Im Sommer 2022 haben die Europäische Union (EU) und Indien erneut Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen aufgenommen, um ihre strategische Partnerschaft zu vertiefen. Darüber hinaus verhandeln die beiden Seiten über ein Investitionsschutzabkommen sowie ein Abkommen zum Schutz geographischer Herkunftsangaben. Die EU möchte damit ihre Beziehungen zu den Staaten im Indo-Pazifik diversifizieren und unterstreicht Indiens herausgehobenen Stellenwert. Indien will durch die Kooperation mit der EU seine wirtschaftliche und technologische Modernisierung vorantreiben, die für die angestrebte größere internationale Rolle des Landes unabdingbar ist. Anders als die 2013 gescheiterten Gespräche sind die jetzigen Verhandlungen von dem Paradox gekennzeichnet, zugleich einfacher und komplizierter zu sein. Sie sind einfacher, weil die EU und Indien heute in geopolitischen Fragen vor allem mit Blick auf China mehr Übereinstimmung haben als je zuvor. Sie sind aber auch komplizierter, weil der Erfolg der Verhandlungen weiterhin von schwierigen Zugeständnissen auf beiden Seiten abhängt. Doch erneut zu scheitern ist weder für Indien noch für die EU mit Blick auf die Zukunft ihrer strategischen Partnerschaft eine Option.
Indien ist die neue Wachstumsstory Asiens. Schon für die Jahre 2023 und 2024 prognostizieren der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) hohe wirtschaftliche Wachstumsraten Indiens von über 6 Prozent, also deutlich höher als im Falle Chinas. Für Indien sprechen die Größe des Landes, die bei der jungen Altersstruktur zu erwartende demographische Dividende sowie der enorme Nach- und Aufholbedarf in Bezug auf Industrialisierung und exportgeführtes Wachstum. Die EU ist mit einem Anteil von 10,9 Prozent Indiens drittgrößter Handelspartner (2021) und könnte vom Wirtschaftswachstum des Landes enorm profitieren.
Indien gehörte 1948 zu den 23 ersten Unterzeichnerstaaten des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT), setzte jedoch in der Folge auf eine binnenorientierte Wirtschaftsentwicklung und schottete sich von den Weltmärkten ab. Mit Subventionen und Zollschutz sollte durch Importsubstitution eine leistungsfähige nationale Industrie entstehen. Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum bis 1991 war jedoch zu gering, um ähnliche Entwicklungserfolge wie die Schwellenländer Ost- und Südostasiens zu erzielen. Erst im Zuge der Liberalisierung ab 1991 senkten indische Regierungen die Durchschnittszölle unilateral und sukzessiv von 150 auf 13 Prozent. Die Reformen führten zu einer signifikanten Erhöhung der Exporte im Zeitraum 1995 bis 2018, wie es weltweit sonst nur bei Vietnam und China zu beobachten war. Diese Wachstumserfolge bewirkten laut den Vereinten Nationen (VN) auch, dass die Zahl der von Armut betroffenen Menschen in Indien zwischen 2006 und 2016 um 271 Millionen sank. Trotzdem fand die Periode der binnen- und außenwirtschaftlichen Liberalisierung unter dem Eindruck der globalen Finanzmarktkrise 2007/08 keine Fortsetzung.
Neuer Realismus in Indiens Handelspolitik
Mit der Regierungsübernahme von Premierminister Modi und der Bharatiya Janata Party (BJP) 2014 verbanden sich große Hoffnungen auf weitere wirtschaftliche Reformen und eine noch stärkere Einbindung Indiens in die Weltwirtschaft. Allerdings errichtete Neu-Delhi zunächst neue Importbarrieren, erhöhte punktuell kritische Zolllinien, etwa für Schuhe, Bekleidung und Mobiltelefone, und kündigte in den Jahren 2016 und 2017 bestehende Investitionsschutzabkommen. Dies zog auch multilaterale und bilaterale Konflikte nach sich.
