Obsolet, zu teuer, unfair – US-Präsident Trump hat wiederholt harsche Kritik an der Nato geübt. In einer neuen SWP-Studie befasst sich Marco Overhaus mit der Frage, wie glaubwürdig die amerikanischen Sicherheitszusagen noch sind und welche Bedeutung das für Europa hat. Ein Interview zur Studie.
Kurz gesagt, 11.07.2019 Research AreasObsolet, zu teuer, unfair – US-Präsident Trump hat wiederholt harsche Kritik an der Nato geübt. In einer neuen SWP-Studie befasst sich Marco Overhaus mit der Frage, wie glaubwürdig die amerikanischen Sicherheitszusagen noch sind und welche Bedeutung das für Europa hat. Ein Interview zur Studie.
Sie schreiben in Ihrer Studie, die Glaubwürdigkeit amerikanischer Sicherheitszusagen hänge von drei Faktoren ab: dem politischen Willen, den militärischen Kräfteverhältnissen und den operativen Beiträgen. Wie steht es um den politischen Willen in den USA, den Nato-Partnern zur Seite zu stehen, wenn es darauf ankommt?
Marco Overhaus: Da ist zum einen Trump, der den Wert der Nato und anderer Bündnisse für die USA immer wieder infrage gestellt hat. Gleichzeitig unterstützen große Teile der US-Administration, der außenpolitische Beraterstab von Trump, die Diplomaten im Außenministerium, die militärischen Offiziere im Pentagon und auch beide Parteien im amerikanischen Kongress die Nato ganz eindeutig. Man sollte sich deshalb allerdings nicht in Sicherheit wiegen. Denn letztlich kommt es in der amerikanischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik immer auf den US-Präsidenten an.
Wo hat der Präsident das letzte Wort?
In den USA debattieren Juristen darüber, was der US-Präsident kann oder nicht kann. Die Mehrheitsmeinung lautet, dass der Präsident sehr viel kann: Er könnte die USA im Extremfall aus der Nato herausziehen, er könnte auch einen vollständigen oder teilweisen Truppenabzug aus Europa anordnen. Und wenn es zu einer militärischen Krise, zum Beispiel im Verhältnis mit Russland, kommt, dann ist der US-Präsident im Grunde der alleinige Entscheider, denn er ist der Oberkommandierende der amerikanischen Streitkräfte.
Der zweite Faktor, an dem Sie Glaubwürdigkeit festmachen, sind die militärischen Kräfteverhältnisse, insbesondere in Teilen Europas. Wie haben sie sich verändert und was bedeutet das für die USA?
Was die militärischen Kräfteverhältnisse angeht, insbesondere an der nordöstlichen und östlichen Grenze der Nato, so ist Russland der Nato dort heute in vielen Bereichen überlegen. Das treibt die Kosten und Risiken für die USA in die Höhe, wenn es um die Einhaltung ihrer Bündniszusagen beispielweise gegenüber den baltischen Republiken und Polen geht. Es sind aber nicht nur die militärischen Kräfteverhältnisse, die sich verändert haben, sondern auch andere wichtige Aspekte des europäischen Sicherheitsumfelds. Schon allein die Größe der Nato ist ein Faktor: Beim Fall der Berliner Mauer 1989 bestand sie noch aus 16 Mitgliedstaaten. Heute sind es 29, bald 30, Länder, für die die NATO und damit auch die USA Sicherheit bieten müssen.
Welche Schlüsse ziehen die Amerikaner aus diesen erhöhten Kosten und Risiken, wenn es um ihre konkreten finanziellen und militärischen Beiträge zur Nato geht?
Die USA haben das Geld, das sie für die sogenannte Rückversicherung europäischer Bündnispartner zur Verfügung stellen, nach der Annexion der Krim durch Russland deutlich erhöht. Von 985 Millionen US-Dollar 2015 noch unter Obama auf 6,5 Milliarden US-Dollar unter Trump im Jahr 2019. Sie haben auch ihre militärische Präsenz, insbesondere in den östlichen Nato-Staaten, verstärkt, vor allem in Polen.
Das heißt die USA engagieren sich sogar stärker als zuvor?
