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Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen Indien und der EU

Ambitionen, Erwartungen, Widerstände und Anreize

SWP-Aktuell 2023/A 11, 10.02.2023, 8 Pages

doi:10.18449/2023A11

Research Areas

Im Sommer 2022 haben die Europäische Union (EU) und Indien erneut Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen aufgenommen, um ihre strategische Partnerschaft zu vertiefen. Darüber hinaus verhandeln die beiden Seiten über ein Investitionsschutzabkommen sowie ein Abkommen zum Schutz geographischer Herkunfts­angaben. Die EU möchte damit ihre Beziehungen zu den Staaten im Indo-Pazifik diversifizieren und unterstreicht Indiens herausgehobenen Stellenwert. Indien will durch die Koope­ra­tion mit der EU seine wirtschaftliche und technologische Modernisierung vorantreiben, die für die angestrebte größere internationale Rolle des Landes unabdingbar ist. Anders als die 2013 gescheiterten Gespräche sind die jetzigen Verhandlungen von dem Paradox gekennzeichnet, zugleich einfacher und komplizierter zu sein. Sie sind einfacher, weil die EU und Indien heute in geopolitischen Fragen vor allem mit Blick auf China mehr Übereinstimmung haben als je zuvor. Sie sind aber auch komplizierter, weil der Erfolg der Verhandlungen weiterhin von schwierigen Zugeständnissen auf beiden Seiten abhängt. Doch erneu­t zu scheitern ist weder für Indien noch für die EU mit Blick auf die Zukunft ihrer strategischen Partnerschaft eine Option.

Indien ist die neue Wachstumsstory Asiens. Schon für die Jahre 2023 und 2024 progno­stizieren der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) hohe wirtschaftliche Wachstums­raten Indiens von über 6 Prozent, also deut­lich höher als im Falle Chinas. Für Indien sprechen die Größe des Landes, die bei der jungen Alters­struktur zu erwartende demo­graphische Dividende sowie der enorme Nach- und Aufholbedarf in Bezug auf Indu­strialisierung und exportgeführtes Wachs­tum. Die EU ist mit einem Anteil von 10,9 Pro­zent Indiens drittgrößter Handelspartner (2021) und könnte vom Wirtschaftswachstum des Landes enorm profitieren.

Indien gehörte 1948 zu den 23 ersten Unterzeichnerstaaten des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT), setzte je­doch in der Folge auf eine binnenorientierte Wirtschafts­entwicklung und schottete sich von den Weltmärkten ab. Mit Sub­ven­tionen und Zollschutz sollte durch Importsubstitution eine leistungsfähige nationale Indu­strie entstehen. Das durch­schnittliche Wirt­schaftswachstum bis 1991 war jedoch zu gering, um ähnliche Entwicklungserfolge wie die Schwellen­länder Ost- und Südost­asiens zu erzielen. Erst im Zuge der Libera­lisierung ab 1991 senkten indische Regie­rungen die Durchschnitts­zölle unilateral und suk­zessiv von 150 auf 13 Pro­zent. Die Refor­men führten zu einer signifikanten Erhö­hung der Exporte im Zeit­raum 1995 bis 2018, wie es weltweit sonst nur bei Viet­nam und China zu beob­achten war. Diese Wachstumserfolge bewirkten laut den Ver­ein­ten Nationen (VN) auch, dass die Zahl der von Armut betroffe­nen Menschen in Indien zwischen 2006 und 2016 um 271 Millionen sank. Trotz­dem fand die Periode der binnen- und außenwirtschaftlichen Liberalisierung unter dem Eindruck der globalen Finanzmarktkrise 2007/08 keine Fortsetzung.

Neuer Realismus in Indiens Handelspolitik

Mit der Regierungsübernahme von Pre­mier­minister Modi und der Bharatiya Janata Party (BJP) 2014 verbanden sich große Hoff­nungen auf weitere wirtschaft­liche Refor­men und eine noch stärkere Ein­bindung Indiens in die Weltwirtschaft. Aller­dings errichtete Neu-Delhi zunächst neue Import­barrieren, erhöhte punktuell kri­tische Zoll­linien, etwa für Schuhe, Beklei­dung und Mobiltelefone, und kündigte in den Jahren 2016 und 2017 bestehende Investitionsschutzabkommen. Dies zog auch multilaterale und bilaterale Konflikte nach sich.