Multilateral verhinderte Indiens geringe Kompromissbereitschaft mehrmals Fortschritte bei Verhandlungen in der Welthandelsorganisation (WTO), etwa über die Begrenzung von Agrarsubventionen. Auch wurden gegen kein Land so häufig Streitschlichtungsverfahren bei der WTO angestrengt wie gegen Indien, sieht man einmal von den handelspolitischen Schwergewichten EU, USA und China ab. 2019 verabschiedete sich Indien kurz vor der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) aus den Verhandlungen. Bilateral vereinbarte Indien zwar noch in den 2000er Jahren verschiedene Freihandelsabkommen, etwa mit Korea, Japan sowie den regionalen Wirtschaftsorganisationen ASEAN und Mercosur. Diese Vereinbarungen enthielten aber praktisch keine substantiellen Zollsenkungen und Marktöffnungen und bewirkten daher auch keine nennenswerte Handelsexpansion. Die Modi-Regierung schloss bis 2021 keine neuen bilateralen Handelsabkommen.
Auf nationaler Ebene setzte Neu-Delhi mit staatlichen Programmen wie »Make in India«, »Skill in India« und »Digital India« mittels Subventionen, Steuernachlässen und gezieltem Importschutz spezifische Anreize für Investition und Produktion in Schlüsselindustrien. Zudem ergriff die Regierung Modi weitere wirtschaftsfreundliche Maßnahmen, darunter öffentliche Investitionen zugunsten der Infrastruktur, die Senkung der Körperschaftssteuer, Preisliberalisierungen, die Beseitigung von Investitionsrestriktionen und die Durchsetzung einer nationalen Mehrwertsteuer. Auf diese Weise verbesserte sich Indien im Ease-of-Doing-Business-Index der Weltbank von Rang 142 (2014) auf Rang 63 (2019). Während der Corona-Pandemie verkündete Premierminister Modi im Mai 2020 eine neue Wirtschaftspolitik (»Atmanirbhar Bharat«). Damit betonte er noch stärker die nationale Eigenständigkeit, ohne aber die frühere Importsubstitutionspolitik wieder aufleben zu lassen. Modi setzt vielmehr darauf, unrentable Staatsbetriebe zu privatisieren sowie einheimische Unternehmen gezielt zu fördern.
Modi will Indien bis zur 100-jährigen Unabhängigkeit im Jahr 2047 zu einer entwickelten Volkswirtschaft machen. Um dieses Ziel zu erreichen, müsste das Land aber über 20 Jahre ein jährliches Wachstum von durchschnittlich 7 Prozent generieren. Hierzu müsste das Land seinen komparativen Vorteil niedriger Arbeitskosten in der internationalen Arbeitsteilung weit stärker ausspielen, den heimischen Industriesektor ausweiten und auf diesem Wege Arbeitsplätze für das Heer geringqualifizierter Arbeiter schaffen. Angesichts der niedrigen Sparquote Indiens und der fehlenden fiskalischen Spielräume ist der Export auch der einzig plausible Wachstumstreiber. Gemessen an seinem Potential hätte Indien prinzipiell gute Chancen, eine wachsende Industrieproduktion auf den Weltmärkten abzusetzen, gegebenenfalls durch Verdrängung anderer asiatischer Anbieter.
Die hochfliegenden Ambitionen und die tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklungen klaffen indes an vielen Stellen auseinander. Seit der Liberalisierung 1991 konnte das Land zwar beachtliche Entwicklungserfolge in der Informationstechnologie und im Pharmasektor verbuchen. Gesamtwirtschaftlich gesehen stagniert Indiens Industrialisierung jedoch. Unverändert beläuft sich der Anteil des verarbeitenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt auf den enttäuschend niedrigen Wert von 14 Prozent (2021). Die Zahl der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe fiel gar um gut 20 Millionen. Bei einem Auslastungsgrad in der Industrie von unter 70 Prozent blieben die Investitionen trotz der unter Modi verbesserten Rahmenbedingungen schwach.
