Am 21. November werden Wahlen zu den Exekutiven und Legislativen auf regionaler wie lokaler Ebene stattfinden. Eine Betei­ligung der Opposition wird diesem Urnen­gang eine gewisse demokratische Legitimi­tät verleihen und den schlechten Ruf des Maduro-Regimes im In- und Ausland etwas abmildern. Zugleich könnte die Opposition durch ihre Teilnahme den Chavismo her­ausfordern sowie eine zumindest begrenzte institutionelle Repräsentation erzielen.

Die Boykottfrage hatte sie zuletzt bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Dezember 2020 gespalten. Damals ent­schieden sich die wichtigsten Oppositions­parteien dafür, nicht anzutreten, was der Regierungspartei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela) eine parlamentarische Mehrheit von rund 90 Prozent bescherte. Nun ist das Bündnis »Tisch der Demokrati­schen Einheit« für Partizipation – jedoch nicht bedingungslos, denn es fordert eine realistische Chance, Ämter und Mandate zu erlangen.

Das Umschwenken der Oppositionskräfte wurde durch Konzessionen der Maduro-Regierung gefördert. Zu den wichtigsten gehörte, dass der bis dahin gleichgeschalte­te Nationale Wahlrat (Consejo Nacional Electoral, CNE) auf ideologisch ausgewoge­nere Weise neu besetzt wurde. Am 4. Mai 2021 benannte die im Vorjahr gewählte, durch den Chavismo dominierte National­versammlung vier Rektoren und eine Rektorin, von denen drei als regierungs- und zwei als oppositionsnah gelten. Diese Zusammensetzung, die zwar der Maduro-Regierung weiter eine Mehrheit – und den Vorsitz – im Wahlrat sichert, für große Teile der Opposition jedoch annehmbar ist, war auch das Ergebnis von Lobbyarbeit zivilgesellschaftlicher und internationaler Akteurinnen und Akteure.

Präsident Maduro hat zudem seit letztem Jahr immer wieder politische Gefangene auf freien Fuß setzen lassen und andere Verfolgte »begnadigt«, die noch nicht inhaftiert waren. Allerdings beklagt der oppositionsnahe Vizepräsident des CNE, Enrique Márquez, dass die Rechnungs­prüfungsbehörde nicht bereit sei, willkür­lich verhängte politische Partizipations­verbote mit Blick auf die anstehenden Wah­len aufzuheben. Viele Bürgerinnen und Bürger könnten erst dann kandidieren, wenn ihre entsprechenden Rechte wieder­hergestellt sind.

Ähnliches gilt für politische Parteien, die verboten wurden oder deren Vorstände der Oberste Gerichtshof wegen angeblicher »Unregelmäßigkeiten« durch regimetreue Autoritäten ersetzte (ein Vorgang, der als Parteiintervention bzw. Verhängung der vorsorglichen Vormundschaft bezeichnet wird). Zwar ließ der Wahlrat das 2018 für illegal erklärte Oppositionsbündnis MUD im Juni 2021 wieder zu. Andere politische Kräfte, die ebenfalls staatliche Eingriffe erlitten, haben jedoch ihre Autonomie noch nicht zurückerhalten. Auch Abspal­tungen von der Regierungspartei warten noch darauf, offiziell anerkannt zu werden.

Nach langer Verweigerung hat Maduro sein Land mittlerweile für internationale humanitäre Hilfe geöffnet, womit er einer wichtigen Forderung von Opposition und zivilgesellschaftlichen Organisationen nach­kam. Im April 2021 traf er sich in Caracas mit dem Exekutivdirektor des Welternäh­rungsprogramms, das schließlich im Juli seine Einsätze in Venezuela starten konnte. Doch sind NGOs in dem Land nach wie vor starken Einschränkungen unterworfen, und Menschenrechtsaktivistinnen und ‑aktivis­ten droht beständig Gewalt.

In der internationalen Gemeinschaft wird die Teilnahme der Oppositionskräfte an den Wahlen ähnlich begrüßt wie der Dialogprozess. Positive Reaktionen gab es auf eine Einladung des CNE, den Wahl­prozess im November zu beobachten. Nach­dem die EU 15 Jahre lang keine Abstim­mungen in Venezuela begleitet hatte, wird sie nun eine Wahlbeobachtungsmission unter Leitung der portugiesischen Europa­abgeordneten Isabel Santos (S&D) entsen­den. Möglich wurde dies durch eine Ver­waltungsvereinbarung, die der CNE am 28. September mit der EU-Delegation in Caracas abschloss.