Multilateral verhinderte Indiens geringe Kompromissbereitschaft mehrmals Fort­schritte bei Verhandlungen in der Welthandelsorganisation (WTO), etwa über die Begrenzung von Agrarsubventionen. Auch wurden gegen kein Land so häufig Streit­schlichtungsverfahren bei der WTO ange­strengt wie gegen In­dien, sieht man einmal von den handelspolitischen Schwer­gewichten EU, USA und China ab. 2019 verabschiedete sich Indien kurz vor der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens Regional Comprehensive Economic Partner­ship (RCEP) aus den Ver­handlungen. Bilate­ral vereinbarte Indien zwar noch in den 2000er Jahren verschiedene Freihandels­abkommen, etwa mit Korea, Japan sowie den regionalen Wirtschaftsorganisationen ASEAN und Mercosur. Diese Vereinbarungen enthielten aber praktisch keine sub­stantiellen Zollsenkungen und Marktöffnungen und bewirkten daher auch keine nennens­werte Handelsexpansion. Die Modi-Regie­rung schloss bis 2021 keine neuen bilatera­len Handelsabkommen.

Auf nationaler Ebene setzte Neu-Delhi mit staatlichen Programmen wie »Make in India«, »Skill in India« und »Digital India« mittels Subventionen, Steuernachlässen und gezieltem Importschutz spezifische Anreize für Inves­tition und Produktion in Schlüsselindus­trien. Zudem ergriff die Regierung Modi weitere wirtschaftsfreundliche Maßnahmen, darunter öffentliche Investitionen zugunsten der Infrastruktur, die Senkung der Körperschaftssteuer, Preisliberalisierungen, die Beseitigung von Investi­tionsrestriktionen und die Durch­setzung einer nationalen Mehrwertsteuer. Auf diese Weise verbesserte sich Indien im Ease-of-Doing-Busi­ness-Index der Welt­bank von Rang 142 (2014) auf Rang 63 (2019). Während der Corona-Pandemie ver­kündete Premierminister Modi im Mai 2020 eine neue Wirt­schafts­politik (»Atmanirbhar Bha­rat«). Damit betonte er noch stärker die natio­nale Eigen­ständigkeit, ohne aber die frühere Import­substitutionspolitik wieder aufleben zu lassen. Modi setzt viel­mehr darauf, un­rentable Staatsbetriebe zu privatisieren sowie einheimische Unter­nehmen gezielt zu fördern.

Modi will Indien bis zur 100-jährigen Unabhängigkeit im Jahr 2047 zu einer ent­wickelten Volkswirtschaft machen. Um dieses Ziel zu erreichen, müsste das Land aber über 20 Jahre ein jährliches Wachstum von durchschnittlich 7 Prozent generieren. Hierzu müsste das Land seinen komparativen Vorteil niedriger Arbeits­kosten in der internationalen Arbeitsteilung weit stärker ausspielen, den heimischen Industriesektor ausweiten und auf diesem Wege Arbeitsplätze für das Heer geringqualifizierter Arbeiter schaf­fen. Angesichts der niedrigen Sparquote Indiens und der fehlenden fiskalischen Spielräume ist der Export auch der einzig plausible Wachstumstreiber. Gemessen an seinem Potential hätte Indien prinzipiell gute Chan­cen, eine wach­sende Industrieproduktion auf den Welt­märkten abzusetzen, gegebenenfalls durch Verdrängung anderer asiatischer Anbieter.

Die hochfliegenden Ambitionen und die tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklungen klaffen indes an vielen Stellen aus­ein­ander. Seit der Liberalisierung 1991 konnte das Land zwar beachtliche Entwicklungs­erfolge in der Informationstechnologie und im Pharmasektor verbuchen. Gesamtwirtschaftlich gesehen stagniert Indiens Indu­strialisierung jedoch. Unverändert beläuft sich der Anteil des verarbeitenden Gewerbes am Bruttoinlandsprodukt auf den ent­täuschend niedrigen Wert von 14 Pro­zent (2021). Die Zahl der Beschäftigten im ver­ar­beitenden Gewerbe fiel gar um gut 20 Mil­lionen. Bei einem Auslastungsgrad in der Industrie von unter 70 Prozent blieben die Investitionen trotz der unter Modi verbesserten Rahmenbedingungen schwach.