International hat sich Indien unter Modi mit seiner merkantilistischen Außenwirtschaftspolitik in eine problematische Lage manövriert. Abgesehen von einer begrenzten Zahl kompetitiver Unternehmen in den Bereichen IT und Arzneimittel ist es um die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Indiens Industrie nicht gut bestellt. Der Warenverkehr mit dem Ausland verzeichnet alljährlich hohe Defizite. Zudem hat die Corona-Krise Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten im Import von Vorleistungen aus China offengelegt. Der Grenzzwischenfall am Fluss Galwan im Sommer 2020, bei dem 20 indische und mindestens vier chinesische Soldaten getötet wurden, hat die bilateralen Beziehungen merklich eingetrübt. Trotz des ohnehin hohen Zollschutzes und einer Reihe anderer gegen China gerichteter Schutz- und Boykottmaßnahmen vergrößerte sich das Handelsdefizit mit China in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 weiter.
Da Indien weder Mitglied der Freihandelszone RCEP noch des Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP) im Indo-Pazifik ist, steht es in der Region außenwirtschaftlich im Abseits. So müssen Indiens Ausfuhren die Zoll- und Importhürden der RCEP- und CPTTP-Staaten überwinden. Gleichzeitig ist die indische Industrieproduktion durch höhere Einfuhrkosten belastet, da die importierten Vorleistungen aus den RCEP- und CPTPP-Regionen zu verzollen sind. Ohnehin liegt in Indien der angewandte meistbegünstigte WTO-Durchschnittszollsatz deutlich höher als anderswo in der Region, nämlich bei 14,9 Prozent im Industriebereich und sogar fast 40 Prozent im Agrarbereich (2021). Daher ist das Land nur begrenzt in die asiatischen Wertschöpfungsketten integriert und befindet sich im Standortwettbewerb um neue Industrieansiedlungen im Nachteil.
Mit einer neuen Generation von Freihandelsabkommen will Indien sich einen Ausweg aus seiner nicht unverschuldeten Isolierung bahnen, Lieferquellen sichern und diversifizieren, neue Exportmärkte erschließen sowie Kapital und Technologie neu anwerben. Ein wichtiges politisches Motiv dabei ist, seine wirtschaftliche und technologische Abhängigkeit von China zu reduzieren. Angesichts des gestiegenen ökonomischen und politischen Drucks ist Indien nunmehr sichtlich bereit, auch über heikle Themen wie Nachhaltigkeit, öffentliche Beschaffungen und digitalen Handel ernsthaft zu verhandeln. 2021 hat das Land ein Freihandelsabkommen mit Mauritius und 2022 eines mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) geschlossen. Im selben Jahr vereinbarte es mit Australien unter dem Titel »Early Harvest« ein rasch anwendbares Interimsabkommen, das den Weg für ein umfassendes Freihandelsabkommen ebnen soll. Weiterhin steht Indien in Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen mit dem Golfkooperationsrat, Großbritannien, Israel und Kanada. Indien ist auch ein Partner in der amerikanischen Indo-Pacific Economic Framework Initiative (IPEF). Den höchsten Stellenwert dürften aber die im Juni 2022 mit der EU aufgenommenen Verhandlungen genießen.
Unausgeschöpfte Potentiale in den Wirtschaftsbeziehungen
Die EU und Indien, dritt- und fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, sind schon heute bedeutende Handels- und Wirtschaftspartner. Indien ist mit einem Außenhandelsvolumen von 88 Milliarden Euro (2021) Europas zehntwichtigster Handelspartner, der viertwichtigste in Asien. Europas ökonomischer Stellenwert für Indien ist noch größer: So ist Europa drittwichtigster Handelspartner und zweitwichtigster Absatzmarkt, jeweils nach den USA. Unter den EU-Mitgliedstaaten liegt Deutschland mit einem Anteil von 21,4 Prozent (2021) an der Spitze, gefolgt von Belgien, Frankreich, Italien und den Niederlanden. Der weitgehend ausgeglichene europäisch-indische Handel umfasst die gesamte Palette der gewerblichen Wirtschaft.