Große Aufgabe »Geschlossenheit«

In einem stark polarisierten, durch die Regimefrage geprägten politischen Kon­text bemühen sich das Regierung- wie das Oppositionslager jeweils um größtmögliche Geschlossenheit. Für beide ist dies eine schwierige Aufgabe. Am 8. August 2021 führte die PSUV »offene Vorwahlen« für die Exekutivämter auf regionaler (23 goberna­ciones) und lokaler Ebene (335 alcaldías) durch. Wahlberechtigt waren zum ersten Mal nicht nur Parteimitglieder, vielmehr durfte die gesamte nationale Wählerschaft abstimmen. Die Regierung gab eine Wahl­beteiligung von 3,5 Millionen an. In einem Land, in dem die Grenzen zwischen Partei, Regierung und Staat längst verschmolzen sind, glich der Urnengang fast einer Natio­nalfeier. Innerhalb der PSUV sind Aus­einandersetzungen zwischen einzelnen Führungsfiguren, den Basisorganisationen UBCH (Unidades de Batalla Hugo Chávez) und der Parteispitze bzw. dem Präsidenten in Caracas keine Seltenheit. Durch die Vor­wahlen kamen interne Streitigkeiten jedoch leichter ans Licht, ebenso Vorwürfe des Stimmenkaufs und der Manipulation bei der Kandidatenaufstellung.

Die Oppositionskräfte, die unter hohem Zeitdruck stehen, bemühen sich ihrerseits um gemeinsame Kandidaturen, damit die Parteien nicht zueinander in Konkurrenz treten und stattdessen eine Alternative zum Chavismo anbieten können. Doch die Spal­tungen in diesem Lager sind heute größer als in der Vergangenheit. Nach verschiede­nen Umfragen wird für November eine Wahlbeteiligung von 40 bis 50 Prozent er­wartet. Zwar hat die Opposition nach Schät­zungen mehr gesellschaftlichen Rück­halt als der Chavismo; dieser besitzt aber eine stärkere Mobilisierungstradition und kann daher tendenziell einen höheren Anteil sei­ner Wählerschaft zur Abstimmung locken. Eine der Herausforderungen für die Oppo­sition besteht also darin, nach Jahren des Wahlboykotts, unter sichtlich unfairen Bedingungen und in Pandemiezeiten ihre Anhängerschaft davon zu überzeugen, diesmal zu den Urnen zu gehen.

Am 10. Oktober fand eine landesweite »Wahlübung« (simulacro electoral) statt, zu der alle Wahlberechtigten eingeladen waren. Ziel war dabei laut einer Mitteilung des CNE, sämtliche Abläufe des Wahl­vorgangs auf technischer, logistischer und operationeller Ebene zu testen, einschließlich der elektro­nischen Stimmabgabe.

Venezuela und die internationale Gemeinschaft

Ressourcennot bewegt das Maduro-Regime dazu, den Dialog in Mexiko zu suchen und sich auf eine partielle Machtabgabe durch Regional- und Kommunalwahlen einzulas­sen. Dass es einen klaren Wahlsieg der Opposition bzw. deren Zugang zu Exekutiv­ämtern in wichtigen Regionen zulassen wird, ist wenig wahrscheinlich. Den­noch könnte es sich demokratiefördernd aus­wirken, wenn die Oppositionskräfte (be­grenzten) Einzug in die Institutionen des Staates finden. Auch in deren Rahmen wären Dialog und Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien denkbar. Leider ist ebenso denkbar, dass sich die aktuelle Kom­promissbereitschaft des Maduro-Regimes bald erschöpfen wird. Relevant für die Überlegungen der Opposition ist aber nicht nur das Handeln der Regierung, sondern auch die eigene – schwächer gewordene – Verbindung zur Gesellschaft.

Sollten die Wahlergebnisse zum Zank­apfel zwischen Regierung und Opposition werden, könnte dies eine Fortsetzung der Verhandlungen gefährden. Deren Zukunft hängt aber auch davon ab, ob beide Kon­fliktparteien Vertrauen aufbauen, Diskre­tion walten lassen und Teilvereinbarungen einhalten.

Für die Maduro-Regierung wird ein wich­tiger Meilenstein im Dialogprozess sein, eine Lockerung der internationalen Sank­tionen sowie Zugang zu Finanzmitteln zu erreichen. Enorme Bedeutung hat daher, wie Druck und Anreize durch die interna­tionale Gemeinschaft dosiert werden. Entsprechende Maßnahmen sind im Aus­tausch mit den Oppositionskräften zu kalibrieren. Dabei dürfen jedoch die drin­gendsten Bedürfnisse der venezolanischen Bevölkerung nicht aus dem Blick geraten. Priorität haben sollten ein Stopp der Ge­walt, die Freilassung politischer Gefangener sowie die Linderung der humanitären Krise. Dagegen hat die Stunde des Regime­wechsels, der Gerechtigkeit bzw. der Ahn­dung politischen Unrechts noch nicht geschlagen.

Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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