Im Augenblick ja. Mittel- oder langfristig habe ich aber meine Zweifel, dass es so bleiben wird. Denn die bereits angesprochenen strukturellen Grundlagen für die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Sicherheitszusagen in Europa sind schwächer geworden. Ich gehe davon aus, dass Trump kein Einzelphänomen ist, sondern für eine innenpolitische Entwicklung in den USA steht, in deren Zuge Bündniszusagen nicht mehr sakrosankt sein werden.
Sie schreiben, dass die europäischen Nato-Mitglieder die Situation sehr unterschiedlich bewerten. Inwiefern?
Staaten wie Deutschland, aber tendenziell auch andere westeuropäische Nato-Staaten fühlen sich wesentlich weniger unmittelbar von Russland bedroht. Sie leisten sich daher ein Verständnis von Glaubwürdigkeit, das in erster Linie von den Aussagen Trumps geprägt ist. Staaten wie Polen oder die baltischen Länder hingegen machen die Glaubwürdigkeit der USA vor allem daran fest, was die USA konkret vor Ort machen, wie viele Truppen sie schicken oder wieviel Geld bereitgestellt wird. Die haben daher ein sehr viel positiveres Bild der amerikanischen Nato-Politik als diejenigen, die nur auf Trump schauen.
Was bedeutet das für eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik?
Den europäischen Bündnisstaaten droht die politische Spaltung, da drei Sichtweisen miteinander konkurrieren: Da sind diejenigen, die aus der ambivalenten Nato-Politik der USA den Schluss ziehen, dass Europa sicherheitspolitisch unabhängiger von den USA werden bzw. »strategische Autonomie« anstreben müsse. Frankreich ist ein starker Vertreter dieser Auffassung, und auch in Deutschland hat sie Aufwind. Eine zweite Sichtweise betont im Gegenteil, dass wir uns noch stärker an die USA binden sollten. Das ist etwas, das viele in Polen, den baltischen Republiken und in Rumänien so sehen. Eine dritte Gruppe, die in der Tschechischen Republik und auch in Ungarn stark vertreten ist, strebt weder strategische Autonomie noch eine engere Anbindung an die USA an. Dort will man sich in einigen strategischen Politikfeldern wie der Energiepolitik stärker an Russland anlehnen.
Wie sollten politische Entscheidungsträger in Europa mit dieser Verschiedenartigkeit umgehen?
Ich denke, der Ausgangspunkt sollte sein, so banal das klingen mag, auch auf deutscher Seite erstmal diese unterschiedlichen Perspektiven anzuerkennen: Die Art und Weise, wie wir hierzulande überwiegend auf die USA unter Trump schauen, ist nicht die Sichtweise, die überall in Europa geteilt wird. Ohne dieses Verständnis wird es in Zukunft sehr schwierig, eine einvernehmliche europäische Politik gegenüber den USA zu verfolgen.
Welche Richtung sollte die europäische Verteidigung Ihrer Ansicht nach nehmen?
Wichtig ist, dass sich Deutschland und Europa im Rahmen der europäischen Verteidigungszusammenarbeit gezielter als bislang darum kümmern, spezifische militärische Fähigkeiten der kollektiven Verteidigung bereitzustellen, wo es bislang ganz klar Defizite und große Abhängigkeiten von den USA gibt. Das gilt beispielsweise bei der Luftverteidigung, bei der Bereitstellung von Kampfflugzeugen, der Raketenabwehr, aber auch der schnellen Einsatzfähigkeit von Heerestruppen. Damit würde man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Europa würde unabhängiger für den Fall, dass die USA ihre Bündniszusagen mittel- und langfristig infrage stellen. Zugleich würden aber auch die Akteure in den USA gestärkt, die die Nato unterstützen. Denn sie könnten sagen: Die Europäer tun auch etwas.
Kann die europäische Verteidigung überhaupt eine echte Alternative zu amerikanischen Sicherheitszusagen werden?
Zumindest in bestimmten Bereichen. Bei der nuklearen Abschreckung werden wir auf absehbare Zeit auf die USA angewiesen bleiben. Aber es würde ja schon helfen, wenn die europäischen Nato-Staaten in der Lage wären, schneller Heeresverbände bereitzustellen, um beispielsweise die baltischen Länder oder Polen zu verteidigen, wenn es darauf ankommt.
Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion der SWP.
Konventionelle und nukleare Sicherheitszusagen der USA in Europa
doi:10.18449/2019S15