Dagegen spielen der Agrarhandel sowie indische Energie- und Rohstoffexporte nach Europa eine untergeordnete Rolle. Politisch können sie aber höchst relevant sein. In Agrarlieferketten etwa manifestieren sich besonders häufig unterschiedliche Präferenzen der Erzeuger- und Verbraucherländer in puncto Nachhaltigkeit, etwa zur Frage, welcher Tierschutz in der Landwirtschaft gelten solle. Zudem können Schutzmaßnahmen in diesem Sektor die globale Nahrungsmittelversorgung aus dem Gleichgewicht bringen, wie beispielsweise jüngst die indischen Agrarexportverbote im Kontext des Ukraine-Kriegs.
Weitaus dynamischer als der Warenhandel hat sich in den vergangenen Jahren der Dienstleistungsverkehr entwickelt, konzentriert auf die Bereiche Transport, Information, Kommunikation und Unternehmensdienstleistungen. Mit einem Volumen von fast 40 Milliarden Euro (2021) liegt er indes noch deutlich unter dem Niveau des Warenhandels. Bei den Direktinvestitionen zählt die EU neben Mauritius, Singapur, den USA und Großbritannien zu den bedeutendsten Auslandsinvestoren in Indien.
Die politischen Beziehungen zwischen Indien und der EU haben sich in den letzten Jahren weiter intensiviert. 2004 wurde eine strategische Partnerschaft vereinbart. Die 2020 beschlossene Roadmap 2025 gibt den Fahrplan für den Ausbau der Beziehungen vor. 2022 verständigten sich die EU und Indien auf einen gemeinsamen Handels- und Technologierat. Geopolitisch haben sich die beiden Seiten mit Blick auf China in den vergangenen Jahren angenähert und sehen sich als politisch unentbehrliche Partner. Die Erosion von Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit in Indien seit 2014 hat in Europa allerdings Zweifel genährt, ob das Land tatsächlich ein gleichgesinnter (»like-minded«) Partner sein kann.
Trotz des umfangreichen bilateralen Handels wird immer wieder kritisiert, dass dessen Potential nicht ausgeschöpft sei. Ein wichtiger Grund hierfür ist das Fehlen verbindlicher, vertrauensstiftender bilateraler Handels- und Investitionsschutzabkommen. Die einzige rechtliche Grundlage für den bilateralen Handels- und Dienstleistungsverkehr ist bislang das im WTO-Vertrag verankerte Prinzip der Meistbegünstigung. Zwar gewährt die EU Indien Zollpräferenzen, hat diese aber zu Beginn des Jahres 2023 ausgesetzt, weil die dadurch ausgelösten Absatzerfolge die definierten Schwellenwerte überstiegen. Für den bilateralen Investitionsverkehr gibt es derzeit keine Vereinbarungen, seit Indien einseitig die bestehenden nationalen Abkommen mit 21 EU-Mitgliedstaaten gekündigt hat.
Neue Verhandlungen entlang von drei Einzelabkommen
Der erste Versuch, sich auf ein Freihandelsabkommen zu einigen, scheiterte 2013 nach sieben Jahren fruchtloser Verhandlungen an unüberbrückbaren inhaltlichen Gegensätzen. Die 2022 aufgenommenen Verhandlungen stehen unter günstigeren Vorzeichen. Beide Seiten wollen den Erfolg und können sich ein Scheitern nicht leisten. Die Beziehungen zwischen der EU und Indien fußen in erster Linie auf der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, während in außen- und sicherheitspolitischen Fragen für beide Seiten ihr Verhältnis zu den USA im Vordergrund steht. Der Sinn und Zweck der europäisch-indischen Partnerschaft stünde in Frage, sollte es erneut misslingen, zukunftsweisende Abkommen für den bilateralen Handel und Investitionsverkehr zu schließen. Dieses Mal werden die Verhandlungen in den Bereichen Handel, Investitionsschutz und geographische Herkunftsbestimmungen (GI) getrennt geführt und nicht wie oft üblich als Kapitel eines großen Abkommens. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest in ein oder zwei Bereichen der Abschluss gelingen könnte.
Bei geographischen Herkunftsbezeichnungen scheint eine Einigung am einfachsten, zumal die EU bereits ein entsprechendes Abkommen mit China vereinbaren konnte. Indien müsste zwar auch erst ein eigenes Umsetzungs- und Kontrollregime für GIs etablieren. Im Falle ähnlicher Schutzinteressen sind aber weniger Konflikte zu vermuten. Die Produktmuster Europas und Indiens ergänzen sich eher.