International hat sich Indien unter Modi mit seiner merkantilistischen Außenwirtschaftspolitik in eine problematische Lage manövriert. Abgesehen von einer begrenzten Zahl kompetitiver Unternehmen in den Bereichen IT und Arzneimittel ist es um die internatio­nale Wettbewerbsfähigkeit von Indiens Industrie nicht gut bestellt. Der Waren­verkehr mit dem Aus­land verzeichnet all­jährlich hohe Defizite. Zudem hat die Corona-Krise Abhängigkeiten und Ver­wundbarkeiten im Import von Vorleistungen aus China offengelegt. Der Grenz­zwischenfall am Fluss Galwan im Sommer 2020, bei dem 20 indische und mindestens vier chinesische Soldaten ge­tötet wurden, hat die bilateralen Beziehungen merklich ein­getrübt. Trotz des ohnehin hohen Zoll­schutzes und einer Reihe anderer gegen China gerichteter Schutz- und Boykottmaßnahmen vergrößerte sich das Handelsdefizit mit China in den ersten neun Mona­ten des Jahres 2022 weiter.

Da Indien weder Mitglied der Freihandels­zone RCEP noch des Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership (CPTPP) im Indo-Pazifik ist, steht es in der Region außenwirtschaftlich im Abseits. So müssen Indiens Ausfuhren die Zoll- und Importhürden der RCEP- und CPTTP-Staaten überwinden. Gleichzeitig ist die indische Industrieproduktion durch höhere Einfuhrkosten belastet, da die im­portierten Vorleistungen aus den RCEP- und CPTPP-Regionen zu verzollen sind. Ohne­hin liegt in Indien der angewandte meistbegün­stigte WTO-Durchschnitts­zollsatz deutlich höher als anderswo in der Region, nämlich bei 14,9 Prozent im Industrie­bereich und sogar fast 40 Prozent im Agrar­bereich (2021). Daher ist das Land nur be­grenzt in die asia­tischen Wertschöpfungsketten inte­griert und befindet sich im Standortwettbewerb um neue Industrieansiedlungen im Nach­teil.

Mit einer neuen Generation von Freihandelsabkommen will Indien sich einen Ausweg aus seiner nicht unverschuldeten Isolierung bahnen, Lieferquellen sichern und diversifizieren, neue Exportmärkte erschlie­ßen sowie Kapital und Technologie neu anwerben. Ein wichtiges politisches Motiv dabei ist, seine wirtschaftliche und technologische Abhängigkeit von China zu reduzieren. Angesichts des gestiegenen ökonomischen und politischen Drucks ist Indien nunmehr sichtlich bereit, auch über heikle Themen wie Nachhaltigkeit, öffent­liche Beschaffungen und digitalen Handel ernsthaft zu verhandeln. 2021 hat das Land ein Freihandelsabkommen mit Mauritius und 2022 eines mit den Vereinigten Arabi­schen Emiraten (VAE) geschlossen. Im selben Jahr vereinbarte es mit Austral­ien unter dem Titel »Early Harvest« ein rasch anwendbares Interimsabkommen, das den Weg für ein umfassendes Freihandelsabkom­men ebnen soll. Weiterhin steht Indien in Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen mit dem Golfkooperationsrat, Großbritannien, Israel und Kanada. Indien ist auch ein Part­ner in der amerikanischen Indo-Pacific Eco­nomic Framework Initiative (IPEF). Den höchsten Stellenwert dürften aber die im Juni 2022 mit der EU aufgenommenen Verhandlungen genießen.

Unausgeschöpfte Potentiale in den Wirtschaftsbeziehungen

Die EU und Indien, dritt- und fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, sind schon heute bedeutende Handels- und Wirtschaftspart­ner. Indien ist mit einem Außenhandels­volumen von 88 Milliarden Euro (2021) Europas zehntwichtigster Handelspartner, der viertwichtigste in Asien. Europas öko­nomischer Stellenwert für Indien ist noch größer: So ist Europa drittwichtigster Han­delspartner und zweit­wichtigster Absatzmarkt, jeweils nach den USA. Unter den EU-Mit­gliedstaaten liegt Deutschland mit einem Anteil von 21,4 Prozent (2021) an der Spitze, gefolgt von Belgien, Frankreich, Italien und den Niederlanden. Der weit­gehend aus­geglichene europäisch-indische Handel um­fasst die gesamte Palette der gewerb­lichen Wirtschaft.

Dagegen spielen der Agrarhandel sowie indische Energie- und Rohstoffexporte nach Europa eine untergeordnete Rolle. Politisch können sie aber höchst relevant sein. In Agrar­lieferketten etwa manifestieren sich besonders häufig unter­schiedliche Präferen­zen der Erzeuger- und Verbraucherländer in puncto Nachhaltigkeit, etwa zur Frage, welcher Tierschutz in der Land­wirtschaft gelten solle. Zudem können Schutzmaßnah­men in diesem Sektor die globale Nahrungs­mittel­versorgung aus dem Gleichgewicht bringen, wie beispielsweise jüngst die indi­schen Agrarexportverbote im Kontext des Ukraine­-Kriegs.

Weitaus dynamischer als der Waren­handel hat sich in den vergangenen Jahren der Dienstleistungsverkehr entwickelt, kon­zentriert auf die Bereiche Transport, Infor­mation, Kommunikation und Unternehmensdienstleistungen. Mit einem Volu­men von fast 40 Milliarden Euro (2021) liegt er indes noch deutlich unter dem Niveau des Waren­­handels. Bei den Direktinvestitionen zählt die EU neben Mauritius, Singapur, den USA und Großbritannien zu den bedeutendsten Auslandsinvestoren in Indien.

Die politischen Beziehungen zwischen Indien und der EU haben sich in den letz­ten Jahren weiter intensiviert. 2004 wurde eine strategische Partnerschaft vereinbart. Die 2020 beschlossene Roadmap 2025 gibt den Fahrplan für den Ausbau der Beziehun­gen vor. 2022 verständigten sich die EU und Indien auf einen gemeinsamen Handels- und Technologierat. Geopolitisch haben sich die beiden Seiten mit Blick auf China in den vergangenen Jahren angenähert und sehen sich als politisch unentbehrliche Part­ner. Die Erosion von Demokratie, Meinungs­freiheit und Rechtsstaatlichkeit in Indien seit 2014 hat in Europa allerdings Zwei­fel genährt, ob das Land tatsächlich ein gleich­gesinnter (»like-minded«) Partner sein kann.

Trotz des umfangreichen bilateralen Handels wird immer wieder kritisiert, dass dessen Potential nicht ausgeschöpft sei. Ein wichtiger Grund hierfür ist das Fehlen ver­bindlicher, vertrauensstiftender bilateraler Handels- und Investitionsschutzabkommen. Die einzige rechtliche Grundlage für den bilateralen Handels- und Dienstleistungsverkehr ist bislang das im WTO-Vertrag verankerte Prinzip der Meistbegünstigung. Zwar gewährt die EU Indien Zollpräferenzen, hat diese aber zu Beginn des Jahres 2023 ausgesetzt, weil die dadurch ausgelösten Absatzerfolge die definierten Schwellenwerte überstiegen. Für den bilateralen Investitionsverkehr gibt es derzeit keine Vereinbarungen, seit Indien einseitig die bestehenden nationalen Abkommen mit 21 EU-Mitgliedstaaten gekündigt hat.

Neue Verhandlungen entlang von drei Einzelabkommen

Der erste Versuch, sich auf ein Freihandelsabkommen zu einigen, scheiterte 2013 nach sieben Jahren fruchtloser Verhandlungen an unüberbrückbaren inhaltlichen Gegen­sätzen. Die 2022 aufgenommenen Verhandlungen stehen unter günstigeren Vor­zeichen. Beide Seiten wollen den Erfolg und können sich ein Scheitern nicht leisten. Die Bezie­hungen zwischen der EU und Indien fußen in erster Linie auf der wirt­schaftlichen Zusammenarbeit, während in außen- und sicherheitspolitischen Fragen für beide Seiten ihr Verhältnis zu den USA im Vor­der­grund steht. Der Sinn und Zweck der europäisch-indischen Partnerschaft stünde in Frage, sollte es erneut misslingen, zu­kunftsweisende Abkommen für den bilate­ralen Handel und Investitionsverkehr zu schließen. Dieses Mal werden die Ver­handlungen in den Bereichen Handel, Inve­s­titionsschutz und geographische Her­kunfts­­bestimmungen (GI) getrennt geführt und nicht wie oft üblich als Kapitel eines großen Abkommens. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest in ein oder zwei Bereichen der Abschluss gelingen könnte.