Ein Investitionsschutzabkommen wird hingegen besonders schwierig werden. Da es sich in der EU um einen Bereich gemischter Kompetenz handelt, müssen nicht nur das Europäische Parlament (EP) und der Rat zustimmen, sondern auch die EU-Mitgliedstaaten das Abkommen ratifizieren. Dabei waren gerade die Investitionsschutzkapitel einer der besonders umstrittenen Teile der Handelsabkommen und riefen große Widerstände hervor, vor allem auch in der Zivilgesellschaft. Ähnlich wie in den Abkommen etwa mit Kanada, Singapur und Vietnam verfolgt die EU auch mit Indien ihr neues ehrgeiziges Modell eines verbesserten Investor-Staat-Schiedsverfahrens: Neben einer Berufungsoption enthält dieses die Verpflichtung beider Seiten, einen multilateralen Gerichtshof zu unterstützen. Für das EP und einige Mitgliedstaaten sind solche Verbesserungen entscheidende Voraussetzungen dafür, ein Abkommen zu ratifizieren. Obgleich Indien nach Niederlagen in Investor-Staat-Schiedsverfahren selbst starke Vorbehalte gegen die älteren, weltweit noch immer üblichen Verfahren hegt, erscheint eine Einigung aufgrund des geringen europäischen Verhandlungsspielraums schwierig.
Auch für den Abschluss eines Handelsabkommens bestehen nach wie vor Hindernisse, wenngleich sich beide Seiten hier aufeinander zubewegt haben. Indien hat 2017 wichtige Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zur Kinderarbeit unterschrieben. Im Abkommen mit den VAE hat das Land seine öffentlichen Beschaffungsmärkte teilweise geöffnet. Zudem hat Indien infolge der gerade beschlossenen befristeten Aussetzung der EU-Zollpräferenzen einen besonderen Anreiz für einen rechtsverbindlich zugesicherten zollfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt. Angesichts des grassierenden Fachkräftemangels ist die EU zudem heute aufgeschlossener für eine Zuwanderung indischer Fachkräfte als früher, zum Beispiel im IT-Bereich.
Verhandlungen in schwierigem Fahrwasser
Die Positionen der Verhandlungspartner sind in vielen Bereichen allerdings noch weit voneinander entfernt. Erstens ist kaum damit zu rechnen, dass Indien zu substantiellen Importliberalisierungen im sozial und politisch sensiblen Agrarsektor bereit sein könnte. Vor allem die Bereiche Molkereiprodukte, Rindfleisch, Geflügel und Getreide dürften sakrosankt bleiben. Modis Agrarreformen scheiterten 2021 am Widerstand der Bauern, die sich auch einer allzu großzügigen Öffnung in Richtung Weltmarkt entgegenstellen dürften. Zweitens stoßen die europäischen Forderungen nach einer substantiellen Öffnung der indischen Industrie- und Dienstleistungsmärkte unverändert auf die Gegenwehr mächtiger Lobbygruppen und eine protektionistisch-nationalistische Grundhaltung in Politik und Administration. Die kleinen Einzelhändler Indiens zählen zur Kernwählerschaft der Regierungspartei BJP, so dass eine Marktöffnung für die großen europäischen Einzelhandelsunternehmen schwer vorstellbar ist. Drittens ist der europäische Forderungskatalog beim Thema Nachhaltigkeit erheblich weitreichender als noch im Jahr 2013. Neben den einzuhaltenden multilateralen Arbeits-, Umwelt- und Klimaverpflichtungen umfasst der EU-Vorschlagstext zusätzlich weitere Themen wie etwa Geschlechtergerechtigkeit, Biodiversität und nachhaltige Nahrungssysteme inklusive Tierwohlfahrt.