Bei geographischen Herkunftsbezeichnungen scheint eine Einigung am einfachsten, zu­mal die EU bereits ein entsprechendes Ab­kom­men mit China vereinbaren konnte. Indien müsste zwar auch erst ein eigenes Umsetzungs- und Kontrollregime für GIs etablieren. Im Falle ähnlicher Schutzinter­essen sind aber weniger Konflikte zu ver­muten. Die Produktmuster Europas und Indiens ergänzen sich eher.

Ein Investitionsschutzabkommen wird hingegen besonders schwierig werden. Da es sich in der EU um einen Bereich gemischter Kompetenz handelt, müssen nicht nur das Europäische Parlament (EP) und der Rat zustimmen, sondern auch die EU-Mitglied­staaten das Abkommen ratifizieren. Dabei waren gerade die Investitionsschutzkapitel einer der besonders umstrittenen Teile der Handelsabkommen und riefen große Wider­stände hervor, vor allem auch in der Zivilgesellschaft. Ähnlich wie in den Ab­kommen etwa mit Kanada, Singapur und Vietnam verfolgt die EU auch mit Indien ihr neues ehrgeiziges Modell eines verbes­serten Investor-Staat-Schiedsverfahrens: Neben einer Berufungsoption enthält dieses die Verpflichtung beider Seiten, einen multilateralen Gerichtshof zu unterstützen. Für das EP und einige Mitgliedstaaten sind solche Verbesserungen entscheidende Voraussetzungen dafür, ein Abkommen zu ratifizieren. Obgleich Indien nach Nieder­lagen in Investor-Staat-Schiedsverfahren selbst starke Vorbehalte gegen die älteren, weltweit noch immer üblichen Verfahren hegt, erscheint eine Einigung aufgrund des geringen europäischen Verhandlungsspielraums schwierig.

Auch für den Abschluss eines Handels­abkommens bestehen nach wie vor Hindernisse, wenngleich sich beide Seiten hier aufein­ander zubewegt haben. Indien hat 2017 wichtige Übereinkommen der Inter­natio­nalen Arbeitsorganisation (ILO) zur Kinder­arbeit unterschrieben. Im Abkommen mit den VAE hat das Land seine öffent­lichen Beschaffungsmärkte teilweise geöff­net. Zudem hat Indien infolge der gerade beschlossenen befristeten Aussetzung der EU-Zollpräferenzen einen besonderen An­reiz für einen rechtsverbindlich zugesicherten zollfreien Zugang zum EU-Binnen­markt. Angesichts des grassierenden Fach­kräftemangels ist die EU zudem heute auf­geschlos­sener für eine Zuwande­rung indi­scher Fachkräfte als früher, zum Beispiel im IT-Bereich.

Verhandlungen in schwierigem Fahrwasser

Die Positionen der Verhandlungspartner sind in vielen Bereichen allerdings noch weit voneinander entfernt. Erstens ist kaum damit zu rech­nen, dass Indien zu substantiellen Importliberalisierungen im sozial und poli­tisch sensiblen Agrarsektor bereit sein könnte. Vor allem die Bereiche Molke­rei­produkte, Rindfleisch, Geflügel und Getreide dürften sakrosankt bleiben. Modis Agrarreformen scheiterten 2021 am Wider­stand der Bauern, die sich auch einer allzu großzügigen Öff­nung in Richtung Weltmarkt entgegen­stellen dürften. Zweitens stoßen die euro­päischen Forderungen nach einer substantiellen Öff­nung der indischen Industrie- und Dienst­leistungsmärkte unverändert auf die Gegen­wehr mächtiger Lobbygruppen und eine protektionistisch-nationalistische Grundhaltung in Politik und Administra­tion. Die kleinen Einzelhändler Indiens zählen zur Kernwählerschaft der Regierungs­partei BJP, so dass eine Marktöffnung für die großen europäischen Einzelhandelsunternehmen schwer vor­stellbar ist. Drittens ist der euro­päische Forderungskatalog beim Thema Nachhaltig­keit erheblich weitreichender als noch im Jahr 2013. Neben den einzuhalten­den multi­lateralen Arbeits-, Umwelt- und Klimaverpflichtungen umfasst der EU-Vor­schlagstext zusätzlich weitere Themen wie etwa Geschlechtergerechtigkeit, Biodiversität und nachhaltige Nah­rungssysteme in­klusive Tierwohlfahrt.