Konflikte scheinen hier programmiert. Europa moniert gegenüber Indien nicht nur die ausstehende Ratifizierung der ILO-Kernnormen zum kollektiven Arbeitsrecht und die schlechte Klimabilanz. Es bestehen auch Zweifel, ob selbst akzeptierte Nachhaltigkeitsstandards auf Ebene der indischen Bundesstaaten effektiv umgesetzt werden. Indien hingegen sieht in diesen Forderungen teilweise einen versteckten »neokolonialen« Protektionismus der EU. Grundsätzlich besteht Indien weiterhin auf seiner nationalen Souveränität in diesen Fragen.
Generell dürften die Erwartungen beider Seiten an das Abkommen hinsichtlich Ambitionsniveau und Verhandlungsführung auseinanderklaffen. Indien möchte so rasch wie möglich ein Abkommen unter Dach und Fach bringen und hat dabei vor allem die leicht erreichbaren Liberalisierungen im Blick. Dagegen strebt die EU ein umfassendes Abkommen an, das nicht nur substantielle Verbesserungen im Marktzugang sensibler Marktsegmente wie Kraftfahrzeuge, Wein und Spirituosen, Banken und Unternehmensdienste mit sich bringt. Es soll auch Festlegungen enthalten, die Indien langfristig binden. Nach dem Wunsch der EU beträfen diese beispielsweise Ursprungsregeln, technische Handelshemmnisse, Regulierungen, Subventionen, gewerblichen Rechtsschutz und die genannten Nachhaltigkeitsthemen.
Europas politisches Interesse an Indien erfordert besondere Bemühungen um eine handelspolitische Kompromisslösung. Bereits aus dem WTO-Grundsatz der besonderen und differenzierten Behandlung von Entwicklungsländern leitet sich ab, dass eine asymmetrische, also indischen Interessen entgegenkommende Zollliberalisierung ins Werk gesetzt werden muss. Danach sollte Europa bei der geforderten Marktöffnung einlenken und längere Übergangsfristen in besonders sensiblen Sektoren anbieten. Im Sinne der Nachhaltigkeit sollte die EU gemeinsam mit Indien einen Umsetzungsplan aufstellen. Gleichwohl sollte sie darauf bestehen, dass Indiens Importliberalisierungen Substanz haben. Die Marktöffnungen müssen ökonomisch hinreichend attraktiv sein, um die von Europa und Indien beidseitig angestrebte Handelsexpansion und außenwirtschaftliche Integration möglich zu machen.
Angesichts der bestehenden Differenzen wird es eines gehörigen Maßes an Flexibilität und Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten bedürfen, um in den schwierigen Verhandlungen zu einem tragfähigen Abschluss zu gelangen. Man kann mit gutem Grund skeptisch sein, ob sich die unterschiedlichen Vorstellungen beider Seiten zu Marktöffnung, Liberalisierung und Nachhaltigkeit in Einklang bringen lassen. Wenn überhaupt, lassen sich diese europäischen Forderungen nur über mehrere Verhandlungsrunden erfüllen, und in den für Indien sozial und politisch kritischen Bereichen Molkereiwirtschaft, Geflügelzucht und Einzelhandel dürften sie abermals auf den Widerstand von Nichtregierungsorganisationen in Europa und Indien treffen.
Es gibt aber auch Anlass für vorsichtigen Optimismus, denn für die kritischen Fragen liegen durchaus vielversprechende Lösungsansätze vor: Das schnell anwendbare Early-Harvest-Abkommen von 2022 zwischen Indien und Australien bietet Ansatzpunkte für die Verhandlungen mit der EU über den Agrarsektor. Damit ließe sich der indischen Sorge vor zerstörerischer Importflut, beispielsweise im Molkereisektor, begegnen, etwa durch Zugeständnisse bei der Höhe des Zollabbaus oder der Dauer von Übergangsfristen sowie durch Schutzklauseln bei auftretender Importsteigerung. Die EU sollte zudem ihre eigenen Agrarinteressen eher durch GIs für besondere Qualitätsprodukte als durch Forderungen nach Marktzugang verfolgen. Zugleich kann dieser Ansatz indische Interessen in bestimmten Segmenten stärken: So können einzelne indische GIs von Unterstützungsprogrammen der EU als Teil umfassenderer Wirtschaftsförderung begleitet werden.
Beim Thema Nachhaltigkeit kann die neue, im Sommer 2022 veröffentlichte EU-Strategie für mehr Partnerschaft dazu beitragen, strittige Punkte bei Nachhaltigkeitskapiteln in Handelsabkommen auszuräumen. Hiernach sollen für Zwischenziele gemeinsam Prioritäten, konkrete Zeitpläne und Unterstützungsoptionen definiert werden. Zusätzlich aber sollte die EU Indien dabei helfen, die in Kürze ohnehin einzuhaltenden Sorgfaltspflichten für Nachhaltigkeit von Lieferketten bei Absatz in der EU zu erfüllen, und zwar unabhängig vom Abschluss eines Handelsabkommens. Dann können diese neuen Pflichten für Indien Anreiz und Chance sein, die bislang als Bedrohung wahrgenommenen Nachhaltigkeitskapitel zu akzeptieren.
Außen- und geopolitische Interessen als Treiber
Als Ergebnis eines erfolgreichen Verhandlungsabschlusses winkt ein Zugewinn an Einkommen, Beschäftigung und Wohlfahrt. Neben den wirtschaftlichen Vorteilen besitzen die Abkommen auch eine wichtige politische Dimension, denn ein Erfolg liegt im geopolitischen Interesse Deutschlands und der EU. Erstens untermauern die Abkommen die strategische Partnerschaft zwischen Europa und Indien, die wie oben erörtert in ihrem Kern auf wirtschaftlicher Zusammenarbeit ruht. Zweitens sind sowohl die EU als auch Indien bestrebt, ihre Außenwirtschaftsbeziehungen zu diversifizieren, ihre jeweiligen Abhängigkeiten von China zu mindern und durch eine bilaterale Vereinbarung mehr handels- und außenpolitisches Profil in der indo-pazifischen Region zu gewinnen. Drittens sendet ein solches Abkommen klare Signale nach Peking und Washington, denn Brüssel ebenso wie Neu-Delhi betonen immer wieder ihre strategische Autonomie. Viertens wäre ein erfolgreicher Verhandlungsabschluss ein unmissverständliches handelspolitisches Zeichen gegen die weltweiten Tendenzen des Protektionismus. Und fünftens muss Deutschland und Europa an einem prosperierenden Indien gelegen sein, das zur Gegenmachtbildung gegenüber China in der Lage ist.
Seit dem Abbruch der Verhandlungen 2013 hat sich das außen- und handelspolitische Umfeld für beide Seiten fundamental gewandelt. In Welthandel und Weltwirtschaft hat das Gewicht des Globalen Südens, vor allem Chinas, erheblich zugenommen. Gleichzeitig ist Handelspolitik auch zur Geopolitik geworden. Während die sino-amerikanische Rivalität international einen bestimmenden geopolitischen Rahmen bildet, suchen die EU und Indien jeweils nach einer möglichst eigenständigen Rolle. Ähnlich wie die USA sehen Europa und Indien in Chinas totalitärer Regierungsführung, merkantilistischer Industriepolitik und expansiver Machtprojektion eine existentielle Bedrohung für Frieden, Stabilität, die internationale Ordnung und den eigenen Wohlstand. Trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmung mit Amerika sind sie aber nicht bereit, ihre politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu China dem geopolitischen Imperativ Washingtons unterzuordnen. Während sich die USA mittels Strafzöllen, Sanktionen und Technik-Boykotten wirtschaftlich von China entkoppeln, folgen Indien und die EU in ihren Außenwirtschaftspolitiken den amerikanischen Vorgaben nur teilweise. Statt genereller Entkopplung geht es beiden vordringlich darum, ökonomische Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten zu verringern. Diversifizierung durch engeren bilateralen Austausch liegt daher im gemeinsamen indisch-europäischen Interesse.
Für die europäische Industrie ist Indien gemessen an seiner Größe und seinem Wachstumspotential die einzige mittelfristig plausible attraktive Alternative zu China als Produktionsstandort und Absatzmarkt. Wie Indien ist auch die EU im indopazifischen Raum handelspolitisch isoliert, da sie nicht Teil der Handelsverbünde RCEP und CPTPP ist. Durch ein Freihandelsabkommen mit Indien, das die Abkommen mit Japan, Korea, Singapur und Vietnam ergänzt, kann die EU handelspolitisch merklich an Profil gewinnen. Zudem trüge das Abkommen generell dazu bei, die globalen Partnerschaften der EU zu stärken.