Konflikte scheinen hier programmiert. Europa moniert gegenüber Indien nicht nur die ausstehende Ratifizierung der ILO-Kern­normen zum kollektiven Arbeitsrecht und die schlechte Klimabilanz. Es bestehen auch Zweifel, ob selbst akzep­tierte Nachhaltigkeitsstandards auf Ebene der indi­schen Bundesstaaten effektiv umgesetzt werden. Indien hingegen sieht in diesen Forderungen teilweise einen versteckten »neokolonialen« Protektionismus der EU. Grundsätzlich besteht Indien wei­terhin auf seiner nationalen Souveränität in diesen Fragen.

Generell dürften die Erwartungen beider Seiten an das Abkommen hinsichtlich Am­bitionsniveau und Verhandlungsführung auseinanderklaffen. Indien möchte so rasch wie möglich ein Abkommen unter Dach und Fach bringen und hat dabei vor allem die leicht erreichbaren Liberalisierungen im Blick. Dagegen strebt die EU ein umfassendes Abkommen an, das nicht nur substan­tielle Verbesserungen im Marktzugang sen­sibler Marktsegmente wie Kraftfahrzeuge, Wein und Spirituosen, Banken und Unter­nehmensdienste mit sich bringt. Es soll auch Festlegungen enthalten, die Indien langfristig binden. Nach dem Wunsch der EU beträfen diese beispielsweise Ursprungs­regeln, technische Handelshemmnisse, Regu­lierungen, Subventionen, gewerb­lichen Rechtsschutz und die genannten Nach­haltigkeitsthemen.

Europas politisches Interesse an Indien erfordert besondere Bemühungen um eine handelspolitische Kompromisslösung. Bereits aus dem WTO-Grundsatz der beson­deren und differenzierten Behandlung von Entwicklungsländern leitet sich ab, dass eine asym­metrische, also indischen Inter­essen ent­gegenkommende Zollliberalisierung ins Werk gesetzt werden muss. Danach sollte Europa bei der gefor­derten Markt­öffnung einlenken und längere Übergangsfristen in besonders sensiblen Sek­toren anbieten. Im Sinne der Nachhaltigkeit sollte die EU gemeinsam mit Indien einen Umset­zungsplan aufstellen. Gleichwohl sollte sie darauf bestehen, dass Indiens Importliberalisierungen Substanz haben. Die Marktöffnungen müssen öko­nomisch hin­reichend attraktiv sein, um die von Europa und Indi­en beidseitig angestrebte Handelsexpansion und außenwirtschaft­liche Inte­gration mög­lich zu machen.

Angesichts der bestehenden Differenzen wird es eines gehörigen Maßes an Flexibilität und Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten bedürfen, um in den schwierigen Verhandlungen zu einem tragfähigen Ab­schluss zu gelangen. Man kann mit gutem Grund skeptisch sein, ob sich die unterschied­lichen Vorstellungen beider Seiten zu Marktöffnung, Liberalisierung und Nach­haltigkeit in Einklang bringen lassen. Wenn überhaupt, lassen sich diese euro­päischen Forderungen nur über mehrere Verhandlungsrunden erfüllen, und in den für Indien sozial und poli­tisch kritischen Bereichen Molkereiwirtschaft, Geflügelzucht und Einzelhandel dürften sie abermals auf den Widerstand von Nichtregierungsorganisa­tionen in Europa und Indien treffen.

Es gibt aber auch Anlass für vorsichtigen Optimismus, denn für die kritischen Fragen liegen durchaus vielversprechende Lösungs­ansätze vor: Das schnell anwendbare Early-Harvest-Abkommen von 2022 zwischen Indien und Australien bietet Ansatzpunkte für die Verhandlungen mit der EU über den Agrarsektor. Damit ließe sich der indischen Sorge vor zerstörerischer Importflut, bei­spiels­weise im Molkereisektor, begegnen, etwa durch Zuge­ständnisse bei der Höhe des Zollabbaus oder der Dauer von Über­gangsfristen sowie durch Schutzklauseln bei auftretender Importsteigerung. Die EU sollte zudem ihre eigenen Agrarinteressen eher durch GIs für beson­dere Qualitätsprodukte als durch Forderungen nach Markt­zugang verfolgen. Zugleich kann dieser Ansatz indi­sche Interessen in bestimmten Segmenten stärken: So können einzelne indische GIs von Unterstützungsprogrammen der EU als Teil um­fassenderer Wirt­schaftsförderung begleitet werden.