Für Indien ist Europa mit seinem Binnenmarkt, als Anbieter von Investitionskapital, Technologie und Infrastruktur sowie als Türöffner zu globalen Absatzmärkten ein unverzichtbarer Handels- und Wirtschaftspartner. Indien lehnt eine Einbindung in die asiatischen Handelsverbünde und Lieferketten ab, sofern sich damit die Abhängigkeit von China erhöhen würde. Zugleich aber wird Indien der diskriminierungsfreie Zugang zum amerikanischen Markt für geraume Zeit versperrt bleiben. Als wirklich gewichtige handelspolitische Option bleibt daher nur das avisierte Freihandelsabkommen mit der EU übrig. In der Vorausschau können Indiens zollfreier Zugang zum Europäischen Binnenmarkt und die Ansiedlung europäischer Unternehmen in Indien wirksame Impulse für den von Neu-Delhi anvisierten Aufbau einer wettbewerbsfähigen Industrie setzen. Damit ließe sich ein wesentlicher Beitrag für das angestrebte nachhaltig hohe Wirtschaftswachstum leisten.
Nicht zuletzt ist es für Indien auch geopolitisch von Bedeutung, sich wirtschaftlich substantiell weiterzuentwickeln. Angesichts eines mehr und mehr chinazentrierten Asiens und Russlands zunehmender Abhängigkeit von China braucht Indien ein dauerhaft hohes Wirtschaftswachstum, um seine außenpolitischen Ambitionen umzusetzen und sich so im künftigen multipolaren Mächtekonzert zu behaupten. Dies wird nur mit mehr Integration in die internationale Arbeitsteilung zu verwirklichen sein. Ein wirtschaftlich starkes Indien ist als Gegengewicht zu China im Indo-Pazifik auch in Europas geopolitischem Interesse.
Die europäischen Institutionen sehen sich dabei diversen Herausforderungen gegenüber. Die EU-Kommission muss einen Kompromiss zwischen den divergierenden Perspektiven der Generaldirektion Handel (DG Trade) und des Auswärtigen Dienstes (EEAS) finden, um dem selbstgesetzten Anspruch als geopolitische Kommission mit Blick auf Indien gerecht zu werden. Im EP müssen die Parteien wirtschaftliche Interessen mit politischen Fragen in Einklang bringen, die vor allem die autokratischen Tendenzen in Indien sowie die Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit und der Zivilgesellschaft betreffen.
Ausblick
Die Verhandlungen sind von dem Paradox geprägt, zugleich einfacher und schwieriger zu sein als die 2013 schließlich gescheiterten Vorgängerrunden. Heute haben Indien und die EU mehr außenpolitische Gemeinsamkeiten als zuvor, zum Beispiel mit Blick auf ihre internationale Rolle sowie ihr Verhältnis zu China und den USA. Doch ihre jeweiligen inneren Entwicklungen haben die EU und Indien in den letzten Jahren auseinanderdriften lassen. Stark vereinfacht ist die EU »nachhaltiger« und »normativer« geworden, Indien hingegen eher »nationalistischer« und »protektionistischer«. Allerdings ist ein erneutes Scheitern für beide Seiten keine Option, da die bilateralen Beziehungen andernfalls schweren Schaden nähmen. Erfolgsfaktor auf europäischer Seite könnte sein, die Mechanismen der Ratifizierung in den drei anvisierten Einzelabkommen jeweils flexibel zu handhaben. Schon ein kleiner Erfolg in einem Bereich könnte ein großer Schritt für die Fortsetzung der Verhandlungen in den anderen Bereichen sein und damit die europäisch-indischen Beziehungen langfristig stärken.
Dr. Hanns Günther Hilpert und Dr. Christian Wagner sind Senior Fellows in der Forschungsgruppe Asien. Dr. Bettina Rudloff ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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