Beim Thema Nachhaltigkeit kann die neue, im Sommer 2022 veröffentlichte EU-Strategie für mehr Partnerschaft dazu bei­tragen, strittige Punkte bei Nachhaltigkeitskapiteln in Handelsabkommen auszuräumen. Hier­nach sollen für Zwischenziele gemeinsam Prioritäten, konkrete Zeitpläne und Unter­stützungsoptionen definiert werden. Zusätzlich aber sollte die EU Indien dabei helfen, die in Kürze ohnehin ein­zuhaltenden Sorgfaltspflichten für Nach­haltigkeit von Lieferketten bei Absatz in der EU zu erfüllen, und zwar un­abhängig vom Abschluss eines Handels­abkommens. Dann können diese neuen Pflichten für Indien Anreiz und Chance sein, die bislang als Bedrohung wahrgenom­menen Nachhaltigkeitskapitel zu akzeptieren.

Außen- und geopolitische Interessen als Treiber

Als Ergebnis eines erfolgreichen Verhandlungsabschlusses winkt ein Zugewinn an Einkommen, Beschäftigung und Wohlfahrt. Neben den wirtschaftlichen Vor­teilen besit­zen die Abkommen auch eine wichtige politische Dimension, denn ein Erfolg liegt im geopolitischen Interesse Deutschlands und der EU. Erstens untermauern die Abkommen die strategische Partnerschaft zwischen Europa und Indien, die wie oben erörtert in ihrem Kern auf wirtschaftlicher Zusam­menarbeit ruht. Zweitens sind so­wohl die EU als auch Indien bestrebt, ihre Außenwirtschaftsbeziehungen zu diversi­fizieren, ihre jeweiligen Abhängigkeiten von China zu mindern und durch eine bi­laterale Vereinbarung mehr handels- und außen­politisches Profil in der indo-pazifi­schen Region zu gewinnen. Drittens sendet ein solches Ab­kommen klare Signale nach Peking und Washington, denn Brüssel eben­so wie Neu-Delhi betonen immer wieder ihre strate­gische Autonomie. Vier­tens wäre ein erfolg­reicher Verhandlungsabschluss ein unmissverständ­liches han­delspoliti­sches Zeichen gegen die weltweiten Ten­den­zen des Protektionismus. Und fünf­tens muss Deutschland und Europa an einem prosperierenden Indien gelegen sein, das zur Gegenmachtbildung gegenüber China in der Lage ist.

Seit dem Abbruch der Verhandlungen 2013 hat sich das außen- und handelspolitische Umfeld für beide Seiten fundamental gewandelt. In Welthandel und Weltwirtschaft hat das Gewicht des Globalen Südens, vor allem Chinas, erheblich zugenommen. Gleichzeitig ist Handelspolitik auch zur Geopolitik geworden. Während die sino-amerikanische Rivalität international einen bestimmenden geopolitischen Rah­men bildet, suchen die EU und Indien jeweils nach einer möglichst eigenständigen Rolle. Ähnlich wie die USA sehen Europa und Indien in Chinas totalitärer Regierungs­führung, merkantilistischer In­dustriepolitik und expansiver Machtprojektion eine exi­stentielle Bedrohung für Frie­den, Stabilität, die internationale Ordnung und den eige­nen Wohlstand. Trotz dieser grundsätz­lichen Übereinstimmung mit Amerika sind sie aber nicht bereit, ihre poli­tischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu China dem geopolitischen Imperativ Washingtons unterzuordnen. Während sich die USA mit­tels Strafzöllen, Sanktionen und Technik-Boykotten wirtschaftlich von China ent­koppeln, folgen Indien und die EU in ihren Außenwirtschaftspolitiken den ame­rika­nischen Vorgaben nur teilweise. Statt gene­reller Entkopplung geht es beiden vor­dring­lich darum, ökonomische Abhän­gig­keiten und Verwundbarkeiten zu ver­ringern. Diversifizierung durch engeren bilateralen Austausch liegt daher im gemeinsamen indisch-europäischen Interesse.

Für die europäische Industrie ist Indien gemessen an seiner Größe und seinem Wachs­tumspotential die einzige mittelfristig plau­sible attraktive Alternative zu China als Produktions­standort und Absatzmarkt. Wie Indien ist auch die EU im indopazifischen Raum handelspolitisch isoliert, da sie nicht Teil der Handelsverbünde RCEP und CPTPP ist. Durch ein Freihandelsabkommen mit Indien, das die Abkommen mit Japan, Korea, Singapur und Vietnam ergänzt, kann die EU handelspolitisch merklich an Profil ge­winnen. Zudem trüge das Abkommen gene­rell dazu bei, die globalen Part­nerschaften der EU zu stärken.

Für Indien ist Europa mit seinem Binnen­markt, als Anbieter von Investitionskapital, Technologie und Infrastruktur sowie als Türöffner zu globalen Absatzmärkten ein unverzichtbarer Handels- und Wirtschaftspartner. Indien lehnt eine Einbindung in die asiatischen Handelsverbünde und Liefer­ketten ab, sofern sich damit die Abhängigkeit von China erhöhen würde. Zugleich aber wird Indien der diskriminierungsfreie Zugang zum amerikanischen Markt für geraume Zeit versperrt bleiben. Als wirklich gewichtige handels­politische Option bleibt daher nur das avisierte Freihandelsabkommen mit der EU übrig. In der Vorausschau können Indiens zoll­freier Zugang zum Europäischen Binnen­markt und die Ansied­lung europäischer Unternehmen in Indien wirk­same Impulse für den von Neu-Delhi an­visierten Aufbau einer wettbewerbsfähigen Industrie setzen. Damit ließe sich ein we­sent­licher Beitrag für das an­gestrebte nach­haltig hohe Wirtschaftswachstum leisten.

Nicht zuletzt ist es für Indien auch geo­politisch von Bedeutung, sich wirtschaftlich substantiell weiterzuentwickeln. Angesichts eines mehr und mehr chinazentrierten Asiens und Russlands zunehmender Ab­hän­gig­keit von China braucht Indien ein dauer­haft hohes Wirtschaftswachstum, um seine außenpolitischen Am­bitionen umzusetzen und sich so im künftigen multi­polaren Mächtekonzert zu behaupten. Dies wird nur mit mehr Integration in die internationale Arbeitsteilung zu verwirklichen sein. Ein wirtschaftlich starkes Indien ist als Gegengewicht zu China im Indo-Pazifik auch in Europas geopolitischem Interesse.

Die europäischen Institutionen sehen sich dabei diversen Herausforderungen gegenüber. Die EU-Kommission muss einen Kompromiss zwischen den divergierenden Perspektiven der Generaldirektion Handel (DG Trade) und des Auswärtigen Dienstes (EEAS) finden, um dem selbstgesetzten An­spruch als geopolitische Kom­mission mit Blick auf Indien gerecht zu werden. Im EP müssen die Parteien wirtschaftliche Inter­essen mit politischen Fragen in Einklang bringen, die vor allem die autokratischen Tendenzen in Indien sowie die Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit und der Zivil­gesellschaft betreffen.

Ausblick

Die Verhandlungen sind von dem Paradox geprägt, zugleich einfacher und schwieriger zu sein als die 2013 schließlich gescheiterten Vorgängerrunden. Heute haben Indien und die EU mehr außenpolitische Gemeinsamkeiten als zuvor, zum Beispiel mit Blick auf ihre internationale Rolle sowie ihr Ver­hältnis zu China und den USA. Doch ihre jeweiligen inneren Entwicklungen haben die EU und Indien in den letzten Jahren auseinanderdriften lassen. Stark vereinfacht ist die EU »nachhaltiger« und »normativer« geworden, Indien hingegen eher »natio­na­listischer« und »protektionistischer«. Aller­dings ist ein erneutes Scheitern für beide Seiten keine Option, da die bilateralen Beziehungen andernfalls schweren Schaden nähmen. Erfolgsfaktor auf euro­päischer Seite könn­te sein, die Mechanismen der Ratifizierung in den drei anvisierten Einzel­abkommen jeweils flexibel zu handhaben. Schon ein kleiner Erfolg in einem Bereich könnte ein großer Schritt für die Fortsetzung der Verhandlungen in den anderen Bereichen sein und damit die europäisch-indischen Beziehungen lang­fristig stärken.

Dr. Hanns Günther Hilpert und Dr. Christian Wagner sind Senior Fellows in der Forschungsgruppe Asien. Dr. Bettina Rudloff ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe EU / Europa.

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